ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Jan Kusber, Eliten- und Volksbildung im Zarenreich während des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Studien zu Diskurs, Gesetzgebung und Umsetzung, Steiner Verlag, Stuttgart 2004, 497 S., kart., 75 €.

Mit seiner Kieler Habilitationsschrift hat Jan Kusber ein weites, disparates Forschungsfeld neu bestellt, das von der Zeit der Petrinischen Reformen zu Beginn des 18. Jahrhunderts bis zur Zeit der ,,Großen Reformen" unter Zar Alexander II. in den 1860er-Jahren reicht. Bildung, zumal institutionalisierte Schulausbildung, zählte im Zarenreich während des gesamten Untersuchungszeitraums zu den immer neu aufgegriffenen Reformthemen. Einerseits ging ein starker Impuls von der Regierung aus, ein so nützliches wie dosiertes Wissen unter die Untertanen zu bringen, andererseits wurde Bildung seit dem Zeitalter der Aufklärung mit dem umfassenderen Anspruch der Selbstbildung verknüpft. Beide Konzepte waren eingebunden in Vorstellungen und Anstrengungen einer ,,Europäisierung" Russlands und mussten nicht notwendig in Widerspruch geraten. Es ist ein Verdienst Kusbers, diese Wechselbeziehung nicht vom gewaltsamen Ende des Zarenreichs aus als gescheitert zu betrachten, sondern Erfolge aus dem Entstehungszusammenhang zu bestimmen. Den Bildungsentwürfen war nicht zuletzt der Umstand gemein, dass sie mit den begrenzten Ressourcen des Zarenreichs dem wachsenden Bedarf an systematisch Ausgebildeten und Ausbildenden nur unvollkommen gerecht werden konnten.

Die Differenz von Bildungsidealen und Bildungswirklichkeit kann jedoch als Maßstab nicht genügen. Kusber fragt deswegen danach, inwiefern die auf verschiedenen Ebenen geschaffenen Bildungseinrichtungen und -programme dazu beigetragen haben, eine neue Funktionselite zusammenzuschweißen bzw. die bestehende zu verändern. Diesen vermuteten neuen ,,Sozialkörper" (S. 7) definiert er nicht allein anhand formaler Ausbildungskriterien, sondern inhaltlich durch ihre Anteilnahme an einem Diskurs über Bildung. In höherem Maße als bislang wahrgenommen sei dieser Diskurs durch den Gesetzgeber geprägt worden. Entsprechend bestimmen die Schul- und Universitätsgesetze zwischen Peter I. und Nikolaj I. das Gliederungsschema der Untersuchung, wobei der Autor der vorbereitenden Diskussion in Regierungskreisen und Öffentlichkeit einen besonderen Stellenwert zuweist und auch nach der Realisierung der politischen Beschlüsse fragt. Die Argumentation steht in mehrfacher Hinsicht auf einer breiten Basis: Erstens werden die verschiedenen Instanzen des schubweise aufgebauten Bildungswesens von den Kirchspielschulen bis zu den Universitäten untersucht. Zweitens finden neben dem neuen, säkularen Schulsystem die älteren kirchlich kontrollierten Schulen ebenso Beachtung wie die zahlreichen ad-hoc gegründeten Ausbildungsstätten beispielsweise für Offiziere, Juristen oder Ingenieure und der unübersichtliche Bereich privat organisierter Schulen bzw. Pensionen. Schließlich werden drittens alle Provinzen des europäischen Russland behandelt und Sonderentwicklungen wie in den ehemals polnischen Gebieten berücksichtigt.

