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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Krzysztof Ruchniewicz, Zögernde Annäherung. Studien zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen im 20. Jahrhundert (Mitteleuropa-Studien, Bd.7), Thelem Universitätsverlag, Dresden 2005, 322 S., kart., 35 €.

Die deutsch-polnischen Beziehungen bis in die Gegenwart zu deuten, heißt sich einer eigentümlich verschränkten Nachbarschaft anzunehmen, die politischen Konstellationen offen zu legen und den Biografien der Akteure und Grenzgänger nachzuspüren. Welche Pfade dabei zu beschreiten sind, darüber gibt das jüngst im Dresdner Thelem Verlag erschienene Buch ,,Zögernde Annäherung" Auskunft.

Der Band umfasst ca. zwei Dutzend Aufsätze der letzten Jahre aus der Feder von Krzysztof Ruchniewicz, Direktor des Willy-Brandt-Zentrums für Deutschland- und Europastudien an der Universität Wrocław/Breslau. Die Themenblöcke des Buches überraschen. Sorgsam gepflegte, nicht selten künstlich anmutende Grenzen zwischen Zeitgeschichte, Politik und Ethnologie werden wie selbstverständlich durchbrochen. Ruchniewicz' niederschlesische Heimatverbundenheit ergänzt sich mit seinem ausgeprägten Interesse an historischen Ereignissen und deren politischer Wirkung. Dieser Zugang findet seinen Niederschlag in den fünf Themenblöcken dieses Buches: Erstens die beschwerliche Annäherung Polens mit beiden deutschen Staaten; zweitens die vielfältigen Migrationsströme über Oder und Neiße hinweg; drittens die Brückenfunktion Niederschlesiens mit seiner Metropole Breslau/Wrocław; viertens die polnische Rezeption des deutschen Widerstands gegen Hitler; fünftens die westdeutsch-polnischen Schulbuchgespräche als Katalysator und Gradmesser der Annäherung.

Der luzide Eröffnungsbeitrag über die beiden ersten Treffen zwischen exilpolnischen und bundesdeutschen Historikern 1956 in Tübingen und 1964 in London führt dem Leser vor Augen, welch tiefe Gräben die NS-Besatzungsherrschaft in Polen zwischen einst kollegial verbundenen Geisteswissenschaftlern gerissen hat. Trotz des spürbaren Misstrauens, organisatorischer Hemmnisse und politischer Bedenken gelang es dem Tübinger Osteuropahistoriker Werner Markert 1964 im Verbund mit dem in London lebenden Diplomatiehistoriker Tytus Komarnicki, zwei hochkarätige Symposien deutscher Polenhistoriker und polnischer Exilhistoriker der älteren Generation durchzuführen.

Was den Historikern mit ihrem geknüpften Gesprächsfaden an Verständigung gelang, blieb die Bonner Außenpolitik in gleicher Zeit gegenüber Warschau schuldig. Den Gelehrten um Werner Markert kam hierbei gewiss der antikommunistische Grundkonsens, den sie mit dem polnischen Exil teilten, erleichternd zugute. Diese Treffen boten andererseits Gelegenheit, sich von der irrealen und in der Bundesrepublik lange gehegten Vorstellung zu trennen, man brauche die Polen nur vom Kommunismus zu befreien, um von ihnen dann - gleichsam als Akt freier Selbstbestimmung - die Gebiete jenseits von Oder und Neiße zurückzuerhalten. Die Realität war eine deutlich andere. Bei wohl keinem anderen Thema waren sich die Warschauer Machthaber und das polnische Exil so nahe, wie in der Frage der Westgrenze.

