ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Moritz Föllmer/Rüdiger Graf (Hrsg.), Die ,,Krise" der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Campus Verlag, Frankfurt/M. etc. 2005, 368 S., kart., 39,90 €.

Der von Moritz Föllmer und Rüdiger Graf herausgegebene Tagungsband unternimmt den Versuch, eines der einflussreichsten historiografischen Deutungsmuster zur Geschichte der Weimarer Republik - das in Detlev Peukerts Analyse der ,,Krisenjahre der klassischen Moderne" kulminierende Krisenparadigma - einer Überprüfung, Relativierung und Verschiebung zu unterziehen. Geleistet werden soll dies über die Analyse verschiedener zeitgenössischer Krisenerfahrungen und Krisendiskurse.

Gemeinsam ist den Aufsätzen des Bandes der Versuch, die kulturellen Dimensionen der Krise der Weimarer Republik stärker zu akzentuieren und insbesondere ihre diskursive und praktische ,,Kultivierung" in die Analyse einzubeziehen, um so einen in der Forschung vielfach unreflektiert verwendeten essentialistischen Krisenbegriff zu vermeiden. Auf diese Weise wird der Schwerpunkt auf jene narrativen Strukturen und sozialen Praktiken gelegt, in denen sich Krisen sowohl in ihren diagnostischen als auch prognostischen Elementen realisieren, d.h. eine als entscheidungsbedürftig begriffene Gegenwart mit einer gestaltungsoffenen Zukunft in Beziehung setzen. Den verschiedenen Beiträgen gelingt es in hervorragender Weise, diese Perspektive auszugestalten und zu präzisieren, so dass insgesamt der übergreifenden Fragestellung in einer Konsequenz und Komplexität nachgegangen wird, die Sammelbänden nur selten eignet.

Michael Makropoulos analysiert in seinem literatur- und philosophiegeschichtlichen Aufsatz die Kategorien Krise und Kontingenz hinsichtlich ihrer Funktion im ,,Modernitätsdiskurs der Klassischen Moderne". Diese identifiziert er wesentlich in einer Verfügbarmachung politischer, sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Wirklichkeiten. Kennzeichen dieser Entwicklung seien die Entgrenzung des Wirklichkeitshorizonts und die zunehmenden Schwierigkeiten, zukünftige Möglichkeiten aus gegenwärtigen Wirklichkeiten ableiten zu können. ,,Schließlich hatte der Verlauf des Krieges zur Gewissheit geführt, dass auch das ganz und gar unvorstellbare Wirklichkeit und seither einfach nichts mehr ausgeschlossen werden konnte." (S. 48) Rüdiger Graf geht der bereits angedeuteten Gestaltungsdimension der Krisensemantik im ,,intellektuellen Zukunftsdiskurs der Weimarer Republik" nach. Er arbeitet heraus, wie zeitgenössische Krisendiskurse als Form der ,,Zukunftsaneignung" funktionierten. ,,Krisenbewusstsein [war] das Bewusstsein, sich in einer offenen und existentiellen Entscheidungssituation zu befinden, die bald zu Ende gehen werde und deren Ausgang man durch die eigenen Publikationen und Handlungen zumindest partiell beeinflussen könne." (S. 83) Krisen waren eben auch Zeiten des Übergangs und der Neuschöpfung, der Ermöglichung neuer Ordnung aus dem Geist des Untergangs der alten. Per Leo hebt in seinen Überlegungen zum deutschen Verbandsfußball die enge Kopplung von Krisendiskurs und Dezisionismus heraus. Die schwindende internationale Konkurrenzfähigkeit des deutschen Fußballs, als deren Ursache innerdeutsches Konkurrenzdenken ausgemacht wurde, evozierte in verschiedenen Varianten ein wiederkehrendes Bild: ,,einen grundsätzlich kräftigen, aber gelähmten Körper", dessen ,,Lähmung" nur durch ,,entschlossenes Handeln" zu überwinden sei. Florentine Fritzens Beitrag zum Verhältnis von Reformbewegungen und Moderne zeigt, wie sich mit dem Konzept ,,neuzeitlich leben" eine wichtige Strategie in Umgang mit der Moderne herausbildete, die auch in der Wahrnehmung diverser Lebensreformer als krisenhaft erschien. Reformhauswaren zu kaufen, konnte in diesem Kontext als existentieller Akt im Dienst der Erneuerung einer krisengeschüttelten Gesellschaft und eines ,,siechen Volkskörpers" verstanden werden. Auch in der Reformhausbewegung zeigt sich eine typische Ambivalenz im Verhältnis zur Moderne: Ihre Verwerfungen sollten überwunden werden, indem gerade jene Möglichkeiten wahrgenommen und jene Mittel genutzt wurden, die die Moderne selbst bereitstellte. ,,Dass für die ,Neuzeitlichen' nicht nur die Krise, sondern auch schon ihre Überwindung in der realen und gegenwärtigen Welt existent war, weist über das schlichte Krisenbewusstsein, über die rein kulturkritische Diagnose [...] kulturpessimistischer Gruppen hinaus." (S. 173) Sebastian Ullrich geht in seinen Überlegungen zum Namensstreit der ersten deutschen Demokratie der Frage nach der Funktion, Stabilität, Erosion und Transformation (integrierender) politischer Symbole nach. Dass der Name des Staates nach dem Ersten Weltkrieg verfügbar wurde, verweist auf eine Situation, in der die politische Ordnung keine Selbstverständlichkeit mehr besaß, sondern die Möglichkeit ihrer aktiven Gestaltung und Neuordnung bestand. Christiane Reinecke nimmt in den Blick, wie demografische ,,Krisenkalkulationen" und der Aufstieg statistischer Expertisen sich im Kontext weitreichender Verwissenschaftlichungsprozesse wechselseitig bedingten und stützten. Insbesondere die Strategie von Bevölkerungswissenschaftlern, ,,Verkünder einer Krise zu sein, die sie selbst anhand statistischer Daten definierten und zu deren Abwendung sie politische Maßnahmen vorschlugen", lässt sich als Versuch verstehen, als Experten im Sozialstaat Einfluss zu gewinnen. Dabei wurde das traditionelle Übervölkerungsmodell zunehmend durch ein Untervölkerungsszenario ergänzt und überlagert. Vielfach wurde beides aber auch gekoppelt - temporäre, gegenwärtige Übervölkerung bei zukünftig drohender Untervölkerung. Dies funktionierte im ,,Gestus der Überbietung der einen durch die andere Krisenbeschreibung". Gideon Reuveni beschäftigt sich mit Techniken der Invisibilisierung des Krisengefühls, indem er mit Straßenhandel und Versicherungszeitschriften zwei Praktiken untersucht, die wesentlich dazu beitrugen, ein Gefühl von ,,business as usual" zu schaffen. Von dort aus diagnostiziert er eine ,,Selbsthilfegesellschaft" als ,,gesellschaftliche [...] Organisationsform auf freiwilliger Basis, die vorwiegend aus der Ineffizienz und Ohnmacht staatlicher Organe resultierte und neue beziehungsweise besser funktionierende Dienstleistungen schuf" (S. 283f.). Mit dem Individuum rückt Moritz Föllmer einen der klassischen ,,Krisenkandidaten" in den Fokus. Das Individuum in der Krise war freilich überwiegend ein männliches. Weibliche Individualität, die ,,Suche nach dem eigenen Leben", verwies dagegen nicht nur auf Krisen- und Verfallsszenarien, sondern ließ unterschiedliche Entwicklungsmöglichkeiten, Strategien und Praktiken hervortreten, in denen junge Frauen durchaus selbstbewusst, zugleich pragmatisch und kompromissbereit, Spielräume individueller (weiblicher) Lebensführung ausloteten und erweiterten. Michael Mackenzies Aufsatz ist schließlich dem (künstlerischen) Diskurs um ,,Maschinenmenschen", ,,Athleten" und die ,,Krise des Körpers" gewidmet. Er weist auf eine diskursive Kopplung hin, die die Charakterzüge des Boxers, Athleten und Ingenieurs mit bestimmten politischen Eigenschaften verband und damit einen Menschentypus zu etablieren trachtete, der besser für die neue, feindliche Umwelt hochtechnisierter Gesellschaften der Moderne qualifiziert sei, als die mit traditionellen Tugenden ausgestatteten bürgerlichen Politiker. Der athletische Maschinenmensch schien als einziger die notwendigen Anpassungsleistungen moderner, städtischer Existenz ohne größere Probleme bewältigen zu können. Der ,,Angst vor der Verwundbarkeit des Körpers" wurde so in unterschiedlichsten Diskursen ,,das positive Bild eines mechanisierten Körpers" entgegengesetzt. (S. 327)

