Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Geert Mak, Der Mord an Theo van Gogh. Geschichte einer moralischen Panik, Suhrkamp, Frankfurt/Main 2005, 106 S., kart., 8 €.
Was anderen Europäern und insbesondere den Deutschen an den Niederländern auffällt, ist ihre ungewöhnliche Befähigung zu gesellschaftlicher Selbstregulierung. Unlängst wurden in der Provinz Friesland als Reaktion auf steigende Unfallzahlen in Straßendörfern an ausgewählten Orten die meisten Verkehrsschilder abgeschraubt: Das Verkehrsverhalten pazifizierte sich daraufhin von selbst, denn wo es keine Vorschrift gibt, muss man selbst über die Angemessenheit seines Verhaltens entscheiden. Nicht nur auf friesischen Provinzkreuzungen ist Selbstregulierung ein voraussetzungsreiches Modell des Zusammenlebens und erwächst aus Wertvorstellungen, die im sozialmoralischen Klima der Niederlande in der Neuzeit besonders gut gedeihen konnten: Rechtsbewusstsein, Individualität und gewissensgeleitetes Verantwortungsbewusstsein. Dieses Set sozialmoralischer Grundhaltungen wird gerade aus deutscher Sicht gern mit dem Pauschalbegriff ,Toleranz' zusammengefasst, wobei häufig ein Unterton von Bewunderung über so viel zivilgesellschaftliche Kompetenz angesichts des Zivilisationsbruchs in der eigenen Geschichte mitschwingt. Dass sich Toleranz und die offene Bürgergesellschaft keineswegs von selbst verstehen, von selbst einstellen oder erhalten, zeigt der Journalist und Schriftsteller Geert Mak in seinem Essay über die kaum anders als extrem zu nennende Reaktion der veröffentlichten Medienmeinung in den Niederlanden auf den Mord an dem Filmemacher Theo van Gogh am 2. November 2004, dem zweiten ,weltanschaulich' motivierten Mordanschlag nach dem Attentat auf den Rechtspopulisten Pim Fortuyn innerhalb kurzer Zeit. Mak, Jahrgang 1946, ist einer breiten Öffentlichkeit durch seinen auch ins Deutsche übersetzten zeitgeschichtlichen Familienroman ,,Das Jahrhundert meines Vaters" bekannt, in dem er nicht nur einen kritischen Blick auf die Gesellschaftsgeschichte der Niederlande im 20. Jahrhundert zwischen ,Versäulung' und Modernisierung wirft, sondern auch nachtschwarze Kapitel wie die Kollaboration bei der Vernichtung der niederländischen Juden nicht ausspart.
Geert Maks Essay ist schon deshalb weit mehr als die billige Medienschelte eines weltfremden Bewohners der Gutenberggalaxie, weil der Autor selbst viele Jahre Redakteur einer der größten Tageszeitungen seines Landes war und daher weiß, nach welchen Gesetzen die Presse funktioniert und funktionieren sollte, wie öffentliche Aufmerksamkeit für bestimmte Themen erzeugt wird und in welchem Ausmaß sich auch die ,vierte Gewalt' durch mangelnde Distanz zum Zeitgeist populistischer Stimmungsmache schuldig machen kann. Im Blick auf die niederländische Medienlandschaft nach dem 2. November 2004 fragt Mak nach der Bedeutung einer bestimmten Art von teils aggressiver, teils zynischer, jedenfalls die bequemen Gewissheiten einer funktionierenden multikulturellen Gesellschaft in Frage stellenden Berichterstattung für das, was er die ,,moralische Panik" der niederländischen Gesellschaft nennt. Darunter versteht Mak ein dumpfes, mal mehr, mal weniger latent fremdenfeindliches Bedrohungsgefühl unter dem Motto ,Das Boot ist voll', die Angst um die Errungenschaften eines hochentwickelten und gegen neoliberale Herausforderungen behaupteten sozialstaatlichen Konsenses, die offene Aversion gegen Fremde und Fremdes in einer Gesellschaft, die seit der frühen Neuzeit durch Migration geprägt ist wie kaum eine andere in Europa.
