ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Gerhard Kaiser/Matthias Krell (Hrsg.), Zwischen Resonanz und Eigensinn. Studien zur Geschichte der Sprach- und Literaturwissenschaften im 20. Jahrhundert (Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, Bd.7), Synchron Wissenschaftsverlag, Heidelberg 2005, XX/ 264 S., brosch., 34,80 €.

Bei der Frage nach dem Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik betont die Wissenschaftshistoriografie heute ein dialektisches Verhältnis von wissenschaftsinternen Logiken und externen Einflussnahmen. Zeichnen sich Erstere durch einen relativ hohen Grad an Dauerhaftigkeit aus, können äußere, wirtschaftliche, politische oder kulturelle Prozesse ebenso kurz- wie langfristig wirken. Mit der Frage, in welchem Maß und in welcher Form die Gemengelage aus internen und externen Faktoren sich auf die deutsche Germanistik im 20. Jahrhundert und gerade auch in den zwei deutschen Diktaturen auswirkte, beschäftigt sich der vorgelegte Sammelband. Er basiert auf einer Tagung, die 2002 an der Universität Siegen stattfand, und erschien in der Reihe ,,Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte", in der bereits bemerkenswerte Arbeiten zur Wissenschaftshistoriografie der letzten drei Jahre publiziert wurden. Auch der vorliegende Band ist ein in verschiedener Hinsicht wichtiger und gelungener Beitrag. Er umfasst ein sehr weites Themenspektrum, das auch Bereiche wie die Germanistik in der DDR oder die Sprachwissenschaft in den Blick nimmt, die von der bisherigen Fachgeschichtsforschung vernachlässigt wurden. Zudem betont der Band einen transdisziplinären Ansatz, in dem er historische Sichtweisen mit sprach- und literaturwissenschaftlichen sowie philosophischen und soziologischen Aspekten verbindet. Perspektivisch liegt der Schwerpunkt - anders als bei dem Großteil der bisher erschienenen Arbeiten zur Geschichte von Akteuren, Konzepten und Institutionen - auf den ,,an den Redeweisen der Fächer ablesbaren Strategien, die der professionellen Eigenlogik des jeweiligen Faches verpflichtet bleiben, die aber zugleich auch auf außerfachliche Resonanzeffekte angelegt sind" (S. XI f.). Als Quellen werden Texte herangezogen, die auf ihre interne und externe Wirkung hin befragt werden. Die bisher meist auf das Leben in Diktaturen angewendeten idealtypischen Kategorien ,,Eigensinn" (1) und ,,Resonanz" bilden den theoretischen Rahmen des Bandes und werden von Gerhard Kaiser in seinem Beitrag ausgeführt. ,,Eigensinn" entstehe durch ,,spezifische soziale und diskursive Regeln", mittels derer sich das wissenschaftliche Feld begründet und sich von anderen gesellschaftlichen Feldern abgrenzt (S. 6). Darüber hinaus ist er durch ,,spezifische Denkstile" geprägt, die die fachliche Kommunikation strukturieren und Verstöße ahnden (S. 7). Der ,,Resonanz"-Begriff bezieht sich auf das Umfeld der Wissenschaft und wird verwendet, wenn ein fachinterner Diskurs nach außen ,,anschlussfähig" ist (ebd.). Verliert ein Fach bzw. seine Funktion an Bedeutung, gerät es unter Legitimationsdruck. Genauso erging es auch der Germanistik am Anfang des 20. Jahrhunderts, die in Folge von Konkurrenz zu den Naturwissenschaften und abnehmendem Bedarf an Gymnasiallehrern unter doppelter Legitimationsschwäche litt.

Von diesen Gegebenheiten ausgehend untersucht Kaiser im Folgenden, ob sich die Literaturwissenschaft im Dritten Reich der zeitgemäßen ,,Rasse"-Semantik bediente, um resonanzfähig zu bleiben. Er kommt zu dem Schluss, dass das Gros der etablierten Germanisten dem Rasse-Konzept skeptisch gegenüberstand. Zwar versprach es nach außen Resonanz, galt innerwissenschaftlich jedoch als unseriös. Kaiser zeigt aber auch, dass die Rasse-Semantik in die literaturwissenschaftliche Betrachtungsweise mancher Ordinarien (wie Josef Nadler oder Paul Kluckhohn) ebenso einging wie in jene von Germanisten, die zu diesem Zeitpunkt wissenschaftliche Außenseiter waren. Im Anschluss an die begrifflich-theoretischen Erläuterungen Kaisers und deren durchaus schlüssige Anwendung untergliedert sich der Band in die Themengebiete Literaturwissenschaft in Westdeutschland nach 1945, Geisteswissenschaft im Nationalsozialismus, Sprachwissenschaft in disziplinübergreifenden Resonanzkonstellationen und Sprachwissenschaft in der DDR.

