ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Elizabeth Harvey, Women and the Nazi East. Agents and Witnesses of Germanization, Yale University Press, New Haven etc. 2003, 384 S., geb., ca. 38 €.

Die Geschichte der Frauen im Nationalsozialismus ist ein seit den 1970er-Jahren intensiv, aber nicht immer klug bearbeitetes Feld der historischen Forschung. Die Beschäftigung mit diesem Thema wurde lange Zeit durch die Kontroverse beherrscht, inwieweit sich Frauen als Opfer oder Täterinnen klassifizieren lassen. Der Begriff der Handlungsspielräume und die damit verbundene konzeptionelle Neuausrichtung hätte diese zum Schluss fruchtlose Konfrontation beenden können. Bis heute hat sich dieser Paradigmenwechsel jedoch nur zum Teil vollzogen. Nicht wenige Studien, die nach der Rolle von Frauen im Nationalsozialismus fragen, fallen letztlich wieder auf die Täterinnen-Opfer-Dichotomie zurück.

Elizabeth Harvey zeigt mit ihrer Arbeit über den Einsatz von Frauen in der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik in den eingegliederten und besetzten Ostgebieten, dass es auch anders geht. Auf der Basis von zeitgenössischen Tätigkeitsberichten und von lebensgeschichtlichen Interviews nimmt sie die Rolle von Kindergärtnerinnen, Lehrerinnen, Ansiedlungsbetreuerinnen und Dorfberaterinnen, die den ,,deutschen Osten" nach der militärischen Eroberung der nationalsozialistischen ,,Neuordnung" unterwarfen, in den Blick. Harvey untersucht die Motive der Frauen und Mädchen, das Spektrum ihrer Aufgaben und die durch die Kategorien Geschlecht und Rasse bestimmten Handlungsspielräume.

Die Tätigkeit deutscher Frauen bei der ,,Germanisierung" der eroberten Ostgebiete knüpfte an historische Vorläufer an, die bis in die imperialistische Kolonialpolitik des Kaiserreichs zurückreichen. Als Lehrerinnen, Krankenschwestern oder Ehefrauen, die ihren Männern in die Kolonien gefolgt waren, hatten sie die alltägliche rassische Diskriminierung perpetuiert. Leider bleibt die Beschäftigung mit der Frage nach der Rolle von Frauen im deutschen Kolonialismus nur eine Randbemerkung, die Harvey zugunsten einer ausführlichen Darstellung der ,,Grenzlandarbeit" in der Zwischenkriegszeit nicht weiter verfolgt. Sie vergibt sich damit die Chance, die Debatte über die Kontinuitäten zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus empirisch voranzubringen. Dies hätte sich umso mehr angeboten, als die Untersuchung der ,,Grenzlandarbeit" zwischen 1918 und 1939 kaum neue Erkenntnisse zu Tage fördert. Als Antwort auf den Versailler Friedensvertrag setzten sich die Germanisierungsbemühungen im deutschen Grenzland nach 1933 fast unverändert fort. Die Konzepte blieben dieselben, lediglich die Strukturen waren den zeitspezifischen Entwicklungen - Zentralisierung und Einflussnahme der NS-Organisationen - unterworfen. Die entscheidende Zäsur bildete demnach auch nicht die Machtübernahme der Nationalsozialisten, sondern der NS-Eroberungskrieg gegen Polen im September 1939. Stolz pries die NS-Frauenschaft die ,,Volksgenossinnen", die der kämpfenden Truppe unmittelbar folgten, um die eroberten Ostgebiete der deutschen Herrschaft zu unterwerfen.

