ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Detlef Bald (Hrsg.), Schwellen überschreiten. Friedensarbeit und Friedensforschung. Festschrift für Dirk Heinrichs (Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung, Bd. 4), Klartext Verlag, Essen 2005, 218 S., brosch., 16,90 €.

Bei diesem Band handelt es sich um eine Festschrift im wahrsten Sinne des Wortes: sie versammelt nicht nur eine Reihe akademischer Aufsätze zur historischen Friedensforschung, sondern enthält auch sehr persönlich gehaltene Reminiszenzen, welche das Leben und Wirken von Dirk Heinrichs feiern. Der Geehrte war ein Bremer Unternehmer und Bürger, wie es nur wenige gibt: Der im Jahre 2003 mit dem Bremer Friedenspreis Ausgezeichnete hat sich, wie es der ehemalige Bürgermeister der Hansestadt Henning Scherf in seinem Geleitwort formuliert, beispielhaft für "Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung" eingesetzt. Er tat dies vor allem durch sein individuelles Wirken, ab 1979 jedoch vor allem durch die von ihm und seiner Frau Ruth gegründete Stiftung "die schwelle", welche einen weiten Strauß von Aktivitäten, von der praktischen Friedensarbeit bis hin zur historischen Friedensforschung, finanziell und ideell unterstützte.

Angesichts der Leistungen dieses bundesdeutschen Bürgers, welcher Willy Brandts Aufforderung "mehr Demokratie wagen" und Gustav Heinemanns Appell vom "Frieden als Ernstfall" umzusetzen versucht hat, fällt es schwer, dieses Buch wie jedes andere zu rezensieren. Stattdessen sei hier ein Vorschlag zur Lektüre dieses Bandes gegeben, welcher ihn zu einem einzigartigen Dokument bundesdeutscher Bürgerlichkeit, zu einer Quelle für eine noch zu schreibende Geschichte der Gegenwart werden lässt. Der Nachlass Heinrichs' ist im Bremer Staatsarchiv einsehbar und böte sicherlich einen faszinierenden Ausgangspunkt zur historischen Analyse der Neudefinition einer bestimmten Art von Bürgerlichkeit in der Bundesrepublik.

Detlef Balds Einleitung lässt einfühlsam Dirk Heinrichs' Leben und Wirken Revue passieren: Die sozial-liberale Regierung unter Willy Brandt und Gustav Heinemanns Amtszeit als Bundespräsident erscheinen hier als die Erfüllung jener Werte, für die sich Heinrichs einsetzte. Wir treffen in Heinrichs auf einen Angehörigen jener Generation, die Dirk Moses als "45er" bezeichnet hat: Heinrichs wurde 1925 geboren und diente ab 1943 noch als Reserveoffizier an der Front. Genau diese Erfahrungen von Gewalt und Zerstörung ließen ihn zum Pazifisten werden. Wie für andere seiner Generation war die unmittelbare Nachkriegszeit für ihn eine Zeit des "umfassenden persönlichen, suchenden Aufbruchs" (S. 17), den er besonders in Zürich, an der Universität als Student der Philosophie, aber auch mit Interesse am Theater und an der Literatur zu leben versuchte. Nach seiner Promotion im Jahre 1951 begann er, sich verstärkt in der väterlichen Firma, dem Stauereibetrieb D. Heinrichs GmbH & Co. zu engagieren. Seine Kontakte zum Bremer Bürgertum und nach Großbritannien bestärkten ihn in seinem Suchen - "Frieden" wurde immer wichtiger für seine "persönliche und politische Sinnstiftung" (S. 19) und Heinrichs versuchte dieses Ziel besonders über die kirchliche Friedensarbeit, und hier vor allem innerhalb der Arbeiten der Evangelischen Akademie Loccum, durchzusetzen. Mit der Stiftung ,,die schwelle" schaffte er sich schließlich ein eigenes Forum für diese Aktivitäten. Reinhold Lütgemeier-Davins Beitrag zur Gründung des Arbeitskreises Historische Friedensforschung hebt Heinrichs' Engagement beispielhaft hervor und legt vor allem die Netzwerke frei, auf denen eine solche kritische Bürgerlichkeit ruhte.

