ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Als Arno Klönne in den Fünfzigerjahren die erste wissenschaftliche Abhandlung über die Hitlerjugend schrieb, tat er dies entlang traditioneller historischer Quellen: den wenigen Archivmaterialien, die nach dem Krieg greifbar waren, den zahlreichen Zeitschriften und Schulungsmaterialien der Hitlerjugend, ihren Befehlsblättern, Richtlinien, Jahrbüchern. Auf dieser Basis gelang die Darstellung der Geschichte der nationalsozialistischen Jugendorganisation, ihr Aufbau, ihre Inhalte und Ziele. Das Buch war ein großer Fortschritt. Dennoch erschien Klönnes Studie sowohl Wissenschaftlern wie ehemaligen Mitgliedern der Hitlerjugend als zunehmend grobmaschig und einseitig auf die Perspektive der Machthaber zugeschnitten, außerdem beschränkte sie sich im Wesentlichen auf die männliche Hälfte ihrer Mitglieder. Das resultierte aus der Quellenlage, die noch kaum regionale Quellen umfasste, sowie aus diversen Fragestellungen, die der Bemächtigung der Jugend durch die Diktatur, ihrer politischen Formierung und ihrem Einsatz im Krieg galten. Diese Fokussierung war vielleicht auch der wichtigste Grund, warum es zunächst so schwer fiel, die Organisation der Mädchen wahr- und ernst zu nehmen. Mit dem Ende der Siebziger-, Anfang der Achtzigerjahre machte sich eine nachgeborene Generation, die in den Nationalsozialismus nicht mehr selber eingebunden war, an die Erforschung der Geschichte ihrer Eltern: Seither entstanden zahlreiche neue Studien zur Hitlerjugend und - erstmalig und im Gefolge der neuen Frauenbewegung - auch zum Bund Deutscher Mädel, oft unter Einbezug von Interviews. Es begann eine Auseinandersetzung zwischen den Generationen, befördert auch dadurch, dass viele ehemalige Mitglieder und einige Funktionäre der Hitlerjugend nach dem Ende ihres Berufslebens ihre Erfahrungen mit der NS-Organisation aufzuzeichnen begannen. Dadurch entstand ein sehr viel differenzierteres Bild, bereichert um regionale Besonderheiten und individuelle Lebenswege, durch die die Attraktivität und Wirkungsweise der Hitlerjugend überhaupt erst nachvollziehbar wurde. Auf der Grundlage dieses enorm erweiterten Quellenkorpus erschien 2003 Michael Buddrus' Totale Erziehung für den totalen Krieg, ein fulminantes Werk, von seiner Anlage und seinem Umfang her jedoch eher ein Nachschlagewerk. Ein aktuelles Standardwerk von der Art, wie es Arno Klönnes Studie aus den Fünfzigerjahren Jahren gewesen war, fehlt jedoch, obwohl Klönne sein Buch in den Siebzigerjahren mit einigen Zusätzen noch einmal aufgelegt hatte. Nun scheint es, als wolle Michael H. Kater dem abhelfen.

Hitler-Jugend ist zunächst für den angloamerikanischen Markt geschrieben worden; Michael H. Kater ist emeritierter Professor für Geschichte an der York Universität in Toronto, Kanada. Er hat Bücher über das Ahnenerbe der SS, Studenten in der Weimarer Republik, die NSDAP und in den letzten Jahren vor allem zu Musik im Nationalsozialismus geschrieben. Hitler Youth erschien 2004 bei Harvard University Press und füllte eine wirkliche Informationslücke: Es gibt im Englischen nur wenige wissenschaftliche Aufsätze zur NS-Jugendorganisation, vereinzelte biografische Abhandlungen und eine einzige, sehr spezielle wissenschaftliche Abhandlung: die in den Siebzigerjahren erschienene Studie von Peter Stachura über die Hitlerjugend in der Weimarer Republik. Katers Arbeit ist deshalb einerseits der Versuch, erstmalig für eine englischsprachige Leserschaft eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Jugendorganisation zu erstellen und andererseits diese spezifische Organisation einzubinden in das Gefüge des NS-Staates und seines Herrschaftsanspruches, wie er vor allem im Krieg sichtbar wurde. Das Buch ist folglich breit angelegt. Auch Kater bezieht beide Geschlechter in seine Darstellung ein und behandelt ihre Organisationen - Hitlerjugend und Bund Deutscher Mädel - als gleichberechtigte Teile einer Institution, wie es der Realität entsprach. Er stützt sich insbesondere auf subjektive Quellen, im Bemühen, der Lebenswirklichkeit in einem Staat auf die Spur zu kommen, der zwar als Diktatur betrachtet werden muss, doch offenkundig von breiten Schichten der Bevölkerung mitgetragen wurde. Worin bestand das Interesse der Jugend, was waren ihre Erfahrungen und wofür muss sie im Rückblick die Verantwortung übernehmen?

