ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Catherine Andreyev/Ivan Savický, Russia Abroad. Prague and the Russian Diaspora, 1918-1938, Yale University Press, Yale 2004, 272 S., geb., ca. 33,00 €.

Mit diesen autobiografischen Worten leiten Catherine Andreyev und Ivan Savický (2) ihre Monografie über die in Prag angesiedelte russische Diaspora der Zwischenkriegszeit ein. Obschon der Titel dieses Buches auf das historische Gesamtphänomen der russischen Emigration hinweist, liegt der tatsächliche Fokus auf der Geschichte der ersten Welle der russischen Emigration nach Prag. Mit dem Titel ,,Russland jenseits der Grenzen" (3) knüpfen die Autoren an eine Reihe von zuvor erschienenen, gleichnamigen Veröffentlichungen an, zu denen sowohl die von Marc Raeff 1990 publizierte Kulturgeschichte der gesamtrussischen Emigration (4) als auch das 1999 erschienene, knapp 800 Seiten umfassende Monumentalwerk über die tausendjährige russische Emigration von John Glad (5) gehören. Der hier theoretisch genutzte Begriff für die russische Emigration ,,Russland jenseits der Grenzen" fand seinen Ursprung in der einst weit verbreiteten Selbstbeschreibung zahlreicher Russen in der Emigration. ,,Russland jenseits der Grenzen" (Zarubezhnaia Rossiia or Russkoe Zarubezh) wurde verstanden als ein Land von Exilierten ohne eigenes Territorium. (6) Dieses ,,Russland im Exil" stellte in seiner gesellschaftlichen wie politischen Vielfalt die russische vorrevolutionäre Gesellschaft en miniature dar, (7) wobei diese ausschließlich die politische, soziale und intellektuelle Elite des tsaristischen Russlands repräsentierte (S. xi). Raeff argumentiert in seiner Studie für den Begriff der Gesellschaft als Bezeichnung für die russische Emigration, insofern alle grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen (Schulen, Kirchen, Universitäten sowie Verlagshäuser), die auch das Leben innerhalb Russlands gekennzeichnet hatten, in den jeweiligen Emigrationen repräsentiert gewesen seien. (8) Darüber hinaus sei die Emigration in ihrem Streben nach der Fortführung eines bedeutungsvollen russischen Lebens in der Emigration vereint gewesen. Entgegen der dem Begriff ,,Russland jenseits der Grenzen" innewohnenden Annahme der Existenz einer in sich geschlossenen Emigrantengruppe, gelingt es den Autoren des hier vorgestellten Buches, die politische und soziale Heterogenität der Prager Emigration zu benennen. Anderen Emigrationen ähnlich, war die Prager Emigration, ausgenommen einer Verständigung auf den gemeinsamen Grundnenner des Anti-Bolschewismus und vereint durch die gemeinsame Sprache, sowohl politisch als auch gesellschaftlich weit gefächert. Die Diskussion der auch von Karl Schlögel aufgeworfenen Frage nach der Beschaffenheit der ,,Emigration nur als oberflächliche[r] Einheit" (9), und der notwendigen Forderung nach Anerkennung der Existenz mehrerer Kulturen innerhalb der Emigration durchzieht die hier vorgestellte wissenschaftliche Studie.

In ihrer Fokussierung auf die Prager Emigration ist die vorliegende Arbeit Teil einer nach Fall des eisernen Vorhangs erneuten wissenschaftlichen Fokussierung auf einzelne Zentren der Emigration (10), deren Ergebnis erste Einzelstudien zu Städten wie die zu Berlin waren. (11) Andreyev und Savickýs Monografie kann jedoch in der westlichen Wissenschaftslandschaft nicht den Status einer Pionierarbeit für sich in Anspruch nehmen, da bereits 2001 eine Maßstäbe setzende Dissertation von Elena Chinyaeva über die russische Emigration in der ehemaligen Tschechoslowakei erschienen war. (12) Jedoch verleiht die dem Buch zugrunde liegende Frage nach der spezifischen Rolle Prags als Hauptstadt für die russische Emigration der post-revolutionären Zeit der Monografie ihre Vorreiterrolle. Die Tatsache, dass in Marc Raeffs Arbeit zur gesamtrussischen Emigration nur knapp zwei Seiten der Prager Emigration gewidmet sind, deutet auf die Forschungslücke hin, die Andreyev und Savický mit ihrem Buch zu füllen wussten. Um sich der Frage nach der Singularität der Situation in Prag anzunähern, untersuchen die Autoren sowohl die möglichen Ursachen für die tschechoslowakische Offenheit gegenüber der russischen Emigration im Lichte der nationalen und internationalen Politik als auch die spezifischen Integrationsmechanismen der russischen Emigranten in Prag.