Besonders Marcel Müller-Wielands Essay über die Sprache und Philosophie von Dirk Heinrichs verdeutlicht, dass die so definierte Bürgerlichkeit nichts mit behäbiger "Gutbürgerlichkeit" oder Untertanengeist zu tun hatte: Vielmehr zeigt Heinrichs' Sprache, dass sich Bürgerlichkeit in der frühen Bundesrepublik nicht nur über den Rückzug ins Private oder eine ,,Ohne Mich!"-Stimmung definierte. Heinrichs' Bürgerlichkeit nach 1945 war vor allem von Dissonanzerfahrungen getrieben: dem Widerspruch zwischen den Aufbruchs- und Umbruchshoffnungen der unmittelbaren Nachkriegszeit und der scheinbar fehlenden Realisierung solcher Hoffnungen in der Bundesrepublik der Ära Adenauer und der Großen Koalition. Sie war gleichermaßen durch eine tiefe (protestantische) Religiosität geprägt (vier der Beiträger sind Pastoren), setzte aber auch moralisch-religiöse Vorstellungen zur Kommunikation von Protest ein.

Die gesamte Bandbreite der Arbeit und der mit ihr verbundenen sozialen Netzwerke zeigt sich an den meist sehr persönlich gehaltenen Reminiszenzen zu Heinrichs' "Beiträgen zur Friedensarbeit". Hans Koschnick schreibt über den sozial engagierten Unternehmer Heinrichs, Urban Bulling über die Gründung der "schwelle". Wiebke und Reinhard Jung lassen die Zusammenarbeit im Vorstand der "schwelle" Revue passieren, Karl Holl geht besonders auf die Zusammenarbeit bei der Gründung des "Arbeitskreises Historische Friedensforschung" ein. Burkhard Luber schreibt über transatlantische Vernetzungen, Wolfram Thiemann berichtet über Heinrichs' Engagement für das Vietnam der 1970er- und 1980er-Jahre, Manda Prising über seine Hilfe beim Wiederaufbau einer Zivilgesellschaft in den durch den Bürgerkrieg verheerten Gebieten des Balkans. Wilfried Warneck geht auf die Arbeit des von Heinrichs maßgeblich angeregten und finanzierten ökumenischen Dienstes "Schalomdiakonat" ein.

Heute mögen viele zynisch veranlagte Kommentatoren ein solches Engagement als Gutmenschentum belächeln. Doch das führt weder historisch noch politisch weiter. Dies verdeutlichen besonders die in der zweiten, mit der Historischen Friedensforschung befassten Sektion des Bandes abgedruckten Beiträge. Besonders lesenswert sind in diesem Zusammenhang die Essays von Wolfram Wette und Detlef Bald, welche als Pioniere einer kritischen Militärgeschichtsschreibung viel geleistet haben. Wenn Wette über den Beitrag der Historischen Friedensforschung zur deutschen Erinnerungskultur und Bald über Historische Friedensforschung und Militärgeschichte schreibt, spürt man noch unmittelbar die Anfeindungen, welchen die kritischen Militärhistoriker und dann auch die Historische Friedensforschung in der Bundesrepublik ausgesetzt waren bzw. immer noch sind. Jost Dülffers interessante konzeptionelle Anregungen zur Geschichte der Friedensbewegungen, Manfred Messerschmidts Essay zur "Friedensidee und ihrer Negation" und Gottfried Niedhardts kluge Ausführungen über "Frieden" in den internationalen Beziehungen des 19. und 20. Jahrhunderts zeigen den nüchtern argumentierenden Stand der historischen Friedensforschung zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Dieter Riesenberger und Andreas Gestrich behandeln mit Beiträgen zum Priester Franz Stock (1904-1948) bzw. zum Krieg in Schleichermachers Predigten Fallstudien der historischen Friedensforschung.

Insgesamt liegt hier also kein gewöhnlicher Sammelband vor. Es handelt sich vielmehr um eine Geschichte im doppelten Sinne: zum einen um die Geschichte eines beeindruckenden Bremer Bürgers, zum anderen um Elemente einer historischen Selbstreflektion über den "Arbeitskreis Historische Friedensforschung". Er bietet einen eindrucksvollen Einblick in die Rekonstitution von Bürgerlichkeit in der Bundesrepublik und die Wechselwirkungen mit der Wissenschaft - Bereiche, welche selbst noch genauer historisch zu erforschen wären.

Holger Nehring, Oxford


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