ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Heidrun Hamersky (Hrsg.), Gegenansichten. Fotografien zur politischen und kulturellen Opposition in Osteuropa 1956-1989, Links Verlag, Berlin 2005, 195 S., geb., 29,90 €.

,,Die Andersdenkenden vollbrachten eine Tat von genialer Einfachheit - in einem unfreien Land begannen sie, sich wie freie Menschen zu benehmen." (Andrej Amalrik)

Geistig unabhängige und ,,anders" denkende Menschen präsentiert Heidrun Hamersky, Mitarbeiterin der Forschungsstelle Osteuropa in Bremen, in ihrem Bildband ,,Gegenansichten", dessen Fotografien Einblicke in Art, Vielfältigkeit und Alltag der politischen und kulturellen Opposition in Osteuropa und der DDR gewähren.

Auf Anregung von Wolfgang Eichwede durchforstete Hamersky die Bildbestände der Forschungsstelle und ergänzte sie durch Fundstücke aus Moskau, Warschau, Prag, Budapest, Berlin, Boston und New York. So zeigt sie im Ergebnis keine Fotografien der Überwachungsbehörden oder von offiziellen Agenturen, sondern 255 weitgehend unbekannte Bilddokumente aus privaten Beständen, die teilweise unter der Hand zirkulierten oder direkt zur sicheren Aufbewahrung in den Westen gebracht wurden. Die vielen Hände, durch die diese Bilder gegangen sind, haben an ihnen auch ihre Spuren hinterlassen. Diese Spuren wurden bewusst nicht retouchiert, was die Authentizität der Abbildungen zusätzlich untermauert.

Die Fotografien aus Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei, der DDR und der Sowjetunion sind thematisch und nicht nach Ländern angeordnet, so dass Parallelen und Unterschiede, aber auch Kooperationen zwischen den Oppositionsbewegungen in den verschiedenen Ländern deutlich zu Tage treten. In die historischen Hintergründe und Anfänge der Proteste bis zum Schlüsseljahr 1968 führt das erste Kapitel ,,Aufbrüche und Ende der Illusionen" ein. Im Mittelpunkt des zweiten Kapitels stehen die Menschenrechtsbewegungen von der sowjetischen Initiativgruppe für Menschenrechte bis zur Charta 77, während das dritte ganz Polen und der Solidarność gewidmet ist. Das vierte Kapitel präsentiert ausgewählte ,,gesellschaftliche Initiativen" für Glaubensfreiheit, Frieden und Umweltschutz während der 1970er- und 1980er-Jahre. Die kulturelle Opposition bestimmt das Thema des fünften Kapitels, bevor sich der letzte Abschnitt mit der ,,Beschleunigung der Wende" und den Liberalisierungen ab Mitte der 1980er-Jahre befasst.

Diese sicherlich nicht einfache Auswahl an Fotografien, die Hamersky getroffen hat, erlaubt vor allem die ganze Bandbreite und Vielschichtigkeit von Opposition zu erfassen, die sich keinesfalls nur auf politische Aktionen und Menschenrechtsgruppen beschränkte. Denn in den Gesellschaften des Ostblocks waren auch vermeintlich unpolitische Handlungen wie künstlerisches Schaffen außerhalb der offiziellen Kunstnormen oder das Festhalten an religiösen Überzeugungen Ausdruck von Opposition, für die man verfolgt werden konnte. Wenn Kunst politisiert und Politik in Kunst umgesetzt wird, sind politische und kulturelle Opposition kaum voneinander zu trennen. Deshalb ist es durchaus positiv zu vermerken, dass die häufig vernachlässigte ,,widerständige Kultur" mit Open-Air-Ausstellungen, geheimen Lesungen, Hauskonzerten und Zimmertheatervorstellungen in diesem Band einen so breiten Raum einnimmt.

Anschaulich im wahrsten Sinne des Wortes wird auch der schmale Grad, auf dem sich die Dissidenten bewegten. Auf der einen Seite zeugen fröhliche Bilder, die gemeinsames Feiern und künstlerisches Schaffen ablichten, von einer Gemeinschaft und einem Zusammenhalt unter den Beteiligten, denen auch Václav Havel in seinem Geleitwort etwas nachtrauert. Doch andererseits zeigen sie auch die allgegenwärtige Kontrolle - besonders eindrucksvoll sind hierbei die heimlich aufgenommenen Bilder der Überwachungskameras und Beschatter des Geheimdienstes - und die Realität der Repression durch Verhaftungen, Prozesse, Verbannung und Lagerhaft. Schnell wird so aus der netten Feier unter Freunden die Abschiedsfeier vor der Emigration.

Wolfgang Schlott, ebenfalls Mitarbeiter der Forschungsstelle, hat die schwierige Aufgabe übernommen, die Erläuterungen zu den Bildern zu verfassen. Diese Texte sind dringend notwendig, um die Relevanz der Fotografien zu erfassen. So dokumentiert die vermeintliche Fotografie eines Sonntagsspazierganges in Wirklichkeit die Flucht vor den allgegenwärtigen Abhörmikrophonen. Dabei ist es Schlott gelungen, möglichst viele Informationen in kurze prägnante Texte zu packen, die doch das Bild im Vordergrund belassen. Auch die Chronologie der Ereignisse, die den Bildern vorangestellt ist, erweist sich besonders für den mit der Geschichte der Dissidenten weniger vertrauten Leser als nützlich. Angereichert durch seine persönlichen Erfahrungen erläutert Wolfgang Eichwede in seinem einleitenden Essay unter dem Titel ,,Widerrede als Kultur" die Grundprinzipien und Grundmerkmale der Opposition in Osteuropa. Eichwede macht darin unter anderem deutlich, dass die Grenze zur ,,Gegenwelt" nicht so eindeutig bestimmbar ist wie der Titel des Bandes ,,Gegenansichten" und der Terminus ,,Opposition" suggerieren. Erlaubtes und Verbotenes, Staat und Gesellschaft, Opportunismus und Opposition sind kaum zu trennen und manchmal in derselben Person vereint, die sich durch ihr Doppelspiel der ,,sozial schizophrenen" Gesellschaft angepasst hat. Folglich erscheint auch die in der Chronologie vorgenommene Einteilung in ,,Staatliche Systeme" und die ,,Welt der Andersdenkenden" schwierig.

Den besonderen Reiz dieses Bildbandes macht die Verbindung von Einblicken in die - aus eben genannten Gründen nur vermeintlich private - Mikroebene der einzelnen Akteure mit den Schlüsselereignissen auf der Makroebene aus, so dass er eine gewinnbringende Ergänzung zur Geschichte widerständigen Verhaltens in Ostmitteleuropa und der Sowjetunion darstellt.

Sonja Hauschild, München


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