ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hamburg im ,,Dritten Reich". Herausgegeben von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, Wallstein, Göttingen 2005, 704 S., geb., 29,90 €.

Resümiert man die Stadt- und Regionalgeschichtsschreibung über die Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft, lassen sich fünf Schwerpunkte erkennen. Erstens: Ältere Forschungen unter dem Rubrum ,,Widerstand und Verfolgung" kreisten vornehmlich um den Widerstand der Arbeiterbewegung und um die kirchliche Opposition gegen den Nationalsozialismus, wohingegen Zustimmung und Anpassung an das Regime aus der Arbeiterschaft und der Kirchen weniger beleuchtet wurden. Als zweiter Forschungsschwerpunkt kann die Verfolgung der Juden sowie der Kriegsgefangenen und Fremdarbeiter und in geringerem Maße der übrigen rassistisch und als ,,gemeinschaftsfremd" Stigmatisierten gelten. Sozial- und wirtschafts-, aber auch alltags- und mentalitätsgeschichtliche Untersuchungen haben sich drittens vergleichsweise intensiv den industrial relations in den Großbetrieben und der männlichen Arbeiterschaft, Dorfstudien auch der bäuerlichen Bevölkerung zugewandt, während es an lokalhistorischen Untersuchungen zum Bürgertum und den Mittelschichten zwischen 1933 und 1945 noch mangelt. Manche ältere und einige neuere, oft in Reaktion auf Jörg Friedrichs Buch ,,Der Brand" entstandene Texte thematisieren viertens den Bombenkrieg und die Zusammenbruchsgesellschaft der letzten Kriegsjahre. Sieht man - das wäre der fünfte Punkt - von der Darstellung der nationalsozialistischen Machtübernahme in den Kommunen ab, sind die Rolle der NSDAP und ihrer Formationen nach 1933 stadt- und regionalhistorisch ebenso wenig zureichend untersucht wie die eigentliche Kommunalpolitik in der Vorkriegs- oder gar in der Kriegsphase des Regimes. Erst in jüngster Zeit richtet sich hier der Blick verstärkt auf das Agieren der kommunalen Einrichtungen sowie auch der staatlichen und nichtstaatlichen Institutionen auf regionaler und lokaler Ebene. Wichtige Fallstudien liegen hier nicht zuletzt zu den repressiven Staatsapparaten, etwa zur NS-Justiz, zu Gestapo und Kripo, vor. Explizit oder implizit lauten die Grundfragen dieser neueren Studien: Wie sind Bevölkerung und Institutionen mit ihren auch unter der NS-Diktatur nicht zu leugnenden, im einzelnen jedoch sehr unterschiedlichen Handlungsspielräumen umgegangen? Kann dabei von einer schlichten Bipolarität ,,nationalsozialistische Herrschaft versus Gesellschaft" die Rede sein, oder ging es nicht vielfach um komplexe und sich im Laufe der Zeit auch verschiebende politische Frontverläufe, um Allianzen zwischen gesellschaftlichen Teilgruppen und den verschiedenen, durchaus nicht monolithisch agierenden Sektoren des Herrschaftsapparates sowie um die Gleichzeitigkeit und gegenseitige Überblendung von Konsens- und Dissenselementen?

Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen erscheint eine gesellschaftshistorische Untersuchung einer Region oder Stadt zwischen 1933 und 1945, die Politik, Wirtschaft, soziale Lagen und Mentalitäten verknüpft, als überaus anspruchsvolles Unterfangen. Die umfangreiche Studie über Hamburg im ,,Dritten Reich", vorgelegt von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, ist das bisher einzige Werk, das diesen Anspruch einer integrierten Gesellschaftsgeschichte für die lokale Ebene weitgehend erfüllt. Dieses sorgfältig komponierte und edierte Buch bildet auch insofern einen Maßstab für die einschlägige Forschung, als es gerade nicht durch jene bisweilen als historiografischer Autismus zu charakterisierende Selbstbezogenheit gekennzeichnet ist, die so manche Lokalstudie für Ortsfremde unlesbar macht. ,,Hamburg im `Dritten Reich'" gibt, ganz im Gegenteil, anderenorts Forschenden überaus wichtige inhaltliche und methodische Impulse. Diese mit Einleitung und Schlussbetrachtung zwanzig Texte umfassende Studie zeichnet sich durch systematische Fragestellungen, durch eine überzeugende Gliederung und eine wohlbegründete Themenauswahl, durch eine auch für Nichtspezialisten nachvollziehbare Darstellungsweise, durch präzise, optisch herausgehobene Zusammenfassungen und durch eine Argumentation aus, die sich fast immer auf der Höhe des Forschungsstandes bewegt. Kurz: Dieses Buch ist in meinen Augen mit Abstand die beste lokal- und regionalhistorische Überblicksdarstellung für die Jahre 1933 bis 1945 und ein Muss für alle einschlägig Forschenden. Die beteiligten Autorinnen und Autoren sind: Frank Bajohr, Ursula Büttner, Karl Christian Führer, Detlef Garbe, Rainer Hering, Friederike Littmann, Uwe Lohalm, Rainer Nicolaysen, Axel Schildt, Uwe Schmidt, Joachim Szodrzynski, Paul Weidemann und Klaus Weinhauer.

Das Buch umfasst sieben Kapitel. Sie umschließen die Themenfelder Machtübernahme, Herrschaft und Verwaltung, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur, Sozial- und Gesundheitspolitik, Terror und Verfolgung sowie Auflösung der ,,Volksgemeinschaft". Hinzu kommen eine Einleitung von Axel Schildt, die nicht nur in Forschungsstand und Fragestellungen des Buches einführt, sondern auch das Hamburg der Jahre 1933 bis 1945 mit im Sinne einer kritischen Historisierung mit der Stadtgeschichte der vorhergehenden Jahrzehnte verknüpft, und eine ebenso konzise Schlussbetrachtung durch Frank Bajohr, der die Destruktivität der nationalsozialistischen ,,Meister der Zerstörung", ihre am Grundsatz von Inklusion und Exklusion orientierte Gesellschaftspolitik und die beunruhigend breite Zustimmung der Bevölkerung zu ,,Führer" und Partei hervorhebt.

Im Einzelnen widmen sich die Aufsätze zunächst dem Weg der örtlichen NSDAP von der Splittergruppe zur Massenbewegung, den Grundzügen der nationalsozialistischen ,,Zustimmungsdiktatur" (Frank Bajohr) in der Hansestadt, der spezifischen Verschränkung von Stadtstaat, Kommune und NSDAP im ,,Reichsgau Hamburg" und dem öffentlichen Dienst als Garanten der NS-Herrschaft, dann der rüstungswirtschaftlichen Durchdringung der anfangs stark an der nationalsozialistischen Autarkiepolitik leidenden Handelsstadt sowie der Zwangsarbeit unter den Bedingungen der Kriegswirtschaft. Im Themenbereich ,,Gesellschaft und Kultur" geht es um den Alltag der Hamburger in den Vorkriegs- und Kriegsjahren sowie um das Schulwesen, die Universität und die Kirchen, im nächsten Themenblock am Beispiel der Erwerbslosen- und Familienpolitik, der Soldatenfürsorge und der Krankenpolitik um die zwischen ,,Volksgenossen" und ,,Gemeinschaftsfremden" scheidende Sozial- und Gesundheitspolitik, außerdem um den propagandistisch herausgehobenen, faktisch aber kaum zu Buche schlagenden Wohnungsbau nach 1933. Die Aufsätze des Kapitels ,,Terror und Verfolgung" befassen sich mit der Verfolgung der Juden, mit den Bemühungen des politischen Widerstandes und mit seiner Unterdrückung sowie mit dem Exil von hamburgischen Bürgern. Im abschließenden Kapitel geht es um das Bombeninferno der ,,Aktion Gomorrha" im Sommer 1943 und um den Zerfall der Stadtgesellschaft zwischen Stalingrad und Kriegsende.

