ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Stefan Klemp, ,,Nicht ermittelt". Polizeibataillone und die Nachkriegsjustiz. Ein Handbuch, Klartext Verlag, Essen 2004, 504 S., geb., 34,90 €.

Historiker haben seit Christopher Brownings Pionierstudie von 1983 zu den ,,ganz normalen Männern" des Polizeibataillons 101 bereits die unbehagliche Gewissheit, dass Ordnungspolizisten im Osten an Massenerschießungen beteiligt waren, die Zehntausende Opfer gefordert haben. Heiner Lichtenstein hat mit seiner Arbeit über ,,Himmlers grüne Helfer" 1990 noch einmal in differenzierter Weise nachgelegt, und spätestens seit Goldhagens Thesen von Hitlers ,,willigen Vollstreckern" verbindet nun auch die Öffentlichkeit die Arbeit von Polizeibataillonen im Zweiten Weltkrieg mit Mordeinsätzen an der Ostfront. Die Debatte um Goldhagens Buch hat nicht nur die Neuauflagen der beiden ersten Untersuchungen bewirkt, sondern auch Einzelstudien und Projekte angeregt, die sich mit den Polizeieinsätzen in den besetzten Ländern - nicht nur im Osten - befassen. Es hat dennoch fast 20 Jahre gedauert, bis die Polizeibataillone aus den letzten Spalten der Zeitungen im Zusammenhang mit eingestellten Strafverfahren ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt sind. Heute weiß man, dass die Opferzahlen noch weit höher sind, der Beitrag der Polizeibataillone am Vernichtungskrieg also ganz beträchtlich war. Konrad Kwiet, Winfried Nachtwei und Klaus-Michael Mallmann haben deutlich gemacht, dass die Sondereinsätze der Polizeibataillone den ,,Auftakt zur Endlösung" bildeten, Mallmann spricht plastisch von der Ordnungspolizei als einem ,,Fußvolk der Endlösung".

Der Autor, selbst bereits als Experte für die Polizeibataillone ausgewiesen, hat sich die Aufgabe gestellt, endlich eine Gesamtdarstellung vorzulegen, und dafür die inzwischen etwas unübersichtliche Fülle an Einzelstudien gesichtet, überprüft und ergänzt, unter Verwendung der Akten der Staatsanwaltschaft und von Material aus anderen Archiven, darunter russische Quellen und Privatbesitz. Herausgekommen ist ein systematisches Werk über alle Polizeibataillone, die während des Zweiten Weltkriegs Dienst taten, und ein sehr detailliertes Handbuch, Handwerkszeug für jeden, der als Historiker wie auch als Jurist im Umfeld von Kriegsverbrechen und Zweitem Weltkrieg arbeitet. Fast ein Lexikon, war eine Gesamtdarstellung wie die vorliegende lang schon überfällig, um sich ein differenziertes Bild von Einsatzorten und Einsatzgeschichte der Polizeibataillone zu machen. Die Arbeit legt damit den Grundstein für weitere Detailstudien.

Es stellt sich die Frage, wie und in welchem Umfang Polizeibataillone an Massentötungen im Zweiten Weltkrieg beteiligt waren. Im Mittelpunkt von Klemps Untersuchung steht die systematische Erfassung aller Einsätze und möglichen Verbrechen der einzelnen Polizeibataillone. Eingerahmt wird dieses Kernstück von einem einleitenden Teil zur Geschichte dieser Sondereinheiten und einem Nachkriegsteil. Ein Übersichtsteil über Sonderformationen und Sondereinsätze rundet die Untersuchung ab, wobei der Passus über die Bilanz der Opferzahlen - Klemp kann als untersten Wert 520.000 Morde belegen (S. 467; Erläuterungen dazu S. 71) - noch einmal deutlich macht, wie überfällig eine Untersuchung von Himmlers grüner Polizei war. Sie kamen nicht aus dem leeren Raum an die Ostfront, um dort ihre grauenvolle Arbeit zu verrichten, sondern durchliefen geradezu eine Karriere, in der sich Erschießung an Erschießung reihte, bis der Exzess und der Massenmord für die Männer etwas ganz Alltägliches war und sie als zuverlässigste Erfüllungsgehilfen des Massenmords gelten konnten. Klemp bilanziert, dass die Rolle der Polizeibataillone die der berüchtigten Einsatzgruppen der SS bei Massenerschießungen, Deportationstransporten und Ghettoräumungen, auch in der Art und Weise des brutalen Vorgehens, noch bei weitem übertraf: ,,Ohne ihre aktive Mitwirkung hätte die Ausrottung von Juden, Slawen und Kranken nicht stattfinden können." (S. 70)

