ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Andrea di Michele/Gerald Steinacher, Faschismen im Gedächtnis - La memoria die Fascismi (Geschichte und Region /Storia e Regione, 13/2), Studienverlag, Innsbruck etc. 2004, 244 S., 21,80 €.

Dieser Tagungsband ist ein Glücksfall, haben sich doch in ihm Wissenschaftler zweier zwar benachbarter, aber durch die Sprachgrenze fast unverbundener Kulturkreise das ehrgeizige Ziel gesetzt, der nationalen Erinnerungskultur entgegenzuarbeiten und anhand des Kulturraums Südtirol/Alto Adige eine vergleichende europäische Perspektive zu wagen. Dies geschieht unter der Fragestellung, wie sich die kollektiven Erinnerungen an Faschismus in Italien und Nationalsozialismus in Österreich seit 1945 entwickelt haben. Historiker und Sprachwissenschaftler haben dazu beigetragen, die verschiedenen Legenden aufzudecken. Vereint sind beide Länder durch die verengte Perspektive auf den Opfermythos: Österreich als erstes Opfer Hitlers, und Italien als sein letztes, der besetzte Verbündete von einst. Erst in den letzten zehn Jahren lässt sich ein Paradigmenwechsel hin zur Wahrnehmung der eigenen Mitverantwortung an der Katastrophe beobachten.

Heidemarie Uhl, seit Jahren Kennerin der österreichischen Vergangenheitsbewältigung, arbeitet in ihrem Beitrag heraus, wie im Gedenkjahr 1988 anlässlich der Erinnerung an den ,,Anschluß" erstmals die Perspektive von der Opferrolle zur Mitverantwortung erweitert wurde. Seitdem hat ein Paradigmenwechsel in Österreich eingesetzt, der jedoch noch andauert. Anschaulich wird dieser Prozess anhand von Uhls Untersuchung der ,,Topographie des Erinnerns", der Denkmallandschaft im Raum Wien. So liest sie den Paradigmenwechsel daran ab, dass in den letzten zehn Jahren der reine Kriegerkult auf Soldatenfriedhöfen zugunsten von Mahnmalen und Denkmälern der Scham, beispielsweise zur Juden- oder Sinti-Verfolgung, abgelöst worden ist. Sehr hilfreich ist auch Uhls Überblick über die theoretischen Ansätze und Formen der Gedächtniskultur.

Auch Italien versteht sich als Opfer Hitlers, und erkennbar wird dies im ständigen Vergleich zum Achsenpartner Deutschland, doch der Vergleich dient eindeutig der Minimalisierung und Verharmlosung des Faschismus. Durch die gebetsmühlenartige Wiederholung von Klischees über Mussolini und eine Abwendung von seiner Politik durch die Verengung auf das Persönliche entstand über die Jahre das Bild eines Operettendiktators mit Hang zu Wein, Weib und Gesang, der nur ungern seinen Part in der Weltgeschichte spielte und dessen Regime schließlich unter den Soldatenstiefeln von Hitlers Wehrmacht zerrieben wurde. Filippo Focardi hat hier Teile seines jüngst erschienenen Buches präsentiert und besonderes Augenmerk auf die Rolle der italienischen Massenmedien im Spiel der ,,dämonisierenden Anthologie" gelegt. Dabei wird deutlich, dass es in Italien, wie wohl auch in Österreich, ein handfestes Interesse am harmlosen Opferbild gegeben hat. Aufbauend auf alliierter Propaganda, hatten Ex-Faschisten wie Antifaschisten nach 1945 ein Interesse daran, bessere Konditionen für ihr Land in den Friedensverhandlungen zu schaffen, indem Italien argumentativ von Nazideutschland getrennt und Eigenverantwortlichkeit (wie etwa die italienischen Rassegesetze) verschleiert wurde. Dabei bediente man sich bewusst überzeichneter Anthologien, die inzwischen für Generationen diskursprägend gewesen sind. Das Bild vom ,,Buon Italiano" (=Guten Italiener) beispielsweise, der dem ,,Cattivo Tedesco" (=Bösen Deutschen) mit der Waffe in der Hand entgegen tritt und Italien befreit, hat sich tief in das kulturelle Gedächtnis der italienischen Nation eingegraben. Je brutaler und rücksichtsloser der deutsche Soldat dargestellt wird, desto makelloser erscheint der italienische Soldat in den besetzten Gebieten in Jugoslawien und Griechenland. Diese Bilder wurden auch von den Medien weitergetragen, man denke zuletzt an den Film ,,Corellis Mandoline". In diesem Klima war weder an eine geregelte Strafverfolgung noch an eine wissenschaftliche Aufarbeitung des Faschismus zu denken. Der Ent-Faschistisierung des Faschismus folgt nun seit dem Amtsantritt Silvio Berlusconis eine verborgene Re-Faschistisierung, die vermeintliche ,,Verdienste" des Faschismus rühmt und symptomatisch ist für diese Kultur des Vergessens. Gerade da Focardis Studien zur Erinnerungskultur in Italien bisher nur auf italienisch vorliegen, kann sich der interessierte Forscher hier erstmals deutschen Zugang zu dessen Thesen verschaffen.