Gemessen an diesem souverän dargestellten Gesamtpanorama, wiegen die Mängel des Buches gering. Sie liegen in einer nicht immer überzeugenden Bildauswahl und -kommentierung, einer Redaktion, die manche überflüssige Überschneidung zwischen den Aufsätzen und diesen oder jenen sprachlichen Lapsus (,,Euthanasiegeschehen") hat durchgehen lassen, und einer vielleicht zu geringen Berücksichtigung des in der historischen Forschung intensiv erörterten Generationenaspektes und der Geschlechtergeschichte. Bei einzelnen Texten hätte man sich eine Ausweitung der Fragestellung gewünscht - so legt die Darstellung der hamburgischen Universität nur geringen Wert auf die Geschichte der Hochschulforschung zwischen 1933 und 1945. Außerdem hätte dem Buch ein eigenständiger Text über die Beteiligung von hamburgischen Unternehmen, Institutionen und Personen an Rassenimperialismus und Kriegsführung in West- und Osteuropa gut zu Gesicht gestanden. Es ergibt nämlich ein verzerrtes Bild, wenn das Tun von Hamburgern außerhalb der Stadt zwischen 1933 und 1945 auf das - ohne Zweifel wichtige - politische Exil von Regimegegnern reduziert wird.

Aus der anregenden Vielfalt der wissenschaftlichen Ergebnisse seien vier hervorgehoben. Erstens: Das Bild Hamburgs vor 1933 als Hort freiheitlicher Traditionen, einer weltoffenen liberalen Kaufmannschaft und einer Sozialdemokratie, die für ihre Reformprojekte nicht ganz ohne Erfolg das Bündnis mit dieser Kaufmannschaft suchte, bedarf insofern einer gewissen Relativierung, als die Hansestadt seit dem Kaiserreich auch eine Hochburg völkischer und antisemitischer Gruppierungen bildete. Dass dies der Fall war, hing nicht zuletzt mit der gegenseitigen Abschottung der politisch-moralischen Milieus in dieser wie in anderen Großstädten zusammen. Zweitens: Mutmaßungen über eine infolge der liberalen hanseatischen Traditionen eher zurückhaltende NS-Diktatur in Hamburg entbehren derzeit angesichts fehlender Vergleichsuntersuchungen ebenso der empirischen Fundierung wie die schlichte Umkehrung dieser Behauptung, die ihrerseits die Selbststilisierung der hamburgischen NSDAP polemisch aufgreift und die Hansestadt zum nationalsozialistischen ,,Mustergau" erklärt. Spezifische Beiträge Hamburgs, die der politischen Radikalisierung des Regimes sowie seiner destruktiven Leistungsfähigkeit in der letzten Kriegsphase Nahrung gaben, lassen sich am ehesten in der Sozialpolitik und im Zurückgreifen auf die Großbetriebe als Hauptorganisatoren des Wiederaufbaus nach der ,,Aktion Gomorrha" erkennen. In anderen Politikfeldern ist eine Vorreiterrolle Hamburgs hingegen nicht auszumachen. Drittens: Für eine moderne Metropole, die Hamburg zwischen 1933 und 1945 ja war, würde der Versuch, eine durchschnittliche Mentalität und Verhaltensweise der urbanen Bevölkerung zu konstruieren, in die Irre führen. Notwendig ist vielmehr der genaue Blick auf die Differenziertheit sozialer Lagen und Lebenswelten, die zwar ein komplexes Gesamtbild, aber eben keinen Durchschnitt ergeben. Die Nationalsozialisten erreichten, viertens, 1933 in Hamburg nicht einmal gemeinsam mit den Deutschnationalen die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen, gleichwohl fußte die nationalsozialistische Herrschaft bald auch in dieser Stadt auf breiter Zustimmung, die sich erst infolge der Niederlagen und Misserfolgen des Regimes während der letzten Kriegsjahre aufzehrte.

Michael Zimmermann, Essen


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | März 2006