Katers Buch ist in sechs Kapitel eingeteilt. Es beginnt mit einer Darlegung der Fragestellung. Die Hitlerjugend speiste sich in ihren Anfängen aus demselben Generationenkonflikt, wie er sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland artikulierte. Sie verstand sich in bewusster Abgrenzung von der verhassten Weimarer Republik, machte sich die Entfremdung der Jugend, ihre Not und ihre fehlenden Zukunftserwartungen zunutze. Umgekehrt war der Nationalsozialismus ab 1930 bereit, männliche Jugendliche als Mitkämpfer in ihre Reihen aufzunehmen. Hauptteil des Buches sind vier Kapitel. In einem ersten Kapitel (Dienst in der Hitler-Jugend) gibt Kater einen Abriss der Geschichte der Organisation, beschreibt die Inhalte ihres Dienstes und ihre Führungsstruktur. Im zweiten Kapitel widmet er sich den Mädchen im Dienst der NS-Politik. Auch hier steht ein kurzer Überblick zur Geschichte von Mädchen in der NS-Bewegung am Anfang, gefolgt von einer Beschreibung der Inhalte des Dienstes sowie der Schilderung von Land- und Pflichtjahr. Unter der Überschrift Besondere Herausforderung im Zweiten Weltkrieg geht er insbesondere ein auf den Arbeitsdienst, den Osteinsatz, den Einsatz von Mädchen in der Bahnhofsmission sowie ihre Hilfe in Lazaretten. Ein dritter Abschnitt (Eugenik als ,,Rassenpflege") versucht den Bund Deutscher Mädel mit den rassistischen Intentionen des Staates zu verknüpfen. Wie wurden Mädchen hier auf ihre Rolle als Mütter eines ,,rassereinen arischen" Nachwuchses vorbereitet? In einem dritten Kapitel widmet sich Kater den Dissidenten innerhalb der Jugend, den Edelweißpiraten, Leipziger Meuten, der Weißen Rose und der Swing-Jugend und in einem vierten Kapitel beschreibt er die Kriegserfahrungen junger Menschen, die soldatischen Erfahrungen der jungen Männer ebenso wie die Erfahrungen derjenigen, die an der Heimatfront geblieben waren, wie dies für die jüngeren Jungen und insbesondere die Mädchen zutraf. Kater schließt mit der Darstellung der unterschiedlichen Bemühungen um Reeducation, die von den Besatzungsmächten nach 1945 unternommen wurden, und fragt noch einmal nach der Verantwortung dieser Jugend, der es erst im Alter gelang, die von ihr mitverursachten Schäden innerhalb eines verbrecherischen Regimes, in das sie eingebunden war, zu reflektieren und dabei auch die eigene seelische Beschädigung wahrzunehmen.

