Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Thomas M. Bohn/ Dietmar Neutatz (Hrsg.), Geschichte des Russischen Reiches und der Sowjetunion (Studienhandbuch Östliches Europa, Bd. 2), Böhlau Verlag, Köln 2002, XII, 539 S., 4 Faltkrt. mit 6 farb. Karte, kart., 25,50 €.
Das Erscheinen des Zweiten Bandes des Studienhandbuches ,,Östliches Europa" füllt eine schon länger bestehende Lücke. Die Herausgeber Thomas M. Bohn und Dietmar Neutatz kommen mit ihrem Autorenteam dem zunehmenden Bedürfnis von Lehrenden und Studierenden bezüglich allgemeiner Einführungen und Nachschlagewerke nach. Dies umso mehr, als sich nach der Wende, dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem EU-Beitritt mittel-osteuropäischer Staaten die ,,gefühlte Geographie" erneut verschob und der ehemals monolithische Ostblock sich zu differenzieren und, zum Teil, deutlich näher zu rücken begann. Als Forschungsobjekt verlor die Großregion nun ihre politisch begründete Übersichtlichkeit, es taten sich neue Aufgaben, aber auch ganz neue Möglichkeiten auf.
Zurück zum Buch: Es ergänzt den von Harald Roth 1999 herausgegebenen ersten Band der die Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas behandelte und eine Einführung in einzelne Länder, Regionen, Nationalitäten und Gruppen liefert.
Der hier besprochene zweite Band ist jedoch nur zum Teil dem regional-landeskundlichen Prinzip verpflichtet. Er liefert eine methodische, chronologische, interpretatorische und (kultur-) geographische Differenzierung des historischen Raumes, der sich weniger als ,,ostslavisch-russische Tiefebene" (Zernack) (1), sondern schlicht als ,,ehemalige Sowjetunion" bezeichnen lässt. Die saloppe Bezeichnung ,,Russlandband" (2) im Vorwort lässt darauf schließen, wie sehr das Bild der Sowjetunion russlandzentriert war und ist. Demgegenüber soll durch den Band ausdrücklich die Völkervielfalt des Russischen Reiches und der Sowjetunion herausgestellt werden, insbesondere in den letzten beiden Abschnitten ,Großregionen' und ‚Nationalitäten, Minderheiten, Gruppen.'
Der Schwerpunkt des Handbuches liegt jedoch auf den ersten drei Abschnitten: ‚Grundlagen', ‚Epochen', ‚Probleme und Interpretationen.' Zu Beginn erfolgen durch kurze Artikel Einführungen in die Spezifika der Quellen, die Benutzung der inzwischen meist frei zugänglichen, jedoch durch die verschiedenen Geheimhaltungspraktiken äußerst unübersichtlichen Archive und die Historiographie der russischen Geschichte. Klar strukturiert und verständlich wird die russische Historiographie und Geistesgeschichte dargelegt; stark verkürzt ist hingegen die Einordnung in die deutsche Russland- und Sowjethistorie geraten, die als politisch relevante Wissenschaft im Nationalsozialismus und während des Kalten Krieges an institutionellem Format gewann. Als irreführende Reduzierung erscheint gerade hier die Wahl des Passivs als Erzählmodus: ,,[Die] deutsche Russlandforschung […] unterlag […] bis in den Kalten Krieg hinein einer staatlicherseits aufgezwungenen Politisierung." (3)
Als weitere Grundlagen werden verschiedene methodische Zugänge in die russische und sowjetische Geschichte in Längsschnitten vermittelt. Das heterogene Autorenteam eröffnet hier ein Kaleidoskop unterschiedlicher Herangehensweisen, die von den klassischen Themen wie ‚Außenpolitik', ‚Staat und Herrschaft' (Wulff) über ‚Demographie' (Bohn) zu ‚Geschlechter' (Fieseler) und ‚Religionen' (Bremer) (u.a.) reichen. Die Autoren weisen Forschungsdesiderate auf und stellen Bezüge über den eigentlichen Gegenstand heraus her. Zum Teil klaffen allgemeine Einführung und die Anwendung auf die russische Geschichte etwas auseinander; (4) zum Teil musste der Längsschnitt durch die Epochen sehr gerafft ausfallen. (5) Die Literatur kommt z.B. deutlich zu kurz, was auch hinsichtlich ihres Potentials als historische Quelle zu bedauern ist. (6)
Jeder einzelne Artikel bietet mit einer bis dreiseitigen Auswahlbibliografie, aufgeteilt in Quellen, Hilfsmittel und Darstellungen eine gute Grundlage für weitere Forschungen.