Trotz des hohen Prestiges, das im NS-Staat mit der ,,Volkstumsarbeit" verbunden war, folgte nur ein Teil der Frauen den Aufrufen enthusiastisch, nur wenige äußerten von sich aus den Wunsch, im Osten eingesetzt zu werden. Im vierten Kapitel beschreibt Harvey die Methoden der Rekrutierung und die höchst unterschiedlichen Reaktionen der Frauen. Abenteuerlust und ein Bedürfnis nach Unabhängigkeit sprachen ebenso für den Einsatz im Warthegau oder im Generalgouvernement wie Aussichten auf berufliches Fortkommen oder das Gefühl, dem Vaterland verpflichtet zu sein. Die ideologische Überzeugung gab in den seltensten Fällen den Ausschlag; dies war letztlich auch nicht notwendig. Mitunter konnte auch die Vorstellung, außerhalb des Deutschen Reiches der Allgegenwärtigkeit der NSDAP zu entfliehen, ein Beweggrund sein, sich für die ,,Germanisierung" der eroberten Ostgebiete einzusetzen. Harvey arbeitet überzeugend heraus, dass die Frage, wie die Frauen zum Nationalsozialismus standen, nur begrenzte Bedeutung für ihr Handeln hatte und dass sie trotz distanzierter Haltung zu Komplizen des Regimes werden konnten.

An der Mitverantwortung der Frauen an der deutschen Gewaltherrschaft in den eingegliederten und besetzten Ostgebieten lässt Harvey keine Zweifel. Wie genau diese aussah und inwieweit sie als typisch weiblich bewertet werden kann, führt sie am Beispiel von drei Gruppen - Lehrerinnen, Kindergärtnerinnen und Dorfberaterinnen - aus. Es lag in ihrer Aufgabe, die ehemals von Polen und Juden bewohnten Häuser für ,,Volksdeutsche" einzurichten, deren Kinder zu unterrichten und die Erwachsenen in Sachen Haushaltsführung und Erziehung zu beraten. Die Frauen trugen auf diese Weise dazu bei, die nationalsozialistische Bevölkerungs- und Besatzungspolitik, vor allem die Separierung und Diskriminierung von Nichtdeutschen im Alltag umzusetzen. Ihre Rolle bestand darin, den von Männern eroberten ,,Lebensraum" in den deutschen Herrschaftsraum einzugliedern. Ihre Mittäterschaft war weiblich, weil ihnen die Germanisierungspolitik typisch weibliche Aufgaben aus dem Bereich Fürsorge und Erziehung zuwies. Entsprach die Tätigkeit der gängigen Geschlechterordnung, so wies die Stellung, die Frauen im Osten erreichen konnten, weit darüber hinaus. Mit der Verantwortung für ,,volksdeutsche" Siedler betraut und als Reichsdeutsche über den Polen und Juden stehend, erweiterten sie ihre Handlungs- und Entscheidungsspielräume auch gegenüber männlichen ,,Volksgenossen".

Harvey zeigt am konkreten Fall der in den Ostgebieten eingesetzten Frauen, wie die Rassen- die Geschlechterhierarchie der Besatzergemeinschaft überlagern und verändern konnte. Neben den Erkenntnissen über Motive für die Beteiligung der Frauen an der Germanisierungspolitik und über die Ausprägung der weiblichen Täterschaft ist dieses wohl eines der wichtigsten Verdienste ihrer Untersuchung. Abgesehen von einigen Schwächen, die vor allem die Gliederung des Buches betreffen - so hätten, um Redundanzen zu vermeiden, Kapitel 5 und 6 über die Wahrnehmung des Ostens durch die Frauen und ihre Selbsteinschätzung sinnvollerweise in die den Gruppen gewidmeten Abschnitte integriert werden sollen - liegt hier eine anregend geschriebene, kritisch argumentierende und im Umgang mit oral history mustergültige Studie vor. Die Zeiten, in denen man sich an den Debatten des ,,Historikerinnenstreites" abgearbeitet hat, sind endgültig vorbei. Harveys Studie steht für ein neues Kapitel der Forschungen über Frauen im Nationalsozialismus. Wer in Zukunft zu diesem Thema arbeitet, wird nicht umhin kommen, sie zur Hand zu nehmen.

Nicole Kramer, München


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | April 2006