Klare Konzeption, Lesbarkeit, Einbindung subjektiver Zeugnisse aus den zahlreichen Autobiografien und Interviews der letzten Jahre, gehören zu den Stärken dieses Buches. Demgegenüber stehen Redundanzen, Ungereimtheiten und auch einige Fehler. Einige sollen hier exemplarisch herausgegriffen werden. Durch den Titel seines Buches gibt Michael Kater vor, über die Hitlerjugend zu schreiben, eine Organisation, die eine Geschichte und spezifische Inhalte hatte. Sie wird aus dem Buch nicht deutlich. Es ist sehr viel breiter angelegt, handelt über weite Strecken ganz allgemein von den Erfahrungen jugendlicher Männer und Frauen, bezieht andere Organisationen mit ein, wie den Reichsarbeitsdienst, Pflicht- und Landjahr, Napolas oder Adolf-Hitler-Schulen. Dazu ließe sich positiv anmerken, dass die Hitlerjugend nur ein Segment - wenngleich das bedeutendste - innerhalb eines ganzen Netzes von Organisationen und Maßnahmen war, über die die Nationalsozialisten versuchten, auf die Jugend Einfluss zu nehmen, dass die Lebensrealität folglich vielschichtiger war und über eine Organisation allein nicht zu erklären ist. Kritisch muss dagegen jedoch eingewendet werden, dass - vermutlich sogar gegen die Intentionen des Autors - der Eindruck eines hermetischen Zugriffs entsteht, den es bis zuletzt nicht gegeben hat. Es war eben nicht so, dass Mädchen und Jungen bereits in Friedenszeiten ,,eine Menge Stunden in HJ-eigenen Häusern" verbrachten, wie der Autor behauptet (S.33) - zumal HJ-eigene Häuser für die Heimabende keineswegs die Regel waren. Tatsächlich war der Einfluss der Hitlerjugend begrenzt, beschränkte sich für das einfache Mitglied auf zwei, höchstens vier Stunden die Woche und wuchs mit zunehmendem Engagement innerhalb von Führerkarrieren und durch die Einsätze während des Krieges. Napolas und Adolf-Hitler-Schulen waren pädagogische Eliteeinrichtungen und keine Institutionen innerhalb der Hitlerjugend, mit der sie gleichwohl zusammenarbeiteten. Pflicht- und Landjahr waren Maßnahmen zur Regulierung des Arbeitsmarkes. Das Pflichtjahr, ,,Anordnung zum verstärkten Einsatz von weiblichen Arbeitskräften in der Haus- und Landwirtschaft" von 1938, beschränkte sich auf bestimmte Berufe und sollte zu einer Umverteilung des Arbeitskräftezuflusses von begehrten zu chronisch unterversorgten Wirtschaftssektoren wie der Haus- und Landwirtschaft führen. Das war vor allem nach Ausbruch des Krieges für die vielen kleinen bäuerlichen und Einzelhandelsbetriebe wichtig, als die Männer eingezogen wurden und ihre Frauen, viele mit kleinen Kindern, diese Betriebe aufrechterhalten mussten. Mit der Hitlerjugend hatte das Pflichtjahr nur insofern etwas zu tun, als hier eine Institution bestand, über die geeignete Interessenten geworben oder angesprochen werden konnten. Die Hitlerjugend organisierte Ernteeinsätze, in denen Einheiten zur Sicherung der Ernte für vier oder auch acht Wochen abgestellt wurden. Diese Ernteeinsätze sind jedoch nicht identisch mit dem Landjahr oder dem HJ-Landdienst. Unklarheiten dieser Art gibt es viele und sie sind verwirrend. So wird vom Arbeitsdienst einerseits richtig behauptet, dass er ökonomisch wenig effizient gewesen sei (S. 78), andererseits spricht Kater von ,,den für die Bauern hilfreichen Ernteeinsätzen" (S. 167). Für die Mädchen zumindest gilt, dass der Arbeitsdienst - er betrug im Übrigen sechs und nicht wie beschrieben drei Monate - höchst misslich eingerichtet war: Da die Angehörigen in Lagern und nicht bei den Bauern selber untergebracht waren, standen sie diesen auch stets nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung, für viele Bauern ein ärgerlicher Sachverhalt.

Katers wichtigste Frage gilt der Verantwortung der nationalsozialistischen Jugend. Das Kapitel über die Mädchen beginnt mit einem Paukenschlag: Kater führt es ein mit der Biografie von Irma Grese, der berüchtigten SS-Aufseherin, die in Auschwitz, Ravensbrück und Bergen-Belsen die Lagerinsassinnen in Angst und Schrecken versetzt hatte und für ihre Verbrechen kurz nach dem Krieg zum Tode verurteilt wurde. Kater gesteht zwar ein, dass Irma Greses ,,Laufbahn...nicht unbedingt typisch" für ein im BDM geschultes Mädchen war (S. 65). Tatsächlich gibt es widersprüchliche Angaben zur Mitgliedschaft von Irma Grese im Bund Deutscher Mädel, aber selbst da, wo diese behauptet wird, ist nicht ersichtlich, ob und inwiefern Grese davon beeinflusst wurde. Ohne in Frage zu stellen, dass es unter nationalsozialistisch belasteten Frauen ehemalige Mitglieder der Hitlerjugend gab, muss bedacht werden, dass Lebenswege von BDM-Mitgliedern auch völlig anders verliefen. Ein kausaler Zusammenhang von HJ- bzw. BDM-Mitgliedschaft und Beteiligung an NS-Verbrechen lässt sich daher nicht a priori behaupten.

