ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Claudia Lepp, Tabu der Einheit? Die Ost-West-Gemeinschaft der evangelischen Christen und die deutsche Teilung (1945-1969) (Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte, Reihe B, Bd. 42), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005, 1028 S., geb., 99,00 €.

Lange Jahre galt die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) als eine der wichtigsten und schließlich als die einzige institutionelle Klammer des geteilten Landes. Dieser Zustand endete offiziell 1969 mit der Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR. Den Weg dorthin beschreibt die vorliegende Untersuchung ebenso gründlich wie ausführlich.

Das erste Kapitel behandelt die Jahre 1945 bis 1955 (S. 25-218). In dieser Zeit vollzog sich der Wandel von der Gewissheit der Wiedervereinigung Deutschlands hin zur Hoffnung darauf. Doch ungebrochen blieb die Überzeugung des Fortbestehens der kirchlichen Einheit über die politischen und ideologischen Grenzen hinweg. Das änderte sich langsam und vorsichtig nach dem Abschluss der Integration der zwei deutschen Staaten in die beiden Machtblöcke im Osten und im Westen. Die DDR unterstrich jetzt zunehmend schroff ihre Eigenstaatlichkeit und attackierte gezielt die gesamtdeutschen Organe der EKD. Von diesen Vorgängen bis zum Mauerbau handelt das zweite Kapitel (S. 219-378). In jenen Jahren begannen die Menschen und eben auch die evangelischen Christen in beiden Teilen Deutschlands sich unübersehbar auseinander zu leben. Während im Westen leidenschaftliche theologische und politische Kämpfe über die Militärseelsorge sowie die atomare Bewaffnung der Bundeswehr das Thema der Wiedervereinigung zurücktreten ließen, drängten die kirchlichen Vertreter in der DDR auf größere Eigenständigkeit zur Bewältigung ihrer besonderen Probleme. Doch die Zusammengehörigkeit in der einen, gesamtdeutschen EKD wurde darum nicht in Frage gestellt. Das änderte sich Schritt für Schritt nach dem Bau der Berliner Mauer. Von der Überzeugung, sich dem politischen Druck der DDR nicht beugen zu dürfen, also an der Einheit festzuhalten - und trotzdem den Kirchen in Ost und West mehr Raum für eigene Wege geben zu müssen, handelt das dritte Kapitel (S. 379-519). Die Beobachtung, dass für eine jüngere Generation die deutsche Teilung nun einen anderen Stellenwert besaß, daneben der Gedanke, dass die gemeinsame Geschichte und Schuld die Deutschen in beiden Staaten zutiefst verband, gewannen in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre zunehmend an Gewicht. Jetzt ging es primär um die ,,Friedensaufgaben der Deutschen", worüber das vierte Kapitel informiert (S. 520-789). Die wachsende neomarxistische Politisierung vor allem der Jugend im Westen ließ die Frage der deutschen Teilung obsolet erscheinen, für das gewachsene Selbstbewusstsein auch evangelischer Christen in der DDR erschien die Nichtanerkennung ihres Staates wenig überzeugend. Der demonstrativen Erklärung für die Einheit der EKD durch die östlichen Synodalen in Fürstenwalde im April 1967 folgte bald ein klarer Rückzug. Diese Entwicklung bis hin zur Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR beschreibt das letzte Kapitel (S. 790-927). Albrecht Schönherr spielte in diesem Prozess eine führende Rolle. Theologische und politische Gesichtspunkte gingen dabei ineinander über. Nicht nur die Bestimmungen der neuen Verfassung der DDR von 1968 beförderten diese Entwicklung, sondern auch Brandts Ostpolitik, die von der Realität zweier deutscher Staaten ausging.

Tabuisiert wurde das Thema der deutschen Einheit in diesem gesamten Zeitraum nie. Das belegt die vorliegende Studie ebenso eindeutig wie eindrücklich. Auch jene Theologen und kirchliche Repräsentanten, die zunächst ganz selbstverständlich von der nationalen Einheit ausgegangen waren, blieben ausdrücklich nicht dabei stehen, sondern fragten nach anderen Gründen und Argumenten, die dazu nötigten, an der deutsch-deutschen Verbundenheit festzuhalten. Lediglich eine kleine Minderheit meinte, das Thema sei erledigt, weil es sie nicht länger interessierte.

Die Untersuchung konzentriert sich im Wesentlichen auf die Vertreter der kirchenleitenden Ebene der EKD; daneben werden führende Persönlichkeiten der Studentengemeinden sowie der Evangelischen Jugend Deutschlands mit ihren Organisationen in den Blick genommen. Die Verfasserin versteht es, die Ergebnisse der Forschung souverän zusammenzufassen. Wo sie fehlen, ufert die Darstellung allerdings leicht in ein teilweise breites Referat der Quellen aus. Umso dankbarer ist der Leser für die Zusammenfassungen, die die Ergebnisse jedes Kapitels bündeln. Oft hätte man sich einige systematische Verdichtungen, auch klare Urteile statt reicher Einzelheiten gewünscht. War die faktische Distanzierung von der Fürstenwalder Erklärung nicht doch eine primär politische Entscheidung, die man mit theologischen Argumenten verkleidete? In welchem Ausmaß bestimmte sodann die östliche Ideologie und insbesondere die Prager Christliche Friedenskonferenz die seit den 1960er-Jahren dominierende Überzeugung, dass nicht die Wiedervereinigung, sondern die Teilung Deutschlands den Frieden sichere? Bedeutete die hier anhand von Kurt Scharfs Äußerungen konstatierte Abkehr von der nationalstaatlichen Brückenfunktion und die Hinwendung zur geistlichen Verbundenheit (S. 661 f.) wirklich einen grundsätzlichen Wandel? Martin Niemöller argumentierte jedenfalls schon zu Beginn der 1950er-Jahre nicht anders. Verbreitet, aber trotzdem unrichtig ist die Behauptung, Otto Dibelius habe mit der Bestreitung, dass die DDR die Obrigkeit im biblischen Sinn sei, die Christen ,,von der Gehorsamspflicht entbunden" (S. 266). Nicht Luther stand 1967 im Mittelpunkt der Reformationsfeierlichkeiten, sondern Thomas Müntzer (S. 704). Eugen Gerstenmaier war natürlich nie Bundespräsident (S. 442), Reinold von Thadden wird mehrfach mit seinem Sohn Rudolf verwechselt (z.B. S. 229, S. 396). Kurt Scharf und Friedrich-Wilhelm Krummacher schließlich als ,,Schüler" von Dibelius zu bezeichnen (z.B. S. 572), weckt falsche Assoziationen.

Das sind jedoch eher Kleinigkeiten. Die Arbeit bietet insgesamt interessante Durchblicke und erläutert wichtige Zusammenhänge. Sie schlägt - das ist ihre besondere Leistung - eine informative Schneise durch ein komplexes, weitgehend unwegsames und in vieler Hinsicht umstrittenes Gebiet der jüngsten deutschen Geschichte und Kirchengeschichte.

Martin Greschat, Münster/Westf.


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