ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Mark Edward Ruff, The Wayward Flock. Catholic Youth in Postwar West Germany, 1945-1965, University of North Carolina Press, Chapel Hill/London 2005, 288 S., geb., $ 49.95.

Nicht nur Erich Honecker, der erste Vorsitzende der Freien Deutschen Jugend, wusste, dass der Kampf um die politische Zukunft Deutschlands auch ein Kampf um die deutsche Nachkriegsjugend war. Deren Interesse, das belegen zeitgenössische amerikanische Untersuchungen, galt aber weniger dem politischen Geschehen als vielmehr den neuen Konsumgütern und Freizeitmöglichkeiten, die im Gefolge der britischen und amerikanischen Besatzungstruppen im Westen des Landes Einzug hielten. Die vorliegende Studie, hervorgegangen aus einer geschichtswissenschaftlichen Dissertation bei Volker Berghahn, damals noch an der Brown University (Providence), untersucht die Schwierigkeiten, mit denen die Katholische Kirche im Westdeutschland der Nachkriegszeit zu kämpfen hatte bei ihren Versuchen, an die Blüte der katholischen Jugendbewegung der 1920er- und 1930er-Jahre anzuknüpfen. Warum, so fragt Ruff, erodierte das katholische Milieu gerade in jenen zwanzig Jahren zwischen 1945 und 1965, in denen der Katholizismus andererseits in Westdeutschland einen bis dahin unerreichten politischen Einfluss entfalten konnte?

Ruff zeigt zunächst, wie die Kirche in der unmittelbaren Nachkriegszeit an die Formen der katholischen Jugendbewegung aus der Zwischenkriegszeit anzuschließen versuchte, ohne jedoch die differenzierte Verbändevielfalt früherer Jahre wieder auferstehen lassen zu wollen. Stattdessen zielten der deutsche Episkopat und insbesondere der Leiter der Bischöflichen Hauptarbeitsstelle für Jugendseelsorge, Ludwig Wolker, auf die Vereinheitlichung der katholischen Jugendverbände, die schließlich 1947 im Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) zusammengeführt wurden. Ziel der kirchlichen Stellen war die Reorganisation der katholischen Jugendarbeit gemäß den Leitlinien der ,Katholischen Aktion', d.h. nach den sogenannten ,Naturständen' (Mädchen, Jungen, Frauenjugend, Junge Mannschaft) einerseits sowie den kirchlichen Bezirkseinheiten (Gemeinde, Dekanat, Diözese) andererseits. In ihrem bündischen Auftreten - der teilweise uniform wirkenden Kleidung, dem gemeinschaftlichen Singen, Wandern und Fahnentragen - erinnerten die damaligen Pfarrjugendgruppen einige Beobachter, wie Ruff anhand zeitgenössischen Materials belegen kann, an das Erscheinungsbild der Hitler-Jugend, was nicht nur politisch bedenklich erschien, sondern zunehmend als rückwärts gewandt und antiquiert wahrgenommen wurde, nicht zuletzt auch von den Mitgliedern dieser Gruppen selbst. Statt Fahrten und Lagerfeuer bildeten in den fünfziger Jahren zunehmend Sport, Tanz und Kino die Anziehungspunkte für katholische Jugendliche - wie auch für ihre Altersgenossen aus anderen sozialmoralischen Milieus. Ende der 1950er-Jahre öffnete sich schließlich auch die katholische Jugendarbeit, wenngleich zögerlich, den neuen Angeboten: Ein Foto von 1965 zeigt katholische Teenager, die die ,Klampfe' gegen ihre erste E-Gitarre eingetauscht haben.

Dass diese Transformationsprozesse nach Geschlecht, Region und sozialer Schichtenzugehörigkeit unterschiedlich verliefen, zeigt Ruff in den folgenden Kapiteln seiner konzisen, in ihrer Verbindung von Sozial- und Kulturgeschichte methodisch überzeugenden Arbeit. Länger als in den Gruppen der männlichen Jugend konnten sich in den Mädchengruppen die tradierten Inhalte und Gemeinschaftsformen halten, die mit der Förderung traditioneller Frömmigkeit und Marienverehrung durch Pius XII. in den 1950er-Jahren eine starke institutionelle Unterstützung erfuhren. Reformerinnen hatten es hier doppelt schwer, Gehör zu finden, waren weibliche Vertreterinnen im BDKJ doch deutlich unterrepräsentiert und ihre Gruppen in der Geldvergabe benachteiligt.