Mit dem zweiten Abschnitt ‚Epochen' folgt ein ‚klassischer', aber knapp gehaltener Überblick, der durch Zeittafeln und Bibliografien ergänzt wird.
An die methodischen Einführungen des ersten Abschnitts schließt sich inhaltlich der dritte Abschnitt ‚Probleme und Interpretationen' an, der sich um eine Klärung ausgewählter Begrifflichkeiten und Konzeptualisierungen bemüht, u.a. Bürokratie, Kolonisation, Mentalität, Nationalität, Stalinismus. Leider fehlen die Begriffe Alltag, Lebenswelt und Kultur im weiten Sinn, was angesichts neuer Forschungen aus diesen Bereichen unverständlich ist. Teilweise lassen sich diese Konzepte allerdings bei den Erläuterungen zum Stalinismus wieder finden.
Im Anschluss werden im vierten und fünften Abschnitten ‚Großregionen' und ‚Nationalitäten, Minderheiten, Gruppen' vorgestellt. Unter ‚Großregionen' werden einerseits Ländergruppen (Kaukasien, Mittelasien) aus dem Verbund der Sowjetunion und ehemalige Unionsrepubliken, die inzwischen staatliche Eigenständigkeit besitzen (Ukraine, Weißrussland) zusammengefasst und andererseits einzelne Regionen im Raum der heutigen russischen Föderation, wie Nordrussland, Sibirien, Wolgaregion und Schwarzerdegebiet. Der fünfte Abschnitt führt die (kultur-)geographische Einteilung fort und liefert Einführungen in die Geschichte von Nationen, Minderheiten und Gruppen, z.B. die religiöse Gemeinschaft der Altgläubigen auf der einen Seite, oder die ,,Kaukasier" bzw. ,,Romanen" auf der anderen Seite. Hierbei wird sich zum einen am Kriterium der Sprache und zum anderen an historisch relevanten Gruppen orientiert.
Insgesamt macht die ‚geographisch' orientierte Herangehensweise jedoch den kleineren Teil des Nachschlagewerkes aus. Dem Platzmangel und der akademischen Tradition ist die Schwerpunktsetzung auf den ostslawischen Raum geschuldet. Durch die vielen weiterführenden Hinweise auf Forschungsfragen, Literatur und Quellen wird dies jedoch weitgehend aufgefangen.
Im umfangreichen Anhang findet sich eine gut gegliederte und umfangreiche Bibliografie, die Hilfsmittel, Quellen, Gesamtdarstellungen, Zeitschriften und weitere Bibliografien auflistet; dabei wird auch das gesamte Vielvölkerreich berücksichtigt. Darüber hinaus werden Adressen (inklusive Telefon, E-Mail, www) aller wichtigen Forschungseinrichtungen der osteuropäischen Geschichte im deutschsprachigen Raum sowie in Russland, Ukraine, Weißrussland (u.a. Bibliotheken und Archive) aufgeführt. Weiterhin erfolgt ein Überblick über die WWW-Ressourcen, auch zu Mittel- und Südosteuropa, dies ist als Ergänzung zum ersten Band zu sehen. Beeindruckend detaillierte Transliterationstabellen, Nationalitätentabellen (Volkszählungen 1897 - 1989), ein Glossar, Orts- und Personenregister bieten weitere praktische Nachschlagemöglichkeiten. Positiv zu erwähnen ist auch das relativ umfangreiche farbige Kartenmaterial. Insgesamt bietet das Studienhandbuch ein überaus nützliches Nachschlagewerk nicht nur für Osteuropa-Studierende und -Wissenschaftler, sondern für alle an europäischer Geschichte im weiteren Sinne Interessierte.
Julia Landau, Bochum
Fußnoten:
3 Thomas M. Bohn, Historiographie, Forschungsrichtungen, S. 20.
4 Vgl. Lutz Häfner, Gesellschaft, S.52-61. In der Auswahlbibliographie wird hier unter Quellen leider nur eine Gesetzessammlung aus dem frühen 20. Jahrhundert angegeben.