ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Karsten Rudolph, Wirtschaftsdiplomatie im Kalten Krieg. Die Ostpolitik der westdeutschen Großindustrie 1945-1991, Campus Verlag, Frankfurt/Main 2004, 455 S., brosch., 39 €.

Während die politischen und militärischen Aspekte der Ost-West-Beziehungen in der Forschung in vielfältiger Weise behandelt worden sind, stehen für die nicht weniger wichtige ökonomische Dimension nur wenige fundierte Arbeiten zur Verfügung.(1) Die jüngste Untersuchung der großindustriellen Osthandelsinteressen in der Bundesrepublik von Karsten Rudolph nimmt erstmals die beharrlichen Bemühungen um den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen mit den kommunistisch regierten Staaten Osteuropas als eine Form der ,,Ostpolitik" im gesamten Zeitraum des Kalten Krieges bis zum Ende der Sowjetunion ins Visier, die einen wesentlichen Beitrag zur Entspannung und letztlich auch zum Gelingen der ostpolitischen Wende Anfang der 1970er-Jahre geleistet habe. ,,Ohne die diplomatischen, außenpolitischen und politisch-psychologischen Vorleistungen der deutschen Wirtschaft hätte die Ostpolitik Brandts allerdings wesentlich höhere Hürden nehmen müssen." (S. 309) Dass dem Einsatz prominenter ,,Wirtschaftsdiplomaten für eine neue Ostpolitik" eine ausschlaggebende Bedeutung für die Verschiebung der ,,Grundkoordinaten der Bonner Außenpolitik" Anfang der 1970er-Jahre beigemessen wird, drückt in wiederholten, ähnlich pointierten Formulierungen die Intention des Verfassers aus, dem Interesse bestimmter Zweige der deutschen Industrie an der Ausweitung des Ostgeschäfts einen hohen politischen Stellenwert zuzuerkennen.

Bis in die zweite Hälfte der 1960er-Jahre war der Kalte Krieg auch ein Wirtschaftskrieg, und die zaghaften wirtschaftlichen Kontakte nach Osten waren hochpolitisiert und standen unter eindeutigem außenpolitischen Vorzeichen. Gleichwohl bedeutete das frühzeitige ,,Come back der Osthändler" (Kapitel 2), dass der Gesprächsfaden nicht abriss und wirtschaftliches Engagement mit politischem Kalkül verbunden werden konnte. Daher kann das Motto des ersten Kapitels ,,Die Waffen der Wirtschaft" in Anspielung auf die Instrumentalisierung einer außenwirtschaftlichen Expansionsstrategie in der Zwischenkriegszeit nur als kontrafaktische Einstimmung auf die völlig veränderten Verhältnisse verstanden werden. Dennoch schien die Wiedererschließung Ost- und Südosteuropas ungeachtet des mehrheitlichen ,,Westkurses" des sich formierenden Unternehmerlagers für den bundesdeutschen Außenhandel geboten. So wurden schon in den 1950er-Jahren auf Initiative der im Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft organisierten Interessenvertreter kleine Breschen in die verhärteten Fronten zwischen Ost und West geschlagen und Vertrauenskapital angesammelt, das zu einer wichtigen Voraussetzung für die spätere Entspannungspolitik werden sollte. Angesehene Firmenvertreter wie Otto Wolff von Amerongen und Berthold Beitz trugen mit ihrer ,,Reisediplomatie" in die osteuropäischen Hauptstädte auch zur Verbesserung des deutschen Ansehens im Osten bei und betrieben gelegentlich sogar Handelspolitik.