Der Mechanismus der Brutalisierung und Radikalisierung im nationalsozialistischen Vernichtungskrieg, bei Omer Bartov und Wolfram Wette beschrieben, findet zwar wenig Raum in einem Handbuch wie diesem, das ja einen allumfassenden Anspruch verfolgt und dadurch oft verkürzend wirken muss, scheint jedoch anhand der Beispiele immer wieder durch. Beklemmend ist der Nachweis, den Klemp führt: Offenbar ließ sich diese Kriegserinnerung an die Sondereinsätze von den Beteiligten gedanklich so weit abspalten, dass viele bereits in den 1950er-Jahren ihre Karrieren im normalen bundesdeutschen Polizeidienst fortsetzen mochten, freilich ohne jemals vor der Öffentlichkeit Auskunft über ihre besonderen Aufgaben hinter der Front abzulegen. Dies änderte sich erst mit den Ermittlungsverfahren, die ab 1958 mit dem Ulmer Einsatzgruppenprozess in Gang kamen (S. 355 f.). Doch es gelang vor Gericht nicht, die einzelnen Angeklagten juristisch zu fassen, ihnen die für eine Mordverurteilung nötige ,,niedrige Gesinnung" und Eigenmotivation nachzuweisen, zumal die Angeklagten für sie vorteilhafte Erinnerungslücken aufwiesen und sich nicht selbst belasteten. Dieser juristische Misserfolg führte zu einer zweiten Schonfrist, die Taten verschwanden bis heute aus dem öffentlichen Gedächtnis.

Der einleitende Abschnitt zu den ,,Polizeibataillonen im Kriegseinsatz" berührt nicht nur die verschiedenen Einsatzfelder wie Ghetto- oder KZ-Wachmannschaften, sondern auch die als Partisanenbekämpfung getarnten Morde an der Zivilbevölkerung besetzter Gebiete. Dabei begegnet einem in den Kurzbiografien mancher bekannte Name, haben doch diverse SS-Führer ihre Karriere in einem Polizeibataillon begonnen.

Der Exkurs über den ,,Polizeialltag zwischen Befehl und Ungehorsam" ist besonders anregend und wird sicher für Diskussionen sorgen, geht es doch um Motive, Handlungsspielräume und deren enge Grenzen: Befehlsverweigerung, Selbstmord, Meuterei. Immer wieder klingt die von Goldhagen so zugespitzte Frage durch, wieso Durchschnittsmenschen in Uniform in diesem Umfang zu Tätern wurden, und eine abschließende Antwort bleibt Klemp bewusst schuldig, auch wenn er nachweist, dass es einen ,,Befehlsnotstand" objektiv nicht gegeben hat, selbst wenn dies subjektiv durchaus erlebt worden sein könnte (S. 52). Doch es wird, auch anhand der gewählten Beispiele ganz deutlich, dass es sich um Verbrechen von unglaublicher Brutalität handelte (z.B. S. 25), stand hier doch jedes Opfer einem Schützen gegenüber. Das Graben der eigenen Massengräber, das Erschießen von Frauen mit ihren kleinen Kindern auf dem Arm schildert Klemp aus den Vernehmungsprotokollen und damit aus der Sicht der Täter. Damit gelingt es, eine Innenansicht auf die Motivation der Mörder zu bekommen, die selbst nach Jahrzehnten nichts von ihrer beklemmenden Wirkung verloren hat.