Die Analyse selbst geht chronologisch vor, eher kursorisch zu Plänen und Vordenkern aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, besonders detailliert für die Zeit Katharinas II. Ihr Schulstatut von 1786 bildet nicht nur zeitlich den Mittelpunkt der Darstellung, denn damals wurden in allen europäischen Gouvernementstädten ,,Hauptvolksschulen" eingerichtet. Sie waren im Prinzip überständisch konzipiert und sollten einen Pfeiler des schon lange projektierten dreigliedrigen Schulsystems (aus Elementarschulen, Gymnasien und Universitäten) darstellen. Mit Katharina II. zieht Kusber eine Bilanz der bisherigen Bildungspolitik, zeitgenössischer aufgeklärter Ansprüche und pädagogischer Projekte anderer absolutistischer Herrscher. Ohne die Grundlagen der vorkatharinäischen Zeit - wie die Petersburger Akademie der Wissenschaften, die Universität in Moskau, Garnisons- oder Bergbauschulen - herunterzuspielen, sei Katharina wesentlich systematischer und mit mehr Augenmaß für das Mögliche vorgegangen. Außerdem sei im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine wenn nicht kontroverse, so doch vielstimmige Diskussion über Bildungsziele in einer Öffentlichkeit in Gang gekommen, die ihrerseits als ein Ergebnis früherer Bildungseinflüsse gelten könne. Nicht nur in dieser Diskussion zeige sich, dass Bildung an Wert und Selbstverständlichkeit gewonnen hatte. Der Erfolg von Bildungspolitik könne daher nicht an der eher bescheidenen Zahl von insgesamt knapp 300 Schulgründungen gemessen werden. Die Nachfolger Katharinas setzten nach 1789 nicht nur andere politische Akzente, sondern auch die Schwerpunkte wieder stärker in der Elitenbildung, genannt sei hier nur die Welle von Universitätsgründungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Besonders hervorzuheben ist hier nach Kusber die vormärzliche Bildungspolitik des als Reaktionär verrufenen Nikolaj I. Trotz aller politischen Gängelung, der er die Bildungseinrichtungen in seinem Reich unterwarf, besaß gerade unter seiner Herrschaft die Ausbildung von Staatsdienern ein nie zuvor erreichtes Niveau, während sich gleichzeitig für Spezialisten mit Hochschuldiplom berufliche Perspektiven außerhalb des Beamtentums öffneten.

In dieser Zeit zeigen sich auch Konturen des von Kusber gesuchten Sozialkörpers. Dass er sowohl im internationalen Vergleich als auch gemessen an der Nachfrage im Zarenstaat aus einer kleinen Gruppe Gebildeter bestand, ist offensichtlich; doch wie Bildung bzw. der Diskurs darüber sozial integrierend wirkten, ob neue Handlungseinheiten oder Identitäten entstanden, bleibt schemenhaft. Dies liegt sicher auch an den verfügbaren Quellen, aber ebenso daran, dass die traditionelle Perspektive von oben auf die offizielle Bildungspolitik beibehalten wurde, andererseits der Begriff des Sozialkörpers nicht von älteren Forschungskonzepten (Öffentlichkeit, Intelligenzija) abgegrenzt wird. Gelang es diesem Sozialkörper, sich von den offiziellen Bildungsentwürfen zu emanzipieren, deren Dominanz Kusber so betont? Die Wirkung der Bildungspolitik, die ja nicht in der Umsetzung der Statuten aufgeht, kommt insgesamt zu kurz. Gern hätte man mehr erfahren, beispielsweise über die lange Resistenz des Adels gegenüber wissenschaftlichen Karrieren oder zu dem Engagement der lokalen Gesellschaft (mit Spenden, Schulgründungen), über den bis weit ins 19. Jahrhundert wirkenden Einfluss von Hauslehrern oder den sozialdisziplinierenden Charakter von Bildung, die eben auch von oben gezielt zur Formung eines Sozialkörpers eingesetzt werden konnte. Kusber behandelt durchaus die genannten Themen, und es sind dies die besten Passagen seiner Studie. Aber betrachtet durch das Prisma offizieller Bildungspolitik und -inhalte, erscheinen sie verschwommen. Eine Redaktion und Straffung des anscheinend unmittelbar aus dem Habilitationsverfahren übernommenen Manuskripts hätte diese Aspekte schärfer herausstellen können.

Andreas Renner, Köln


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