Die große Stärke des Bandes besteht darin, wesentlichen kulturgeschichtlichen Dimensionen der Weimarer Republik durch eine überzeugend gewählte und entwickelte Problemstellung näher zu kommen. Die Problematisierung gängiger Krisennarrationen bietet die Möglichkeit, die Narrations-, Konstruktions- und Funktionsprinzipien historiografischer Texte erneut in den Blick zu nehmen. Freilich führt die Art der Kritik an gängigen historiografischen Narrationen, wie sie in einzelnen Beiträgen vorgenommen wird, gleichzeitig zu einer theoretisch-konzeptionellen Schwierigkeit, die nicht gelöst wird. Auch wenn es stimmt - und vieles spricht dafür -, dass verschiedene Analysen der Weimarer Republik von einer mehr oder weniger naiven und kritiklosen Übernahme der Perspektive der Zeitgenossen geprägt seien; wenn das, was als ,,Krise der Weimarer Republik" vielfach die Narrationen der Historiker prägt, zumindest in gewichtigen Teilen aus einer Verwechslung ,,objektiver" Situation und ,,subjektiver" Deutung resultiere; wenn ein virulentes Wuchern der Krisendiskurse in der deutschen Zwischenkriegszeit eben noch nicht automatisch bedeute, dass diese auch ,,wirklich" eine Krisenzeit war, so heißt dies noch lange nicht - wie im Band suggeriert wird -, dass eine entschiedene Trennung von Krisenwahrnehmung und Krise dieses Problem löst. Eine Position, die sich gegen eine ,,Vermischung" realer und diskursiver Krisen ausspricht, kann nur auf Basis eines unreflektierten Diskursbegriffes funktionieren. Der Band spiegelt damit leider eine in der Geschichtswissenschaft der letzten Jahre unübersehbare Tendenz wider, den Diskursbegriff inflationär, unbestimmt und zu wenig reflektiert einzusetzen und verbaut sich damit die Möglichkeit, dessen analytische Potenziale produktiv zu nutzen. Die untersuchten Krisendiskurse werden eben nicht, wie es wünschenswert wäre, in ihrer Materialität und ihren realitätskonstituierenden Effekten untersucht, sondern als bloßes Reden über Krisen, das in zugespitzter Fassung lediglich nicht-krisenhafte Entwicklungen ,,verhülle". Lässt sich aber überhaupt - und wenn ja, wie? - zwischen der Realität bzw. Materialität ,,diskursiver" und ,,realer" Krisen unterscheiden? Sind diese nicht ebenso ,,diskursiv" wie jene ,,real"? Gerade solche Fragen hätten in einem Band mit der oben dargelegten Konzeption gestellt und beantwortet werden müssen.

Timo Luks, Oldenburg


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