Das Buch ist unterteilt in fünf Kapitel, denen eine äußerst gut strukturierte thematische Einleitung vorangeht. In der Einführung verflechten die Autoren auf intelligente Weise ihre Sicht auf die möglichen Ursprünge, Umgangsweisen und gesellschaftlichen Auswirkungen der russischen Emigration in Prag mit einer Diskussion der bislang in Russland, Prag und im Westen publizierten Forschungen. Um sich dem Phänomen der russischen Emigration in Prag anzunähern, erläutern die Autoren in den ersten beiden Kapiteln - ,,Beziehungen zwischen Tschechen und Russen" und ,,Politik und Emigration" - in erster Linie die politische Situation des gerade neu entstandenen Immigrationslandes und den Einfluss der Emigranten auf die tschechoslowakische Haltung gegenüber Russland (S. 28). Hier steht die Darstellung der versuchten Nutzbarmachung der russischen Emigration für die Stärkung von demokratischen Tendenzen in Russland (S. 33) im Zentrum der Untersuchung. Als ein Weg zu diesem Ziel galt die Schaffung wissenschaftlicher Einrichtungen und einer russischen Universität, mit Hilfe derer eine kontinuierliche akademische Bildung russischer Emigranten ermöglicht werden sollte. Dem Werdegang Prags hin zum ,,russischen Oxford" (13) widmet sich das dritte Kapitel mit dem Titel ,,Die russische wissenschaftliche Welt in Prag". Es war vor allem die ,,Russische Aktion" (Russkaya Aktsiya, RA), die die Tschechoslowakei von allen anderen Immigrationsländern insofern unterschied, als dass sie in den frühen 1920er-Jahren finanzielle Unterstützung für Flüchtlinge, Kinder, Invaliden und Studenten der russischen Emigration bot (S. 44). Diese in erster Linie rein wissenschaftliche Zielsetzung der RA war begleitet von dem politischen Vorhaben, eine Elite in der Emigration auszubilden, die nach Beseitigung der sowjetischen Regierung imstande sein würde, eine neue demokratische russische Regierung zu stellen. (14) Aufgrund der besonderen Ausrichtung auf Erziehung und Wissenschaft trug die RA langfristig dazu bei, dass sich Prag neben Paris nach 1924 zu einem der akademischen Zentren im ,,Russland jenseits der Grenzen" entwickeln konnte, das es bis in die frühen 1930er-Jahre bleiben sollte. Als jedoch die Möglichkeit für eine Rückkehr nach Russland seit Ende der 1920er-Jahre, aufgrund der sich rapide verschlechternden wirtschaftlichen Lage und des sich stabilisierenden sowjetischen Regimes (S. 191), immer unwahrscheinlicher wurde, schien die endgültige Assimilation an die Gastgesellschaft der einzige Ausweg. Jedoch stand der Versuch gesellschaftlicher Integration dem inhärenten Wunsch nach Bewahrung russischer Identität entgegen. Angesichts dieser Problematik erläutern die Autoren im vierten Kapitel ,,Identität und Verhaltensweisen" die sich entwickelnden Verhaltensmuster und Überlebensstrategien der russischen Emigration, was letztendlich ein klares Bild der Identitätsmerkmale der Prager Emigration ergibt. Um die Besonderheit Prags früh zu kennzeichnen und die dort ansässige Emigrantengruppe innerhalb der gesamten russischen Emigration zu beleuchten, hätte der im nächsten Kapitel mit dem Titel ,,Die russische Diaspora" vorgenommene ergiebige Vergleich mit anderen europäischen Städten gut als Einleitungskapitel fungieren können. Sobald die durch die RA gesicherte Weiterexistenz einer ,,eigenen russischen Mikrowelt, einer russischen akademischen Welt" (S. 194) ins Wanken geriet, begab sich ein Großteil auf die Suche nach einem neuen Standort in der internationalen akademischen Welt. Im Epilog, der ,,Das Ende der Emigration" thematisiert, gehen die Autoren knapp auf die schockartige Zersplitterung der Emigration als Folge von Hitlers Einmarsch in die Tschechoslowakei ein und schließen mit einer knappen Skizze der Auswirkungen der sowjetischen Besatzung Prags auf die endgültige Auflösung der Emigration als Einheit.

Abschließend lässt sich bemerken, dass ,,Russia Abroad" als erste umfassend recherchierte Überblicksdarstellung zur spezifisch wissenschaftlichen Bedeutung Prags für die russische Emigration einen wichtigen wissenschaftlichen Beitrag geleistet hat. Jedoch hätte eine selbstreflexive Sicht der Autoren auf ihre Erfahrung als Kinder damals aktiver Emigranten, wie im Vorwort angekündigt, die Studie um eine erfahrungsweltliche Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand bereichern können.

Friederike Kind, Budapest


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