Methodisch problematisch erscheint mir vor allem, vom Alltag im Bund Deutscher Mädel unmittelbar auf die Verbrechen in den Lagern zu schließen, denn auch wenn diese Verbrechen der moralische Bezugspunkt für die NS-Forschung bleiben sollten, so sind die Verknüpfungen zu einzelnen NS-Organisationen nicht linear, oftmals gebrochen und manchmal sogar widersprüchlich, wie z.B. bei Sophie Scholl. Zu den Inhalten des ,,Mädeldienstes" sind Katers Aussagen im Übrigen unbestimmt und widersprüchlich. ,,Was immer auch die politische Botschaft war, mit der die HJ-Führung die Mädchen zu erreichen trachtete, sie wurde unterschwellig vermittelt" (S. 73), schreibt er und lässt uns im Unklaren darüber, was wie über welche Wege vermittelt wurde. Da das Ziel nationalsozialistischen Mädchenerziehung nach einem Führerwort die Mutterschaft zu sein hatte, schickt jeder Wissenschaftler sich an, dafür Belege zu finden. Auch Kater hat diesem Thema einen ganzen Abschnitt eingeräumt. Unbelegt stellt er uns hier das 1938 gegründete BDM-Werk ,,Glaube und Schönheit" als Institution vor, deren eigentlicher Zweck rassenpolitische Ziele waren, mit ,,der SS im Hintergrund" (S. 84). Auch die Sexfantasien eines Heinrich Himmler fehlen nicht, die im Bund Deutscher Mädel heftig umstritten waren, wie Melitta Maschmann beschrieben hat, eine Diskussion, über deren Inhalte bis heute kaum etwas bekannt ist. Mancher Widerspruch bleibt rätselhaft und ist vielleicht der Übersetzung geschuldet. So weiß Kater - wie der Fußnotenapparat unzweideutig zeigt - um das ,,Märchen" vom Lebensborn als SS-Zuchtinstitut. Im Text aber heißt es vom Lebensborn, dass er sich ,,nie ganz zu jener kolportierten Art Zuchtinstitute entwickelte" und wir erfahren nichts über die verbrecherische und unsensationelle Wirklichkeit, für die der Lebensborn vor allem berüchtigt wurde: die Verschleppung sogenannter ,,eindeutschungsfähiger" polnischer und norwegischer Kinder und ihre Vermittlung an deutsche Familien. Was das Buch letztlich nur begrenzt empfehlenswert macht, ist seine mangelnde Beschränkung, die Ungenauigkeit und der unreflektierte Umgang mit subjektiven Quellen. Das ist zugleich die Kehrseite dessen, was seine Stärke ausmacht: der Versuch, den Bogen zu schlagen vom Pimpf zum jungen Soldaten, vom Alltag zum Verbrechen, vom angepassten Jasager zum Widerstandskämpfer. Dass es diese Verbindungen gab, ist unzweifelhaft. Dargestellt werden können sie jedoch nur in ,,dichter Beschreibung" ausgewählter subjektiver Quellen vor dem Hintergrund einer genauen historischen Analyse.

Genau das ist das Anliegen des zweiten, hier zur Sprache kommenden Buches von Waltraud Kannonier-Finster. In seinem Zentrum steht der Lebensweg des jungen Alois Hauser, eines österreichischen Hitlerjungen, der 1943 in die Wehrmacht einrückte und den Kannonier-Finster (gemeinsam mit seiner Familie) über einen Zeitraum von mehreren Jahren interviewt hat. Kannonier-Finster ist Soziologin an der Universität Innsbruck. Sie legt diese Arbeit als soziologische Fallstudie an, mit der sie zeigen will, wie der Nationalsozialismus adoleszente Konflikte aufgriff, wie er an die Machtphantasien Heranwachsender appellierte und wie es ihm gelingen konnte, Jugendliche zu manipulieren und zu kontrollieren. Das Buch beginnt mit einer methodischen Vorbemerkung und wechselt dann ab zwischen sachlichen Einschüben und der Darlegung von Herkunft, Familie und Lebensweg von Alois Hauser, Abschnitte, die jeweils angereichert sind mit langen Interviewpassagen. Kannonier-Finster beginnt mit einer historischen Zeittafel von Österreich vom Ende des Ersten Weltkrieges bis 1988 und beschreibt das regionale Umfeld der Heimat Alois Hubers. Nach einer Klärung der Begriffe von Jugend und Adoleszenz gibt sie einen Kurzabriss der Jugend im Nationalsozialismus und schildert anschließend Alois Hausers Eintritt in die Hitlerjugend. Da die sportliche Arbeit der Hitlerjugend von Alois Hauser als Grund für seinen HJ-Beitritt angegeben wird, fügt Kannonier-Finster dazu eine Sacherklärung ein. Sie beschreibt das Kriegsgeschehen in Jugoslawien und Italien in den letzten Kriegsjahren, bevor sie die dortigen Erfahrungen des jungen Soldaten Alois Hauser schildert, der 1944 in Italien in Gefangenschaft gerät. Kannonier-Finster verfolgt die Lebensgeschichte ihres Interviewpartners bis in die österreichische Nachkriegszeit hinein und fasst ihre Ergebnisse zuletzt zusammen.

