Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Manfred Gailus/Hartmut Lehmann (Hrsg.), Nationalprotestantische Mentalitäten (1870-1970). Konturen, Entwicklungslinien und Umbrüche eines Weltbildes, (Veröffentlichung des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 214), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005, geb., 472 S., 66,00 €.
Auf eindrucksvolle Weise bestätigt der von zwei konzeptionell und hinsichtlich ihrer Forschungsausrichtung verschiedenen, gleichwohl ausgewiesenen Spezialisten protestantischer Kirchengeschichte der neuesten Zeit herausgegebene Tagungsband zum Thema der nationalprotestantischen Mentalitäten, dass mit Blick auf die an Fragen der Kirchen- und Theologiegeschichte interessierte Geschichtswissenschaft durchaus nicht von einer ,,Wiederkehr der Götter" - so der Titel einer Aufsatzsammlung von Friedrich Wilhelm Graf aus dem Jahr 2004 - die Rede sein kann, sondern vielmehr von Kontinuität. Das ehrgeizige Projekt, ,,Konturen, Entwicklungslinien und Umbrüche der nationalprotestantischen Mentalitäten in Deutschland in den hundert Jahren zwischen der Reichsgründung und der Zeit um 1970" analysieren zu wollen, zeigt deutlich, dass den makrotheoretisch-modernisierungshistorisch formierten sozialhistorischen Perspektiven von Hans-Ulrich Wehlers Gesellschaftsgeschichte mit ihrer Tendenz zur Reduktion des Religiösen auf Macht, Machination und Modernisierungsresistenz jedenfalls das Verdienst zukommt, das Nachdenken über Religion in der Moderne auf neue Weise stimuliert zu haben. Mit dem vorliegenden Sammelband wird ein beachtliches Niveau dichter Interpretation des deutschen Nationalprotestantismus auf der Grundlage eines exemplarisch breiten sozial-, mentalitäts- und theologiegeschichtlichen Tableaus erreicht, das einen neuen Standard der Nationalismus- und Kirchengeschichte definiert.
Die Kontinuitäten und Diskontinuitäten im nationalprotestantischen Denken zwischen Reichsgründung und dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts werden in vier Perspektiven in den Blick genommen. Ein erster Abschnitt behandelt die politischen Emphasen und Sinnkrisen von 1870/71, 1914, 1918/19 und 1944/45 als imaginierte Wendepunkte des deutschen Protestantismus und protestantisch-deutscher Identität. Im zweiten Abschnitt geht es um protestantische Mentalitäten und Diskurse, Leitbilder und Leitbegriffe in ihrer Variation und Variabilität vom nationsbildenden Kriegsprotestantismus bis zu den Vorstellungen einer völkisch-evangelischen Nutzung des neuen Mediums Radio. Der dritte Teil präsentiert und kontextualisiert u.a. protestantische Lebensläufe von einflussreichen Theologendynastien, evangelischen Nationalsozialisten sowie von verschiedenen Gegnern insbesondere der nationalsozialistischen Rassenpolitik im kirchlichen Milieu. Der vierte Abschnitt thematisiert die Frage von Kontinuität und Diskontinuität nationalprotestantischen Denkens aus der kirchlich-zeitgeschichtlichen Perspektive der Entwicklung nach 1945 u.a. mit Blick auf die markant unterschiedliche Bedeutung der Schuldfrage nach 1918 und 1945.
Im ersten Abschnitt überzeugt Frank-Michael Kuhlemanns ,,Situationsanalyse nationaler Mentalitäten in Deutschland 1918/19 und 1945/46" zu den bislang kaum thematisierten protestantischen Traumatisierungen mehr als Frank Beckers Resümee protestantisch-nationalreligiöser Euphorien von 1870/71, 1914 und 1933. Das mag nicht nur darin liegen, dass Kuhlemann die späte Lernfähigkeit des deutschen Protestantismus in der zweiten deutschen Nachkriegszeit schildert. Es könnte auch damit zu tun haben, dass das aus der Psychologie übernommene, auf die Analyse lange nachwirkender Schockerfahrungen zielende Traumatisierungskonzept mit seiner Frage nach Wahrnehmungskonstanten im Prozess der Selbstbildformierung mentalitätsgeschichtlich umsetzbarer scheint als das situative der Euphorie. Kuhlemanns Interpretationsrichtung greift hier Anregungen auf, die sich u.a. schon Anfang der 1960er-Jahre in Kurt Sontheimers Grundlagenwerk ,,Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik" finden.
