ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Johannes Großewinkelmann, Zwischen Werk- und Schulbank. Duales System und regionale Berufsausbildung in der Solinger Metallindustrie 1869-1945 (Institut für Soziale Bewegungen, Bd. 27), Klartext-Verlag, Essen 2004, 364 S., geb., 29,90 €.

"Was hast du gelernt?" Die Frage, mit der Johannes Großewinkelmann seine Bochumer Dissertation einleitet, stellt sich dem Leser stets auch nach der Lektüre eines Druckwerkes. Eine rasche Antwort wäre es, auf die Entwicklungen in der Ausbildung von Arbeitern für das Solinger Schneidwarengewerbe zu verweisen, die der Autor mit großem Detailreichtum schildert. Bemerkenswert ist dabei die enge Verbindung von Kleingewerbe und größeren Industrieunternehmen, die bei der Fertigung von Schneidwaren bis zum Ersten Weltkrieg bestehen blieb, da bestimmte Arbeitsschritte nicht großindustriell zu organisieren waren. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf der Schneidwarenproduktion, während Maschinenbau und Schlosserei nur vergleichsweise knapp und vor allem für den Zeitraum von 1914 bis 1945 behandelt werden.

Großewinkelmann legt die unterschiedliche Entwicklung einzelner Berufe und deren Konsequenzen für die Berufsausbildung differenziert dar. Während bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die Berufsausbildung überwiegend als Lehre in einem Handwerksbetrieb absolviert wurde, gewann danach die Ausbildung in der Industrie an Bedeutung, die auf der Kombination von praktischer und theoretischer Unterweisung beruhte. Für die Verhältnisse in Solingen war allerdings nicht die Konkurrenz zwischen Handwerk und Industrie prägend, sondern deren Koexistenz und Vermischung. Letztlich verlor aber die kleingewerbliche Arbeit auch in Solingen in jeder Hinsicht an Bedeutung. Beschleunigt wurde dies durch die wirtschaftlichen Folgen des Ersten Weltkrieges, ohne dass es vor dem Zweiten Weltkrieg aber zum völligen Verschwinden der ‚Meisterlehre' gekommen ist. In Solingen wurden seit 1927 von der Industrie- und Handelskammer eigenständig, d.h. ohne Beteiligung von Handwerksorganisationen, Prüfungen für Facharbeiter der Metallindustrie abgehalten. Die rechtliche Ausgestaltung hinkte dieser Entwicklung in gewisser Weise hinterher, da bis 1937 die Handwerkskammern offiziell das ‚Monopol' bei den Abschlussprüfungen hatten.

Die Darstellung bezieht ökonomische und technische Entwicklungen mit ein, soweit sie für die Veränderungen der Berufsausbildung von Bedeutung sind. Großewinkelmanns Dissertation zeichnet sich besonders durch ihren regionalen Fokus aus, der eine Differenziertheit gestattet, die bei der Konzentration auf die nationale Ebene nicht möglich wäre. Der Autor greift nicht nur auf die archivalischen Quellen zurück, sondern auch auf 20 Interviews mit Männern, die im Zeitraum von den 1920 bis in die 1940er-Jahre eine Ausbildung in der Solinger Metallverarbeitung durchlaufen haben.

Die Liste dessen, was man aus Großewinkelmanns Dissertation lernen kann, ließe sich leicht fortsetzen. Allerdings drängt sich die Frage auf, was denn der Autor selber lernen wollte, anders formuliert, welche Fragestellung und welches Erkenntnisinteresse eigentlich seine Untersuchung leitet. Als Ziel wird etwa angegeben, die ,,vielfältigen subjektiven, gesellschaftlichen und ökonomischen Facetten der Berufsausbildung und ihre historische Entwicklung konkreter beschreiben" zu wollen (S. 13). In dieser Allgemeinheit und Totalität lässt sich ein derartiger Anspruch sicher nicht einlösen. Die Darstellung bleibt denn auch letztlich unentschieden und umkreist mehrere ‚Dualismen' - vor allem den von nationaler versus regionaler Ebene, eventuell auch zu wenden als Dualismus zwischen Norm und Praxis, und den Gegensatz zwischen Handwerk und Industrie. Der Titel der Arbeit verweist darüber hinaus auf die Differenz zwischen theoretischen und praktischen Bestandteilen der Ausbildung. Außerdem findet sich dort eine Unterscheidung zwischen ,,dualem System" und ,,regionaler Berufsausbildung." Vermutlich handelt es sich lediglich um eine etwas unglückliche Formulierung, zumindest wird die begriffliche Trennung nicht näher erläutert.

