Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Ralph Tuchtenhagen, Geschichte der baltischen Länder (Beck´sche Reihe 2355) , Beck Verlag, München 2005, 127 S., kart., 7,90 €.
Der Versuch einer historischen Gesamtschau der baltischen Länder ist nicht neu. Erst vor vier Jahren veröffentlichte Michael Garleff seine Geschichte der baltischen Region vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Weitere, ältere Literatur zu diesem Unterfangen haben Anfang der 1990er-Jahre Boris Meissner oder noch früher Georg von Rauch verfasst, um nur einige zu nennen.
Tuchtenhagen gliedert sein Werk chronologisch nach den Epochen Vorgeschichte, Mittelalter, frühe Neuzeit, 19. und 20. Jahrhundert. Im Anhang finden sich neben Anmerkungen und Literaturhinweisen eine Zeittafel sowie Karten zum besseren Verständnis und zur Veranschaulichung. Wenn er auch die übliche Epochengliederung anwendet, differenziert er jedoch geschichtlich wie auch territorial deutlich zwischen den einzelnen Ländern. In der Einleitung gibt der Autor den Lesern zu verstehen, dass eine solche Differenzierung schwierig, aber wichtig sei. Estland, Lettland und Litauen haben sich durchaus unterschiedlich entwickelt. Diese unter Historikern verbreitete Auffassung teilt und betont auch Tuchtenhagen. Die Großepochen untergliedert er noch einmal in kürzere Teilabschnitte, in denen jeweils unterschiedliche Sektoren der Geschichte und des Lebens behandelt werden. Die Religions-, Verfassungs- oder Wirtschaftsgeschichte werden jedoch nicht einzeln für sich betrachtet, sondern im Kontext, z. B. des Baltikums unter russischer Herrschaft, eingeordnet. Jeweils am Ende der jeweiligen Teilbereiche geht der Autor noch teilweise auf die Geschichte der Juden im Baltikum ein.
Neu in Tuchtenhagens Gesamtschau ist der Versuch auf gut 100 Seiten die wichtigsten Entwicklungen in einer Region zu behandeln, aus der im 20. Jahrhundert die drei bekannten baltischen Staaten hervorgegangen sind. Diese Kürze erlaubt es nicht, auf Phänomene und Ereignisse mehr als nötig einzugehen, wodurch zwangsläufig viele Fragen offen bleiben. Um nur ein Beispiel von vielen zu nennen: Tuchtenhagen stellt in einem seiner letzten Kapitel fest, dass trotz verschärfter Zensurmaßnahmen in den 1970er-Jahren Elemente der angloamerikanischen Kultur in die baltischen Staaten eingedrungen seien, aber bei dieser Feststellung bleibt es dann auch. Interessant wäre es an dieser Stelle zu erfahren, wie dies möglich war, wo doch diese Tatsache zu Unruhen in den baltischen Ländern führte und Moskau in die Enge trieb.
Allerdings ist über die Knappheit in den historischen Ausführungen zu bemerken, dass diese Kürze vom Autor durchaus beabsichtigt ist. Er weist in seiner Einleitung ausdrücklich darauf hin, dass der Leser keine allzu großen Ansprüche an sein Werk stellen dürfe, da das Buch in seinem Umfang so konzipiert sei. Wenn es Lust auf mehr mache, sei sein Ziel ,,vollauf erreicht." In der Tat regt das Buch durch viele offene Fragen zum Lesen weiterer, ausführlicherer Literatur an.
Etwas ermüdend ist allerdings die dichte Aneinanderreihung von Stammesnamen in der Vorgeschichte und in einigen späteren Kapiteln die Fülle an (Lebens-)Daten, die ein rasches und unkompliziertes Lesen erschweren. Dass Tuchtenhagen seinem wissenschaftlichen Anspruch nicht sehr genau nachkommt, zeigen etwa Flüchtigkeitsfehler bei der Erwähnung der Lebensdaten historischer Personen oder allein die Kürze des Buches, welches den Anspruch, alle Bereiche des Lebens zu erfassen, gar nicht einlösen kann. Tuchtenhagens Geschichte der baltischen Länder kann dennoch als gute Einführung in das Thema sowie in umfangreichere Forschungsliteratur gesehen werden. Als schneller Einstieg und als kurze Überblicksdarstellung konzipiert, wird das Buch seiner Absicht und Aufgabenstellung durchaus gerecht.
Edith Kowalski, Köln