ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Gábor T. Rittersporn/Malte Rolf/Jan C. Behrends (Hrsg.), Sphären von Öffentlichkeit in Gesellschaften sowjetischen Typs. Zwischen partei-staatlicher Selbstinszenierung und kirchlichen Gegenwelten (Komparatistische Bibliothek, Bd. 11), Lang Verlag, Frankfurt a.M./ u.a. 2003, 464 S., kart., 59,90 €.

Wenn die Bewohner eines Hauses zu einem ,,Kameradschaftsgericht" (tovariceskij sud) zusammenkommen, um über eine sexuelle Affäre in ihrer Nachbarschaft zu verhandeln, wenn die Werktätigen ihre Freizeit mit dem Arbeitskollektiv verbringen, wenn sich Intellektuelle auf die Datscha zurückziehen, um ungestört über Kunst, Literatur und Philosophie zu debattieren, mit welchen Kategorien kann man diese Begegnungen, Zusammenkünfte oder Gespräche beschreiben? Handelt es sich um Formen von ,,Öffentlichkeit" oder sind es ,,Privatangelegenheiten?" Wo verlaufen die Grenzen zwischen diesen beiden Sphären?

Der vorliegende Sammelband, der die Beiträge zu einer Konferenz vereint, fragt nach Sphären von Öffentlichkeit in ,,Gesellschaften sowjetischen Typs", das heißt in staatssozialistischen Regimen, die sich - zumindest in ihrer Entstehungsphase - ,,bewusst am sowjetischen Modell orientierten" (S. 7). Die Herausgeber Gábor T. Rittersporn, Malte Rolf und Jan C. Behrends setzen sich zum Ziel, ein herrschendes Bild von den staatssozialistischen Systemen aufzubrechen, dass die Gesellschaft auf allen Ebenen vom allmächtigen Partei-Staat durchdrungen war. Vielmehr stellen sie die Frage, wo Orte, Räume und Sphären ausfindig gemacht werden können, in denen politische Kommunikation stattfand, wo Menschen mit ihren Mitbürgern, aber auch mit partei-staatlichen Autoritäten interagierten (S. 8).

Die Kategorien ,,öffentlich" und ,,privat" sind in der westlichen Philosophie und Soziologie geprägt worden, um damit soziale Sphären in bürgerlich-demokratischen Gesellschafen zu charakterisieren, beispielsweise von Jürgen Habermas, der ,,Öffentlichkeit" als Vermittlungsebene zwischen der Staatsgewalt und privaten Interessen beschreibt.(1) Öffentliche Räume in staatssozialistischen Gesellschaften hatten damit jedoch wenig gemein. Daher legen die Herausgeber zunächst einen sehr weiten Begriff von Öffentlichkeit zugrunde. Von Interesse sei ,,jeder Ort, an dem das Regime es seinen Bürgern erlaubte, sich zu versammeln" (S. 9), Straßen ebenso wie Plätze, Kinos und Sportarenen; die Bandbreite reicht ,,vom Politbüro bis hin zur Banja" (S. 10). Bewusst wird eine Konzentration auf diejenigen Räume vermieden, die in relativer Autonomie vom Regime existierten, dissidentische ,,Halb-Öffentlichkeiten" wie ,,Küchengespräche", Samizdat oder informelle politische Vereinigungen.

Den einleitenden theoretischen Überlegungen der Herausgeber schließt sich ein weiterer programmatischer Aufsatz an. Ausgehend vom Fall Russland, wo in den letzten Jahren bürgerliche Freiheiten, insbesondere die Meinungs- und Pressefreiheit, wieder beschnitten wurden, versuchen Ingrid Oswald und Viktor Voronkov Öffentlichkeit in der (post-) sowjetischen Gesellschaft konzeptionell zu fassen. Statt der Zweiteilung öffentlich-privat nehmen sie eine Dreiteilung vor: Neben der öffentlichen Sphäre, die in der Sowjetunion ihrer Meinung nach eine ,,offiziell-öffentliche" war, teilen sie den privaten Raum auf in einen ,,privat-öffentlichen" wie die ,,Küche" oder die Witzkultur und die Intimshpäre. Ausgehend von dieser Kategorisierung fragen die Autoren nach den Grenzen zwischen den Sphären und stellen fest, dass sich im Unterschied zum Westen, wo die Trennung zwischen privat und öffentlich relativ strikt und rechtlich geschützt sei, die Übergänge anders gestalteten. Insbesondere ließen sich privat-öffentliche und Intimsphäre nicht klar voneinander trennen.