Natürlich lässt sich eine Untersuchung anhand solcher Begriffe organisieren, allerdings setzt das deren präzise Definition ebenso wie eine Klärung der Beziehung untereinander voraus, ob es sich z.B. um Antagonismen oder um bloße Unterscheidungen handelt? Großewinkelmann etwa spricht von einem intendierten ,,Vergleich" zwischen regionaler und nationaler Ebene (S. 13), was methodisch zumindest ein Tertium Comparationis erfordert. Es bleibt aber unklar, worin dieses eigentlich bestehen soll, zumal die konkrete Ausbildung von Lehrlingen immer nur lokal, das heißt an bestimmten Unterrichts- und Arbeitsorten möglich ist. In diesem Sinne kann es keine ,,reichseinheitliche Entwicklung" (S. 13) geben, auch keine ,,universale, gesamtgewerbliche [...] Entwicklung" (S. 307), sondern nur eine Mehrzahl von Mustern oder eben Einzelfällen. Allerdings bestanden ,,reichseinheitliche" Normen, die bestimmte Spielräume ließen und auch lokal und regional unterschiedlich interpretiert bzw. befolgt wurden, damit ergebe sich eine Gegenüberstellung von Norm und Praxis, die man aber nicht mehr als Vergleich bezeichnen könnte. Ohnehin ist ein Vergleich nur sinnvoll, wenn zumindest eine gewisse Eigenständigkeit beider Ebenen besteht, aber auch das wird sofort negiert, wenn von ,,Austauschprozess" (S. 15) oder ,,Interdependenz" (S. 307) die Rede ist. Allerdings fehlen auch dazu systematische Untersuchungen im Hauptteil der Arbeit und es finden sich pauschalisierende Formulierungen wie die von einem ,,Trend in der gesamten deutschen Metall- und Maschinenbauindustrie", der zu einer ,,Systematisierung und Normierung der betrieblichen Berufsausbildungsstrukturen" geführt habe (S. 249).

Auch hinsichtlich des zweiten ‚Dualismus', dem zwischen Industrie und Handwerk, lässt sich Kritik üben. Großewinkelmann behandelt die handwerkliche ,,Meisterlehre" als Gegensatz zur Ausbildung in der Industrie. Bei näherem Hinsehen aber scheint sich dieser Gegensatz im Wesentlichen auf die Frage zu reduzieren, wie viel theoretischer Unterricht für die Lehrlinge erforderlich war. Die Entwicklung der Berufsausbildung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ging eindeutig in die Richtung einer Erweiterung der Theorieanteile und zum Aufbau eines Ausbildungssystems aus betrieblicher und schrittweise ausgebauter schulischer Unterweisung bis hin zum ,,dualen System" der Nachkriegszeit. Ob das aber mit dem Bedeutungsverlust der Handwerkslehre gleichzusetzen ist, scheint fraglich, zumindest aber wäre danach zu fragen gewesen. Es dürfte sich vielleicht eher um einen Wandel der Anforderungen der Arbeit in Industrie und Handwerk - genauer vielleicht: in Groß- und Kleinbetrieben - handeln, die immer weniger motorische, dafür mehr kognitive Fertigkeiten verlangten, weil die motorischen Anteile der Arbeit allmählich von Maschinen übernommen wurden. Hierzu war gleichzeitig die Normierung und Standardisierung von Wissen und Fähigkeiten erforderlich, allein schon um die Einarbeitung neuer Beschäftigter zu vereinfachen.

Es wäre genauer zu untersuchen gewesen ob man hier von zwei antagonistischen Modellen der Berufsausbildung ausgehen kann, Meisterlehre versus Industrieausbildung. Bei Großewinkelmann wird dies mal mehr, mal weniger unterstellt, aber nicht analysiert. Es findet sich z.B. eine Gegenüberstellung von ,,Brauchtum, Herkunft, Übung und Erfahrung" aufseiten des Handwerks und ,,technischer und ökonomischer Bestimmtheit" in der Industrie (S. 159). Ob das zutrifft und was dies gegebenenfalls bedeutet, wäre aber zunächst zu prüfen gewesen. Eine pauschale Gleichsetzung von Handwerk, Tradition und Industrie mit rationaler Planung führt sicher in die Irre. Nicht zuletzt dürften die Zeitzeugen-Interviews hierzu Hinweise enthalten, ebenso wie zur Frage der Prägekraft beruflicher Bildung und Ausbildung, mit der Großewinkelmann die Relevanz seines Untersuchungsgegenstandes einleitend begründet (S. 11). Aber dieses Material wird nicht systematisch erschlossen, sondern lediglich punktuell verwendet und kann damit nur geringe Erträge bringen.

Insgesamt fällt das Urteil somit ambivalent aus. Einerseits hat Großewinkelmann wichtige Quellen für die Forschung erschlossen und bearbeitet , andererseits enthält das - auf den ersten Blick ja doch eher etwas ‚verstaubt' wirkende Thema der beruflichen Ausbildung - ein noch deutlich größeres Potenzial. Die Frage, wie das Erlernen eines Berufes mit der Ausbildung der persönlichen Identität zusammenhängt, hätte sich in Zeiten der forcierten Flexibilität von Arbeitskräften und der abnehmenden Planbarkeit von Berufsbiografien sicher für sinnvoll erwiesen. Das gilt auch für das Problem, wie die Ausbildung optimal organisiert werden kann bzw. wie gut sie organisiert wurde, um die anstehenden Herausforderungen des ökonomischen Wandels zu lösen. Die Probleme stellen sich auch in der Gegenwart und historische ‚Modell'- Lösungen oder Negativbeispiele wären sicher für die aktuelle Diskussion eine Bereicherung. Zumindest hätte man doch gern gewusst, welche Stärken und Schwächen die verschiedenen Ausbildungswege oder -modelle hatten oder welchen Rationalitäten sie folgten. Denn auch die Meisterlehre war nicht nur ein vorindustrieller Überhang. Die Bewältigung von Wandel und die Organisation individuellen und institutionellen Lernens ist sicher ein wichtiges Thema - in historischer Perspektive ebenso wie aus aktuellem Anlass.

Bernd Holtwick, Stuttgart


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