Die Beiträge von Stefan Scherer und Oliver Sill befassen sich mit der westdeutschen Literaturwissenschaft und relativieren dabei den allgemein angenommenen fachgeschichtlichen Bruch im Zuge des Jahres 1968. Nach Scherer kam es nämlich bereits in den 1950er-Jahren zum disziplinären Umbau und damit einhergehend zu einer Abkehr von der dominierenden werkimmanenten Interpretation. Dieser vollzog sich in Auseinandersetzung mit der außerfachlichen Umwelt, v. a. mit der Soziologie, die in diesem Zeitraum die wesentlichen konzeptionellen Angebote zur Gesellschaftsanalyse vorlegte. Der Beitrag Sills knüpft an die Diskussion um das ,,Ende des Bildungsbürgertums" an. Er betont, dass trotz Reformen auch die ,,linke" Germanistik an der bildungsbürgerlichen Bedeutungszuschreibung von Bildung und Kultur festhielt. Von dieser Feststellung leitet Sill ab, dass die damit einhergehende ,,spezifisch bildungsbürgerliche Überschätzung" der Reichweite und Wirkung des Fachs ihr Ende keineswegs in den 1970er-Jahren fand, sondern erst im Zuge der Pragmatisierung der Germanistik in den 1980er-Jahren (S. 63).

Im Abschnitt zur Geisteswissenschaft im Dritten Reich ist der Beitrag von Ralf Klausnitzer zur sogenannten geisteswissenschaftlichen ,,Gegnerforschung" am Beispiel der Freimaurer-Frage besonders hervorzuheben. Auf der Basis archivarischer Quellen beschreibt er fundiert die Wechselbeziehung von nationalsozialistischer ,,Gegnerforschung" und wissenschaftlicher Qualifikation für Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes der SS bzw. des Reichssicherheitshauptamtes. Mit dem Versuch, weltanschauliche Gegner systematisch zu erfassen, ging eine ,,Versachlichung" und Professionalisierung des Gegenstands einher. Der Beitrag von Ruth Freifrau von Ledebur zeigt den Versuch der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft, den Briten als dritten deutschen Klassiker neben Goethe und Schiller zu vereinnahmen und dies wissenschaftlich zu legitimieren. Anhand der Analyse von drei Texten aus dem ,,Shakespeare-Jahrbuch" von 1933 bzw. 1940 kann sie feststellen, dass der dort behauptete ,,germanische Geist" Shakespeares von den Autoren als eine Art ,,Scharnierbegriff" verwendet wurde, der sich sowohl in der Forschung als auch in der politischen Öffentlichkeit des Nationalsozialismus als anschlussfähig erwies (S. 122).

Im dritten Teil des Bandes beschäftigt sich zum einen Alice Tomus mit der Ausdifferenzierung der Sprachphilosophie von 1900 bis in die 1930er-Jahre, die sich in Abgrenzung von benachbarten Disziplinen wie der Philosophie und der Sprachwissenschaft vollzog. Dem folgt der Beitrag von Jacqueline Holzer zum Werdegang des deutschen Sprachforschers und Anthropologen Franz Boas. Dieser entwickelte in den 1880er-Jahren ein wissenschaftliches Konzept der ,,Kosmographie", wonach ein ethnologisches Phänomen nur mit Sicht auf seinen historischen Kontext zu erklären sei. Erst zum Ende des 19. Jahrhunderts feierte diese Konzeption in den USA große Erfolge, lieferte sie doch Ansätze bei der Beschäftigung mit der komplexen Kultur der Indianer. Julie Kuhlmann vergleicht in ihrem Beitrag semantische Umbauten am Beispiel von Texten der Germanisten Franz Thierfelder und Leo Weisgerber aus den 1930er- und 1950er-Jahren. Sie kommt zu dem - sicherlich generalisierbaren - Ergebnis, dass in beiden sprachwissenschaftlichen Konzeptionen (zur Rolle des Deutschen in Europa bzw. als Muttersprache) der semantische Wandel nicht mit Bedeutungsveränderungen einherging.