Die Frage nach den politischen Implikationen spielte bei der Beschäftigung mit der Problematik des Osthandels schon immer eine besondere Rolle. Im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung steht nun die Rolle der ,,westdeutschen Großindustrie" im ostpolitischen Entscheidungsprozess der Bundesrepublik, die im Untertitel einfach als ,,Ostpolitik" bezeichnet wird. Im Vorwort erklärt der Verfasser, ,,die umstrittenen Grenzüberschreitungen durch politische Unternehmer und Wirtschaftsdiplomaten" ebenso nachzeichnen zu wollen wie die ,,umkämpften Grenzziehungen" zwischen Wirtschaft und Politik. Es geht ihm daher weniger um den ökonomischen Aspekt des Osthandels als vielmehr um das ,,diplomatische Engagement der im Ostgeschäft tätigen westdeutschen Großindustrie", deren ,,Ostpolitik die Neue Ostpolitik der Ära Brandt gleichsam vorwegnahm" (S. 8). Dies ist sicher eine gewagte Ausgangsthese, die der prominenteste Verfechter der Osthandelsinteressen, Otto Wolff, kaum akzeptiert hätte. Vielmehr war er überzeugt, dass der Handel und die wirtschaftliche Zusammenarbeit der politischen Verständigung folgen und von ihr profitieren sollten.(2) Zwar waren gerade die Geschäftsbeziehungen mit der Sowjetunion seit Mitte der 1950er-Jahre, auf die sich Rudolph konzentriert, als Anknüpfungspunkt für eine allgemeine Verbesserung der bilateralen Beziehungen der ,,Neuen Ostpolitik" der sozial-liberalen Koalition durchaus dienlich und bereiteten ihr vielleicht sogar den Boden, ihr Ausbau und vor allem eine langfristige Kooperation waren letztlich von geregelten politischen Beziehungen abhängig und nicht umgekehrt. Nicht weniger gewagt ist daher eine weitere Schlussfolgerung, wonach sich ,,im Schatten der für die Ostpolitik Adenauers und Erhards unabweislich negativen Bilanz" die ersten Umrisse jener ,,strategischen Allianz" von SPD, FDP und der am Osthandel interessierten westdeutschen Exportindustrie abzeichneten, die der ,,Neuen Ostpolitik" zum Durchbruch verhelfen sollte. (S. 230)

Vor dem Hintergrund eines schwierigen politischen Umfelds und den von den Planwirtschaften gesetzten Grenzen des Ostgeschäfts untersucht Rudolph in zwölf Kapiteln den Anteil der involvierten Industrie, ihrer Verbände und Protagonisten an der Entwicklung weiterführender ostpolitischer Konzepte oder Initiativen und sieht die deutsche Industrie gar als ,,Gestaltungskraft im Ost-West-Konflikt" (Kapitel 12) von Anfang der 1950er- bis in die 1980er-Jahre. Die ersten Kapitel behandeln die Wiederbelebung des durch den Kalten Krieg marginalisierten und erschwerten Osthandels nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Abschluss des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags von 1958, außerdem den mit dem Röhrenembargo von 1962/63 aufbrechenden Konflikt zwischen industriellen Interessen und der ,,amtlichen Ostpolitik". Im zweiten Teil seiner Arbeit wendet sich Rudolph der Loslösung der am Ostgeschäft interessierten Industrie von der als unzureichend empfundenen Politik der Regierung Erhard zu sowie der Dynamisierung der Geschäfte infolge der ,,Neuen Ostpolitik" in der Ära Brandt, die allerdings nicht lange anhielt: In den 1980er-Jahren trat sie in eine instabile und stagnierende Phase ein - neben der neuerlichen Eiszeit im Ost-West-Verhältnis auch Ausdruck der wachsenden ökonomischen Krise im Ostblock.

Die ungleiche Gewichtung der Zeitabschnitte vor und nach dem Anfang der 1970er-Jahre ist nicht zuletzt Ausdruck der unterschiedlichen Aktenlage. In einem breit angelegten Exkurs porträtiert Rudolph schließlich noch sehr wohlwollend die drei wichtigsten ,,Ostdiplomaten" Wolff, Beitz und Ernst Wolf Mommsen. Plastisch schildert er im Spiegel ihrer Lebensläufe deren wirtschaftspolitische Verdienste und beschreibt, wie die ,,ostpolitischen Außenseiter und Einzelgänger der Industrie [...] zu deren außenpolitischen Wortführern" wurden. Sie wollten im Osten angeblich nicht nur Geld verdienen, sondern auch ,,eine historische Mission erfüllen" (S. 270, 355). Dies mag angesichts seiner Erfahrungen im Osten während des Zweiten Weltkrieges für Berthold Beitz tatsächlich zutreffen. Rudolph zeigt aber auch, dass die von diesen ,,politischen Unternehmern" betriebene Forcierung des Osthandels innerhalb der industriellen Interessenverbände nicht selten auf Misstrauen und Ablehnung stieß.