Den zweiten, unterschiedliche Ansätze bündelnden Abschnitt beherrscht Günter Brakelmanns gut belegte, prägnante Skizze zum Kriegsprotestantismus 1870/71 und 1914-18. Brakelmann kann plausibel machen, wie sich ,,Theologie [...] in Geschichtstheologie als einer Form der Selbstvergewisserung eines interessengeleiteten Handels [auflöst]" (S.114). Demgegenüber wirkt die Thesenbildung von Doris Bergen über ,,War Protestantism in Germany, 1914-1945", den sie auf den gesamten Untersuchungszeitraum von 1870 bis 1970 ausgedehnt wissen möchte, leicht überpointiert. Ihr Verständnis von ,,War Protestantism" hätte durch die stärkere Berücksichtigung der erheblichen Brüche in der Theologiegeschichte an Tiefenschärfe gewinnen können, so richtig die Beobachtung des ,,kriegerischen" Akzents in den protestantischen politischen Theologien auch ist. Den eindeutigen intellektuellen Höhepunkt des Abschnitts über protestantische Lebensläufe stellt Thomas Kaufmanns Beitrag über ,,Die Harnacks und die Seebergs. Nationalprotestantische Mentalitäten im Spiegel zweier Theologenfamilien" dar. Kaufmanns Plädoyer, den deutschen Nationalprotestantismus ,,wesentlich im Horizont spezifischer Entscheidungskonstellationen und prägender Traditionen zu verorten, nicht aber primär aus festen Einbindungen in die sozialmoralischen Milieus des liberalen oder konservativen Protestantismus [...] zu bestimmen" (S. 220), ist empirisch und analytisch überzeugend. Der Beitrag des Mitherausgebers Manfred Gailus ist durch dessen ausgeprägte, aus seiner großen Arbeit über ,,Nationalsozialismus und Protestantismus" am Beispiel der Berliner Pfarrer in der NS-Zeit bekannte Distanz zu den Inhalten und Texturen theologischer Argumentation im Detail gekennzeichnet. Diese lässt seine Unterscheidung zwischen nationalsozialistischen Christen und christlich geprägten Nationalsozialisten theologiegeschichtlich und im Hinblick auf Faktoren biografischer Kontingenz akzidentiell erscheinen. Wenn, wie Gailus konstatiert, die NS-Zeit in religions- und mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht ,,nicht so sehr als eine Zeit der fortgesetzten Säkularisierung, sondern eher als eine Epoche der religiösen Intensivierung" (S. 255) erscheint, käme es um so mehr auf die theologische Argumentation im Einzelfall an, insbesondere bei allen Spielarten der ,Deutschen Christen'. Wo diese Argumentation durch Reduktion auf eine bestimmte Topik marginalisiert wird, kommt es zu unspektakulären Einschätzungen, deren sozial- und mentalitätsgeschichtlicher Gehalt fragwürdig ist. Perspektivreich und empirisch dicht im Hinblick auf die Brüche der zweiten Nachkriegsgeschichte und die anhaltende Ambivalenz des nationalen Paradigmas in protestantismusgeschichtlicher Hinsicht ist Clemens Volnhals Beschäftigung mit der ,,Erblast des Nationalprotestantismus" im Licht der Stuttgarter Schulderklärung.
Auf jeden Fall belegt der Sammelband die Vitalität der interdisziplinären Protestantismus- und protestantismusgeschichtlichen Nationalismusforschung, die work in progress, nicht festgefügtes Wissen anzubieten hat und zur Mitarbeit einlädt.
Rolf-Ulrich Kunze, Karlsruhe