Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Jürgen Schmidt, Begrenzte Spielräume. Eine Beziehungsgeschichte von Arbeiterschaft und Bürgertum am Beispiel Erfurts 1870-1914 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 165), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005, 432 S., kart./brosch., 49,90 €.
Erfurt, die ,,heimliche Hauptstadt Thüringens" in Preußen, seit 1906 Großstadt, gehört zu den Orten, die - wie Thüringen insgesamt - zwar in der Mitte Deutschlands liegen, aber nicht immer im Mittelpunkt des Forschungsinteresses außerhalb der Region standen. Nach 1873 entfestigt, entwickelte sich der traditionsreiche Ort rasch zu einer Industriestadt, die freilich stets zugleich Verwaltungssitz und Garnisonsstandort blieb. Mit dem topografischen Auswuchern in das Umland ging auch eine räumliche Entdifferenzierung der bis dahin sozial auf engstem Raum durchmischten lokalen Gesellschaft einher. Freilich war die gewerbliche Struktur durch lokale Spezifika bestimmt. Neben der königlich-staatlichen Gewehrfabrik wirkten vor allem das Textil- und Schuhwarengewerbe sowie der Gartenbau (die beiden letzteren von nationaler Bedeutung) prägend - jeweils Branchen, die für die entstehende Arbeiterbewegung ein schwieriges Pflaster waren. In der Gewehrfabrik wurden, wie bei den Einrichtungen der Reichsbahn und in den öffentlichen Verwaltungen, die Organisationsbemühungen systematisch behindert; in Bekleidungsgewerbe und Gartenbau war der Anteil handwerklicher Traditionen ebenso hoch wie der von Frauen und Ungelernten. Zugleich erfolgte das Wachstum der Bevölkerung nicht zuletzt durch den Zuzug aus dem eher agrarischen Umland Thüringens.
Es ist das Verdienst dieser Untersuchung, dass sie diesen dynamischen Prozess in seinen Brüchen und Ambivalenzen differenziert und behutsam analysiert - und zwar gleichgewichtig für Bürgertum und Arbeiterschaft. Mit Hilfe des theoretischen und methodischen Rüstzeugs, das die Forschung für beide Gruppen bzw. Klassen entwickelt hat, werden diese jede für sich sowie in ihrem Beziehungsgefüge untersucht. Dabei beeindruckt die Breite des herangezogenen Quellenmaterials, die von den üblichen politischen Verwaltungsakten über Zeitungen bis zu Wähler- und Steuerlisten, Kirchen- und Adressbüchern reicht. Insbesondere die reflektierte Korrelation der letzteren Quellengruppen zur Analyse von Wahlverhalten, Heiratskreisen und Wohnquartieren stellt einen Gewinn an empirischem Wissen dar, das immer wieder mit anderen Städten verglichen wird. Die ausgedehnten statistischen Teile sind, in ihrer behutsamen und sorgfältigen methodischen Ausgestaltung, nützlich in ihrem Versuch, nach quantitativen Aspekten die Untersuchungsgruppen ,,Bürgertum" und ,,Arbeiterschaft" zu definieren, tragen aber letztlich analytisch nicht sehr weit.