Alois Hauser hat seine Mitgliedschaft in der Hitlerjugend nicht als Bruch mit seinem Herkunftsmilieu und dessen Werten, sondern als Aufwertung seiner Position erlebt. Er sah sich im Sinne des nationalsozialistischen Staates als Garanten der Zukunft. Diesen Statusgewinn konnte er als Soldat nicht fortsetzen, weil er erst am Ende des Krieges eingezogen wurde und weil sein Engagement in der Wehrmacht nicht die gleiche Wertschätzung erfuhr wie in der Hitlerjugend. Seine Vorstellung, ,,der Schütze Bumm, der bleibe ich nicht lange" (S. 121) sollte sich nicht erfüllen; er blieb der kleine Gefreite.

Es gibt nur wenige wissenschaftliche Arbeiten und autobiografische Zeugnisse zur österreichischen Hitlerjugend. Das macht das Buch von Kannonier-Finster interessant. Als ,,Jugend ohne Zukunft" hat Johanna Gehmacher die österreichische nationalsozialistische Jugend vor 1938 beschrieben, die mit dem ,,Anschluss" ihre Unabhängigkeit verlor und als Jugend der Ostmark in der deutschen Hitlerjugend aufging. Alois Hauser gehörte nicht dazu. Er wurde erst nach dem Anschluss Mitglied in der Hitlerjugend und hat diese Einbuße organisatorischer Autonomie nie erlebt. Diese spezifisch österreichische Erfahrung wird von Kannonier-Finster aber auch kaum reflektiert. Sowohl die Begriffs- und Sachklärungen wie die Darlegung der historischen Zusammenhänge sind sehr allgemein gehalten. Spannend ist die Lebensgeschichte, aber unzureichend vertieft. Man wüsste gern mehr über die Konflikte zwischen dem konservativen Vater und dessen gegen den väterlichen Willen in der Hitlerjugend organisierten Sohn. War es wirklich nur jugendliches Eigenleben, was Alois Hauser an der nationalsozialistischen Jugend faszinierte oder verband sich damit auch ein grundsätzlich anderes soziales Milieu mit anderen Inhalten? Alois Hauser träumte davon, Farmer in den ehemals deutschen Kolonien in Afrika zu werden. Er war offenkundig neugierig und sehr interessiert an sozialer und kultureller Mobilität. Er war jung, sportlich und aufgeschlossen für das Neue. Warum wurde er kein Führer innerhalb der Hitlerjugend? Ganz offensichtlich trifft es ihn, bei der Wehrmacht der ,,Schütze Bumm geblieben" zu sein, doch gerade in Bezug auf die Wehrmachtszeit bleiben viele Fragen offen. Alois Hauser gerät als Achtzehnjähriger zur Partisanenbekämpfung nach Jugoslawien. Es ist seine erste Kriegserfahrung. Seine Angst, nicht zu wissen, wo der Feind steht, war kein Schwarz-Weiß-Denken, wie Kannonier-Finster zu unterstellen scheint (S. 112), sondern Ausdruck der allgegenwärtigen Bedrohung, wie sie für moderne Kriege typisch ist. Dies hat bei Hauser offenbar einen tiefen Schrecken ausgelöst. Das mag einer der Gründe gewesen sein, warum er sich dem sinnlosen Drill in der Wehrmacht widersetzte und in Kauf nahm, keine Karriere zu machen. Im Gegensatz zu anderen ordnete er sich offenbar nicht unter. Warum nicht? Bis zuletzt bleibt unklar, wofür dieser Lebenslauf steht. Kannonier-Finster konstruiert ihn als Fallbeispiel, aber was repräsentiert er: eine Jugend im Nationalsozialismus, einen österreichischen Hitlerjungen, einen Mitläufer, einen willigen Soldaten? Hier wäre es möglicherweise ergiebig gewesen, die Lebensgeschichte genauer zu verfolgen, bis sich aus ihr überzeugend ergeben hätte, was Kannonier-Finster vor allem intendierte: die Widerspiegelung des jeweils ganz Subjektiven im historisch Allgemeinen und umgekehrt das Allgemeine, das sich bis in die Verästelungen des persönlichen Lebens erstreckt.

Dagmar Reese, Potsdam


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