Innerkirchliche Probleme ergaben sich jedoch auch bei den Versuchen männlicher Aktivisten, mit neuen, zum Teil aus dem Ausland übernommenen Organisationsmodellen frischen Wind in die ,Vereinsmeierei' des traditionellen Verbandskatholizismus zu bringen. Am Beispiel der Erzdiözese Köln zeigt Ruff, mit welchen Schwierigkeiten die am Modell der belgischen Jeunesse ouvrière chrétienne von Joseph Cardijn orientierte, 1947 in Essen gegründete Christliche Arbeiterjugend (CAJ) dabei von Seiten der traditionellen Verbände (Kolping, Katholische Arbeiterbewegung) zu kämpfen hatte. Die hohen Ansprüche der CAJ-Gründer an das weltanschauliche und aktive Engagement ihrer Mitglieder ließen sich jedoch in einer Zeit zunehmender Konsumorientierung und Entideologisierung der Jugend kaum aufrechterhalten. Der Kolpingverband, in dem die Pflege familiärer und zünftiger Geselligkeit eine weitaus größere Rolle spielte, erschien daher für viele Jugendliche interessanter. Gleichwohl war es durchaus möglich, traditionelle Verbandsarbeit mit modernisierenden Elementen zu verbinden, zumindest dort, wo das traditionelle katholische Milieu durch Modernisierung und Industrialisierung noch nicht allzu sehr in Mitleidenschaft gezogen worden war, wie Ruff am Beispiel der Katholischen Landjugendbewegung (KLJB) in der vornehmlich agrarisch strukturierten Diözese Würzburg im Vergleich zur Kölner Erzdiözese zeigen kann.

Schließlich ist ein Teil der anregenden Studie einem lange Zeit vernachlässigten Kapitel der Katholizismusforschung gewidmet: der Deutschen Jugendkraft (DJK), dem Verband der katholischen Sportjugend. Gerade an diesem Beispiel gelingt es Ruff zu zeigen, dass hinter vordergründigen Organisationsfragen - etwa der Beteiligung katholischer Sportvereine an Veranstaltungen des Deutschen Sportbundes (DSB) - weitreichende Probleme der Integration katholischer Bevölkerungskreise in die junge, zunehmend entsegmentarisierte Gesellschaft der Bundesrepublik verhandelt wurden. Ähnlich wie auf den Feldern von Parteipolitik und Gewerkschaftsarbeit haben sich auch im Bereich des Jugendsports schließlich die Vertreter der interkonfessionellen Öffnung gegenüber den Integralisten im eigenen Lager durchgesetzt. Ludwig Wolker, die graue Eminenz im BDKJ, spielte zugleich eine wichtige Rolle beim Zustandekommen des überkonfessionellen DSB.

Letztlich trug aber gerade diese Öffnung hin zur Mehrheitskultur der jungen bundesrepublikanischen Gesellschaft, in der Katholiken im Vergleich zum Kaiserreich und zur Weimarer Republik erstmals ihren Minderheitenstatus überwinden konnten, zugleich zur Erosion des Milieus und zur viel beklagten Verbandsmüdigkeit im Katholizismus bei. Mit der Integration der Katholiken in das politisch-soziale System der Bundesrepublik erschien die Pflege distinkter konfessioneller Identitäten und Praktiken zunehmend als überholt und unzeitgemäß. Die katholische Kirche reagierte hierauf zu spät: Sie veranstaltete Beatmessen, als Jugendliche andernorts schon längst in die Disco gingen.

Mark Ruff ist eine überzeugende Darstellung der katholischen Jugendbewegung, ihrer Probleme und Transformationen in Westdeutschland nach 1945 gelungen. In knapper Form präsentiert er ein differenziertes Bild der katholischen Verbandslandschaft während der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte, das zahlreiche Anknüpfungspunkte an die bestehende und noch mehr Anregungen für die zukünftige Forschung enthält.

Klaus Große Kracht, Potsdam


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