Die Zeitschrift ,,Geschichte und Region" hat jedoch, und das wird deutlich im zweiten Teil der Diskussionsbeiträge, ihre Existenzberechtigung zweifellos aus einer gewissen Südtirol-Zentriertheit, die jedoch die europäische Perspektive in sich trägt und weit von einer ,,Regionalgeschichte" entfernt ist. So fragt Andrea di Michele in seinem Beitrag zur ,,Fabbrica d´identità" (Die Identitätsfabrik) nach der doppelten Kriegserinnerung des Südtiroler Kulturraums, wo die Deutschen alle als Nazis, die Italiener alle als Faschisten gesehen wurden, und sich die eine ethnische Gruppe stets in der Opferrolle, die andere in der Täterrolle sah und umgekehrt. Anhand einer Presseauswertung und Analyse der geschichtswissenschaftlichen Publikationen der letzten Jahrzehnte zeichnet er den Versuch der publizistischen Schöpfung einer imaginär geschlossenen italienischen Volkgruppe der Südtiroler nach. Brigitte Foppa stellt ihre literaturhistorische Studie anschließend unter die Frage, wie sich die tragische Erfahrung der gescheiterten Volksbefragung zur Aussiedlung der Deutschen, die sogenannte ,,Option" 1938, auf die Schaffung einer kollektiven Kriegserinnerung ausgewirkt hat. Da die Umsiedlungspläne durch den Krieg gestoppt wurden und sich 1945 der Traum von einer unabhängigen Republik Südtirol ebenfalls zerschlug, war das Thema jahrzehntelang der emotionale Nährboden für nicht unbeträchtliche Spannungen innerhalb der deutschen Südtiroler, die sich nach außen hin jedoch stets geschlossen gaben, um gegen den italienischen Staat als mächtige Minderheit aufzutreten. Erst in der Rückschau eines halben Jahrhunderts entfaltete sich das ganze Panorama der Zwänge und Möglichkeiten des Jahres 1938, und es wurde ab den späten 1980er-Jahren ein kritischer Blick auf die Motive der ,,Optanten" wie auch der ,,Dableiber" möglich.

Interessant sind die Kurzbeiträge im Schlussteil, dem ,,Forum", ein Spiegel der lebhaften Debatte während der Tagung vom 13.11.2003. So vertritt Leopold Steurer die These, dass gerade die Abkapselung in die jeweilige Ethnie und die beiderseitige Unfähigkeit zur Kommunikation untereinander eine Aufarbeitung der Vergangenheit unmöglich gemacht hat, und sich nicht zuletzt im Südtiroler Landtag, wie er an ausgewählten Beispielen aufzeigt, blockierte. Auch die Überlegungen von Tiziano Rosani zu den Erfolgen der italienischen Rechtspartei gerade in Bozen stimmen, vor dem Hintergrund der anderen Beiträge, besonders nachdenklich. Rosani kann zeigen, dass die Wählermotivation nicht etwa von einer Handvoll faschistischer Nostalgiker, sondern von einer völligen Verunsicherung innerhalb der jungen Italiener im Alto Adige Kunde gibt, die die starke Landesautonomie teilweise als Bedrohung ihrer ,,Italianität" empfinden und rechtspopulistischen Parteien eine Schutzmachtfunktion zuerkennen. Hochinteressant ist auch das Projekt von Wolfgang Weber und Walter Schuster, die mit einer Forschergruppe den Werdegang ehemaliger Nazifunktionäre nach 1945 nachzeichnen. Anhand eines Vergleichs zu den deutschen Bundesländern Baden-Württemberg und Bayern zeigen sich nicht nur regionale Unterschiede, sondern auch die Rolle der jeweiligen Besatzungsmacht, die über Grad und Intensität der Entnazifizierung entschied. Neben verschiedenen Forschungs- und Museumsprojekten zur Konservierung von kollektiver Kriegserinnerung mithilfe von Zeitzeugeninterviews verdient das Trentiner Erinnerungs-Projekt um die Flüchtlinge aus Istrien, Dalmatien und Fiume/Rijeka im Verlauf des 20. Jahrhunderts Erwähnung, das die europäische Perspektive noch um die slowenische erweitert. Interessant liest sich zudem Ulrich Beuttlers Rezeptionsgeschichte des britischen Dokumentarfilms ,,Fascist Legacy", in dem es um die italienischen Kriegsverbrechen in Äthiopien und in Jugoslawien geht und dessen Ausstrahlung seit 1990 vom italienischen Staatsfernsehen RAI verhindert wird.

Dankenswerterweise ist der Band zweisprachig bzw. durch Abstracts leicht zugänglich, was eine weite Verbreitung dieser wichtigen Forschungsbeiträge sicherstellen sollte und vielleicht Anregung zu weiterführenden Tagungen zur europäischen Erinnerungskultur sein kann.

Kerstin von Lingen,Tübingen


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