Deutlich arbeitet Klemp im Nachkriegsteil heraus, weshalb die Strafverfolgung in Westdeutschland als gescheitert angesehen werden muss. Gründe und Verfahrenshindernisse, aber auch mangelndes Engagement der Staatsanwaltschaft, werden aufgezeigt. Doch besonders die Rolle der DDR-Justiz und die dortige Verfolgung von Polizeibataillonen macht deutlich, dass Strafverfolgung in den 1950er-Jahren letztlich zum politischen Deal wurde, der Ermittler wie Opfer gleichermaßen frustrieren musste und mit Gerechtigkeit nichts mehr zu tun hatte. Mangelndes Ermittlungsinteresse der zuständigen Staatsanwaltschaft, Schlamperei im Umgang mit Beweisen, Nichtermittlung von Überlebenden und Zeugen, gar die Einschüchterung von Zeugen durch Justizpersonen (S. 360), sparsames Aussageverhalten der beschuldigten Polizisten und die berüchtigte ,,Kameradenhilfe" (S. 390 f.), spielten beim Scheitern der Strafverfahren zwar auch eine Rolle. Doch es gelingt Klemp, die doppelte Verdrängung nachzuweisen, denn dazu spielten noch politische Entscheidungen den alten Seilschaften in die Hände: Stand die Verurteilung zunächst nicht im Zentrum der Bemühungen, wurde die Strafverfolgung nach Amnestiegesetzen der Bundesregierung und insbesondere den ,,Braunbuch"-Kampagnen der DDR gänzlich abgelehnt und wie ein Angriff von außen erbittert von verschiedensten Seiten bekämpft. Klemp stellt jedoch ausdrücklich fest, dass die DDR-Ermittler ,,sauber" verhandelt haben und die Urteile einer Überprüfung ohne weiteres standgehalten hätten (S. 381).

Dieses Buch wird ein Standardwerk für Historiker wie Juristen werden. Besonders reizvoll an dem Handbuch ist die Verbindung von Schuld und Sühne, zwischen Kriegseinsatz und Ermittlungsverfahren. Dabei lernt man allerdings einmal mehr, dass historische Tatsachen und eine juristische Verurteilung nicht immer zwangsläufig zusammenpassen, was das Buch stellenweise zu einer bedrückenden Chronik der fortgesetzten Ohnmacht werden lässt. ,,Nicht ermittelt" ist das Eingeständnis, dass man Verbrechen dieser Dimensionen juristisch nur unzureichend beikommen kann und wir akzeptieren müssen, dass es für viele dieser Taten niemals eine Strafe gegeben hat, noch jemals Sühne geben wird.

Literatur:

Christopher Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die ,,Endlösung" in Polen, Hamburg 1983, Neuausgabe Hamburg 1999.

Daniel Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996.

Stefan Klemp, Freispruch für das ,,Mord-Bataillon". Die NS-Ordnungspolizei und die Nachkriegsjustiz, Münster 1998.

Konrad Kwiet, Auftakt zum Holocaust. Ein Polizeibataillon im Osteinsatz, in: Wolfgang Benz/Hans Buchheim/Hans Mommsen (Hrsg.), Der Nationalsozialismus. Studien zur Ideologie und Herrschaft, Frankfurt/Main 1993, S. 191-208.

Klaus-Michael Mallmann, Vom Fußvolk der Endlösung. Ordnungspolizei, Ostkrieg und Judenmord, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 26/1997, S. 355-397.

Omer Bartov, Hitlers Wehrmacht. Soldaten, Fanatismus und die Brutalisierung des Krieges. Reinbek 1995.

Wolfram Wette, Die Wehrmacht. Feindbilder, Vernichtungskrieg. Legenden, Frankfurt/Main 2002.

Kerstin von Lingen, Tübingen


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