So vorzüglich die Arbeit als sozialhistorische Analyse auch ist, so wird man doch bei der Gesamtinterpretation gewisse Begrenzungen nicht übersehen. Wird für die Arbeiterschaft das ,,Bild von der Einheit in der Vielfalt" entworfen (,,das aber über Brüche innerhalb der Arbeiterschaft nicht hinwegtäuschen" könne), wird für das Bürgertum umgekehrt die Vielfalt in der Einheit behauptet (S. 82). Letzteres wird in Kern-, Mittel- und Randbürgertum gegliedert, die sich nach Einkommen und Lebensführung, politischem Einfluss und ,,Kontaktsystemen", Tätigkeit und Ansehen deutlich unterschieden, ja segregierten (insb. Kap. III.2.). Dies alles wird überzeugend beschrieben, doch überrascht diese These insofern, als gleichzeitig (S. 82) darauf verwiesen wird, dass sich in der Selbstwahrnehmung nicht nur große Teile der Stadtbevölkerung zum Bürgertum rechneten, die nach heutigen Kriterien kaum dazu gerechnet werden können. Denn zugleich wird deutlich, dass eben an dieser Selbstwahrnehmungsgrenze auch die Grenze bei den Heiratskreisen und der sozialen Mobilität (dafür überzeugend S. 251-258 zur Bedeutung der Schule), bei den politischen Optionen, den sozialen und kulturellen Kontakten recht scharf gezogen war. Umgekehrt zeigt sich, dass die ,,Einheit in der Vielfalt" für die Arbeiterschaft nur bedingt galt, wie die Grenzen der Mobilisierung für Gewerkschaft und SPD, der Drang in den Subalternstatus des öffentlichen Dienstes oder in die Gewehrfabrik, der Erfolg des Evangelischen Arbeitervereins (S. 227-242) oder der hohe Anteil von Arbeitern in den bürgerlichen Vereinen zeigen, der zwar relativ sank, sich aber absolut verdoppelte (S. 127, 150, 186). Zwar stieg auch in Erfurt die SPD am Vorabend des Weltkrieges zur stärksten Partei auf, zur Abstimmung gestellt, war sie aber mit diesen Erfolgen offenkundig an ihre Mobilisierungsgrenzen gestoßen. So scharf in den Reichstagswahlen ,,unterschiedliche Gesellschaftsentwürfe" in ,,grundsätzlicher Konfrontation" (S. 239 f.) gegeneinander gestellt wurden, so entzog doch die Aufstiegsorientierung weite Teile der Arbeiterschaft dem Zugriff der Partei, während die Abstiegsängste bzw. -erfahrungen im Randbürgertum dieses nur fester an das bürgerliche ,,Lager" fesselten. Letzteres konstituierte sich nicht nur als politische ,,Einheit" (S. 280 f., 288, 299-303, 384), sondern vor allem auch als eine ,,kulturelle"; das Bürgertum vermochte seine Anhänger in deutlich höherem Grade zu mobilisieren - und das nicht nur dank des Dreiklassenwahlrechts, das dem Kernbürgertum seine beherrschende Stellung garantierte.
Die ,,Kultur" spielt in dieser Studie nur eine nachgeordnete Rolle, am ehesten noch gemäß einem organisationsorientierten Kulturbegriff (,,Kulturwelten", S. 349-376) in der Bedeutung von Schule, Hoch- und Festkultur, kaum aber in der von Weltdeutungen und Wertemustern. Hier zeigen sich die Grenzen des sozialhistorischen Ansatzes, der in der Analyse der ,,objektiven Lage" mehr beschreibt als er in der ,,subjektiven Option" (des ,,falschen Bewusstseins") zu erklären vermag. Der Versuch, das Ganze wiederum eher organisationsorientiert über ,,Kommunikation" und ,,Kontakte" in eine Relation zu bringen, kann nicht wirklich überzeugen, da die inhaltliche Auffüllung weitestgehend unterbleibt, so dass auch die Frage nach der ,,Verbürgerlichung" von Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung letztlich offen bleibt.
Hier vermag ein kulturwissenschaftlicher Ansatz etwas weiter zu tragen, den die 2003 veröffentlichte Untersuchung von Steffen Raßloff ,,Flucht in die nationale Volksgemeinschaft. Das Erfurter Bürgertum zwischen Kaiserreich und NS-Diktatur" bietet, die Schmidt in seiner Studie allerdings fast systematisch ausblendet. Wenngleich der Schwerpunkt auf Bürgertum und Weimarer Republik liegt, so kann Raßloff doch für das Kaiserreich zeigen (insb. S. 77-136), dass und in welchem Maße sich die ,,kulturellen" Diskurse auf nationaler (und gar europäischer) Ebene in der ideologischen Programmatik wie der alltäglichen Sprechweise des lokalen Bürgertums spiegelten, dessen Einheit oberhalb der zersplitterten Interessen konstituierte, sein Handeln prägte - und offenbar auch seine Attraktivität für die perhorreszierte Arbeiterklasse entfalten konnte.
Gunther Mai, Erfurt