Der langjährige Kontakt der ,,Osthändler" zu den Staatshandelsländern hat die politische Annäherung erleichtert und den Boden für einen erfolgreichen Ausgleich mit dem Osten bereitet. So war es sicher kein Zufall, dass das erste Erdgas-Röhren-Geschäft zum Auftakt der ,,Neuen Ostpolitik" der Bundesregierung und dadurch zum Politikum ersten Ranges wurde. Aber erst der Moskauer Vertrag vom 12. August 1970 schuf die Grundlage für konstruktive, von den Schwankungen des politischen Klimas weitgehend unabhängige Beziehungen auf wirtschaftlichem Gebiet. Damit war zugleich das ,,Ende der aktiven Ostpolitik der westdeutschen Industrie" gekommen, ihre ,,ostpolitische Pionierrolle" war ausgespielt (S. 331). Die Entspannung brachte zwar die immer wieder geforderte Entpolitisierung und außerdem eine große Euphorie hinsichtlich der künftigen Kooperationsmöglichkeiten, dennoch blieben dem Osthandel aufgrund der unverändert einseitigen Austauschstruktur enge Grenzen gesetzt, über die auch der enorme Aufschwung im Zuge der ,,Ostverträge" nicht hinwegtäuschen konnte. Er war daher am Ende der 1980er-Jahre nicht bedeutender als Anfang der 1960er-Jahre. Selbst nach 1985 war trotz deutlicher Ausweitung der deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit eine Normalisierung der Wirtschaftsbeziehungen nicht ohne weiteres möglich. In der Reformzeit Michail Gorbatschows zahlten sich diese zwar weniger ökonomisch, dafür jedoch zunehmend politisch aus.

Wirtschaftliche Beziehungen und Geflechte zwischen Ost und West konnten zwar nicht das politische Handeln diktieren - vor allem die östliche Vormacht ließ sich keine politischen Konzessionen ,,abkaufen" -, sie schufen aber eigene Realitäten, die sich auch auf die Politik auswirkten. Mit den ,,Waffen der Wirtschaft" war den harten Realitäten in Osteuropa jedoch zu keinem Zeitpunkt beizukommen, und die im Osthandel engagierte westdeutsche Geschäftswelt war daran ebenso wenig interessiert wie an der Unterstützung einer aussichtslosen Revisionspolitik (S. 345). Vielmehr wurden die Osthandelsinteressen in das Konzept sowohl in die Westintegration als auch in die neoliberale Doktrin der Exportorientierung eingepasst. Gleichwohl entfalteten die Aktivitäten der ,,Ostdiplomaten und Osthändler" der deutschen Industrie eine ,,beachtliche spannungsdämpfende Wirkung im Ost-West-Konflikt". Daher kann Rudolph seine breit angelegte Untersuchung des ,,außergewöhnlichen politischen Engagements" der am Osthandel interessierten Unternehmer und Manager mit der leitmotivischen Bemerkung schließen, dass ohne deren ,,kriegs- und konflikthemmenden Optimismus" die Ostpolitik Willy Brandts und Walter Scheels ebenso schwer vorstellbar gewesen wäre wie ihre Behauptung durch die Regierung Kohl/Genscher in der Frostperiode der 1980er-Jahre (S. 355).

Auch wenn gewisse Vorbehalte gegen Rudolphs Ansatz und seine Kernaussagen anzumelden sind, so ist doch insgesamt festzustellen, dass ihm eine lebendige, engagiert geschriebene und solide recherchierte Darstellung der osthandels- und ostpolitischen Intentionen der westdeutschen Industrie gelungen ist, die auf breiter deutschsprachiger Quellenbasis neue Einblicke in das ,,Ineinanderwirken von Wirtschaft und Politik" (Otto Wolff) eröffnet. Dazu trägt nicht zuletzt bei, dass der sehr heterogene Untersuchungszeitraum von 40 Jahren neben der Verfolgung von Entwicklungslinien und Grundtendenzen die Verdeutlichung von Kontinuitäten und Transformationen in diesem umstrittenen Bereich der bundesdeutschen Außenwirtschafts- und Außenpolitik erlaubt. Bliebe noch anzumerken, dass dieser groß angelegten und als Habilitationsschrift eingereichten Arbeit eine einleitende Begründung des Forschungsansatzes und der Vorgehensweise ebenso gut angestanden hätte wie eine kritische Würdigung der bisherigen Forschung und eine genauere Qualifizierung des benutzten Archivmaterials. Dann würde sich auch manche Überzeichnung der politischen Absichten und Einmischungen der ,,Osthändler" in die polarisierten politisch-wirtschaftlichen Auseinandersetzungen des Kalten Krieges relativieren. So wird die von Karsten Rudolph vorgelegte Arbeit sicher Anlass zur Diskussion und Anstoß zu weiteren Untersuchungen - unter stärkerer Berücksichtigung der osteuropäischen Randstaaten - geben.

Karl-Heinz Schlarp, Dresden


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