Mak spürt den Paradoxien eines pragmatischen, partizipatorischen Wohlfahrtsmusterstaates nach, der sich traditionell durch eine besondere Integrationsfähigkeit auszeichnet und an dieser gemessen werden will. Noch jede sozioökonomische und soziokulturelle Minderheit hatte der optimistische Sozialstaat mit seiner Mischung aus Autonomiegewährung und Partizipationsermöglichung erfolgreich ,eingepoldert': darin lag und liegt geradezu der niederländische Weg in die Moderne. Die auf diese Weise entstehenden parallelen sozialmoralischen Milieus - um nicht zu sagen: Parallelgesellschaften - wurden locker durch das Bewusstsein ihrer Eliten zusammengehalten, dass keine einzelne Gruppe allen Anderen ihre Vorstellungen aufzwingen kann, sondern vielmehr auf Kooperation und Kompromiss angewiesen ist. Einen neuen Menschen erzeugte dieses Erfolgsmodell allerdings nicht. Mak kann zeigen, wie in der öffentlichen Reaktion auf den Fall van Gogh sich nicht nur angestaute Frustration über die Zumutungen und Dysfunktionalitäten multikultureller Normalität entlud, sondern sehr Verschiedenes: eine handfeste, so anlass- wie ideologiefreie Fremdenfeindlichkeit, die sich durch keinen nüchternen Verweis auf das nach wie vor weitgehend intakte interkulturelle Zusammenleben auf den Boden der Tatsachen zurückführen ließ; die diffuse, bisweilen in Hysterie umschlagende Sorge um die durch massive Modernisierungswellen seit den 1960er-Jahren immer schwerer zu definierende dutchness bei manchen Meinungsmachern; das nicht selten scheinheilige Pochen auf absoluter Meinungs- und künstlerischer Selbstentfaltungsfreiheit auch auf Kosten von Minderheiten; eine in den Niederlanden seit Pim Fortuyn zu beobachtende Bereitschaft von Spitzenpolitikern, mit der Angst Konsens für die eigenen Zielsetzungen zu erzeugen.
Wie von einem Schriftsteller zu erwarten, macht Mak seine Diagnose an der Sprache von Medien und Politikern fest, nennt Beispiele für die Kriegs- und Ausgrenzungsmetaphorik, deren Ziel die möglichst trennscharfe Unterscheidung von ,Uns' und ,Denen' ist. Er führt vor, wie fremdenfeindliche Codierung zur Normalisierung von Differenz in scheinbar unauffälliger, sachlich scheinender Berichterstattung unterläuft. Maks Beobachtungen als moralistisch abzuqualifizieren, ginge an den Besonderheiten der gleichheitsorientierten, von calvinistischen Mentalitätsschatten nach wie vor tief geprägten Öffentlichkeitskultur in den Niederlanden vorbei. Mak ist alles andere als ein undifferenzierter Verteidiger politisch korrekter Utopien gegen die harte Wirklichkeit des clash of civilizations. Vielmehr plädiert er vor dem Hintergrund des Erfahrungsreichtums niederländischer Integrationsgeschichte für eine Besinnung auf die pragmatischen Tugenden des niederländischen nationbuilding, das im ,Archipel der Verschiedenheiten' von Milieus, Provinzen und Konfessionen eine bemerkenswert offene Gesellschaft ermögliche: ,,[...] jahrelang wollten die meisten Niederländer nicht sehen, daß Globalisierung, Modernisierung, Individualisierung und Einwanderung ihr kuscheliges Land gehörig verändern würden. [...] Allmählich ist es an der Zeit, die Realität zu akzeptieren, einmal Schluß zu machen mit dieser sinnlosen Radikalisierung, mit den falschen Gefühlen, der Diskriminierung und der Angsthuberei." (S. 99). Maks Essay ist sehr niederländisch in seiner Argumentation und Moralität; seine Schlüsse treffen jedoch auf jede ,zur Verwundbarkeit verurteilte' moderne Gesellschaft zu.
Rolf-Ulrich Kunze, Karlsruhe