Den abschließenden Teil des Bandes bilden drei Beiträge zur Sprachwissenschaft in der DDR. Der Aufsatz von Peter Nötzoldt befasst sich mit der Geschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Er analysiert die Strukturen und Entwicklungen dieses streng hierarchisch organisierten, durchpolitisierten und ökonomisch funktionalisierten ,,Riesenunternehmens". Welches wissenschaftliche Potential das Modell der Nationalakademien trotzdem barg, exemplifiziert Nötzoldt am Beispiel des Instituts für deutsche Sprache und Literatur, das international zu großem wissenschaftlichen Ansehen gelangte und zugleich über ein hohes Maß an Autonomie verfügte. Udo Hagedorn analysiert anschließend Entstehung und Folgen der sogenannten Linguisten-Briefe Josef Stalins, die 1950 in der Prawda erschienen. Darin entschied Stalin eine bis anhin dauernde Debatte divergierender sprachwissenschaftlicher Konzepte. Die danach einzig gültige Fassung marxistisch-leninistischer Linguistik wurde anschließend auch in der DDR als maßgeblich durchgesetzt. Hier wäre sicherlich ein Vergleich mit ähnlichen Durchsetzungsprozessen, etwa in der Biologie mit Trofim Lyssenko, aufschlussreich gewesen. Der abschließende Beitrag von Matthias Krell befasst sich mit der ,,funktionalen Grammatik" in der DDR. Trotz Wandel der grundlegenden Semantik war diesem Grammatikkonzept anhaltender Erfolg beschieden. Die Gründe dafür sieht Krell in der Flexibilität des Konzepts. In den 1950er-Jahren gelang den Vertretern dieses Konzepts, an den nationalen Diskurs anzuknüpfen, wonach Grammatik als Äußerungsform des nationalen Erbes definiert wird. Mit der Verwissenschaftlichung des sprachwissenschaftlichen Diskurses in den 1960er-Jahren ging dann eine Versachlichung des Grammatik-Begriffs einher und die Grammatik wandelte sich zu einem Teilgebiet der Sprachwissenschaft.

Insgesamt gesehen ist der Band sehr empfehlenswert, die einzelnen Beiträge zumeist aufschlussreich, wenngleich im Duktus zum Teil unnötig kompliziert und spröde. Geboten werden wichtige, bisher kaum besprochene Themen und innovative Ergebnisse. Die einerseits reizvolle thematische Vielfalt des Bandes ist gleichzeitig eine Schwäche. Die Beiträge ergeben nur schwer erkennbar eine Einheit, da das Spektrum innerhalb des Themenschwerpunkts ,,Germanistik im 20. Jahrhundert" sehr weit gefächert ist und kaum gegenseitige Verweise stattfinden - wie leider bei den meisten Sammelbänden.

Im Bezug auf den theoretischen Rahmen versuchen alle Autoren, anhand konkreter Fallbeispiele der Wechselbeziehung von facheigenem Sinn und Sinngebung und außerfachlicher Resonanz nachzugehen. Während dies Kaiser und Krell in ihrer Einleitung gut gelingt, kann dies nicht von allen Einzelbeiträgen behauptet werden. Daher scheint es, als wäre die Begriffssemantik mitunter lediglich formal übernommen, anstatt sie konsequent am Gegenstand zu überprüfen. So ist meines Erachtens besonders der Resonanzbezug an mancher Stelle zu generell und undifferenziert. Damit ist aber keineswegs Endgültiges über die Anwendbarkeit des Konzepts ausgesagt. Im Gegenteil: Eine konsequente und ausführliche Anwendung der Eigensinn/Resonanz-Unterscheidung, beispielsweise im Rahmen einer monografischen Untersuchung und gleichzeitig langfristiger und vergleichend angelegt, verspräche spannende und lohnende Erträge.

Anna Lux, Leipzig


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