Krzysztof Ruchniewicz gehört zu den wenigen Historikern in Polen wie auch in Deutschland, die die jüngere deutsche Vergangenheit als eine Geschichte zweier deutscher Staaten nicht nur zu erkennen, sondern auch tatsächlich zu erzählen wissen. Die offizielle Unterscheidung in ,,böse" Bundesrepublik und ,,gute" DDR taugte als propagandistisches Konstrukt bis in die 1970er-Jahre. Auf der anderen Seite hat sich bei nicht wenigen Polen die stereotype Vorstellung von vermeintlich obrigkeitshörigen, uninteressanten Ostdeutschen und den attraktiven, weil zivilisatorisch modernen Westdeutschen geformt und konserviert. Wenn Ruchniewicz in zwei Beiträgen die positiven polnischen Reaktionen auf den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 nachzeichnet, dann setzt er nicht nur erste Pflöcke auf ein brachliegendes Forschungsfeld, sondern trägt auch zur Korrektur dieses verzerrten Bildes bei. Der Grad der Sympathie, den schlesische Arbeiter für ihre streikenden DDR-Kollegen aufbrachten, ist in Anbetracht geschlossener Grenze, dünnen Informationsflusses und drohender Sanktionen der Machthaber bemerkenswert.

Den Nachweis seiner detaillierten Kenntnis der westdeutsch-polnischen Beziehungsgeschichte bleibt Ruchniewicz nicht schuldig. Er weiht den Leser in das schwierige Terrain der Kontaktaufnahme zwischen der Bonner Republik und der Gomułka-Equipe in den 1950er- und 1960er-Jahren ein. Es waren vor allem zwei Persönlichkeiten, die in den eigenen Reihen beargwöhnte Schrittmacherdienste nach Polen leisteten: der SPD-Politiker Carlo Schmid und der Industrielle Berthold Beitz. Während seiner Reise nach Polen im März 1958 hielt Carlo Schmid einen Vortrag in der Krakauer Jagiellonen-Universität, in dem er die nationalsozialistischen Untaten in Polen ansprach und mit Empathie zu bedenken gab: ,,Vielleicht können sie vergeben werden, aber darum darf man nicht einmal bitten. Vergebung ist ein freies Geschenk dessen, der gelitten hat."

Als der Krupp-Manager Berthold Beitz im gleichen Jahr nach Polen fuhr, kam er in ein Land, dessen Besatzungsgeschichte er aus eigener Anschauung gut kannte. Als 28-Jähriger war Beitz 1941 Handelsdirektor der Karpathen Öl AG im galizischen Borysław geworden. In dieser Stellung gelang es ihm, eine nicht geringe Zahl an Juden und Polen vor der unweigerlichen Deportation in die Konzentrationslager zu retten. Ein Umstand der Premier Józef Cyrankiewicz und Władysław Gomułka 1958 wohlbekannt war und die Gespräche mit Beitz atmosphärisch fraglos erleichterte. Warschau war sehr an Wirtschaftsbeziehungen mit der jungen prosperierenden Bundesrepublik gelegen, was die Regierung Adenauer ermunterte, über Beitz die Herstellung konsularischer, gar diplomatischer Beziehungen eruieren zu lassen. Die Frage der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die Bundesrepublik stellte jedoch eine unüberwindliche Hürde dar, die Adenauer nicht nehmen wollte und auf die Gomułka nicht verzichten mochte. Die Unterzeichnung des Warschauer Vertrags und Aufnahme diplomatischer Beziehungen durch Willy Brandt 1970 war für Beitz sicher mehr als eine Genugtuung.

In ihrer empirischen Basis und historiografischen Intensität nehmen sich die Beiträge unterschiedlich aus. Jene Abhandlungen, die zeitlich und thematisch auf die profunde Dissertation(1) von Ruchniewicz zurückgehen, markieren detailliert und wissenschaftlich beispielgebend die frühen Jahre der gesamtdeutsch-polnischen Beziehungen. Für deutsche Zeithistoriker mag dies umso wichtiger sein, als die Dissertation bislang nur in polnischer Sprache vorliegt. Die Beiträge außerhalb dieses klassisch trilateralen Beziehungsfeldes changieren in Form und Inhalt zwischen solide verfassten Aufsätzen und prägnanten Essays, welche den historisch allgemein interessierten Leser ansprechen dürften.

Burkhard Olschowsky, Oldenburg


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