So anregend und wichtig diese Überlegung zur Konzeptionierung von Öffentlichkeit in staatssozialistischen System sind, lässt sowohl dieser Beitrag als auch der der Herausgeber eine kritische Auseinandersetzung mit ,,westlichen" Konzepten vermissen. In Anlehnung an Habermas, Hannah Arendt (2), Jeff Weintraub(3) und anderen wird von einer Konzeption von Öffentlichkeit ausgegangen, die im Gegensatz zur Privatheit stehe. Geprägt von der ,,bürgerlichen" Gesellschaft lasse sie sich auf die staatssozialistischen Systeme nicht anwenden. Dabei wird allerdings übersehen, dass die Kategorien öffentlich und privat auch in der westlichen Forschung, insbesondere von Seiten der Frauen- und Geschlechtergeschichte, hinterfragt werden. Vor einer Übertragung oder Abwandlung der Kategorien in Bezug auf die Gesellschaften sowjetischen Typs wäre es daher geboten, das ,,westliche" Verständnis in Frage zu stellen. Bezöge man die geschlechtergeschichtliche Perspektive in die Forschungen zu staatssozialistischen Systemen stärker mit ein, würden die Grenzen zwischen den Räumen möglicherweise noch weiter verschwimmen. Denn wie Janina Wedel schon 1986 zeigte, existierte zumindest im ökonomischen Bereich eine komplizierte Beziehung zwischen der staatlichen Produktion und der im Privaten entwickelten ,,zweiten Ökonomie", die von Heimarbeit und informellen Netzen geprägt war, in denen oft Frauen die Hauptrollen spielten.(4)

Der vorliegende Sammelband konzentriert sich weitgehend auf ,,Sphären von Öffentlichkeit" im politischen, weniger im ökonomischen Bereich. Besonders vielversprechend erscheint die vergleichende Perspektive. Die vorgestellten Fallstudien umfassen Beispiele aus verschiedenen Ländern, aus der Sowjetunion, der Tschechoslowakei, der DDR, Polens, Ungarns und Chinas.

Mit vier Beiträgen sind Forschungen zur Sowjetunion am stärksten vertreten. An prominentester Stelle steht der Aufsatz von Monica Rüthers über ,,Öffentlichen Raum und gesellschaftliche Utopie: Stadtplanung, Kommunikation und Inszenierung von Macht in der Sowjetunion am Beispiel Moskaus zwischen 1917 und 1964." Rüthers skizziert ein - mittlerweile abgeschlossenes - Habilitationsvorhaben, das die Machtinszenierung im öffentlichen Raum und ihre Rezeption zum Gegenstand hat. Am Beispiel verschiedener städtebaulicher Planungen und Maßnahmen wie etwa des Sucharev-Platzes, des Manegeplatzes oder des Alten und Neuen Arbat untersucht die Autorin das Verhältnis von Raumordnung und Gesellschaftsordnung. Es geht um die Wechselwirkung zwischen der Darstellung der Staatsgewalt und der alltäglichen Erfahrung der Menschen im öffentlichen Raum. Durch die Unterscheidung zwischen einem formellen und informellen Kommunikationsmodell und den Versuch, verschiedene Kommunikationsräume zu typologisieren, gelingt es zu zeigen, wie zersplittert Öffentlichkeiten in der Sowjetunion waren. Von analytischer Schärfe ist ebenfalls der Aufsatz von Katerina Gerasimova über öffentliche Räume in der Kommunalwohnung am Beispiel Leningrads. Ebenso wie Monica Rüthers geht auch Gerasimova von den russischen Begriffen von öffentlich und privat aus und fragt nach ihrer Bedeutung für das kommunale Wohnen, bei dem das Privatleben zum Teil ,,öffentlich" gemacht wurde. Die Autorin ordnet die Ergebnisse ihrer Fallstudie in einen größeren Kontext ein, indem sie nach die Auswirkungen des kommunalen Wohnens auf das Verhalten im öffentlichen Raum charakterisiert. Im Vergleich zu Rüthers und Gerasimova lässt der Beitrag von Katharina Kucher zum Moskauer Kultur- und Erholungspark als Form von Öffentlichkeit im Stalinismus der dreißiger Jahre weniger theoretische Reflexion erkennen, ebenso wie der Aufsatz von Lorenz Erren zur sowjetischen Parteiöffentlichkeit am Beispiel der ,,Selbstkritik" in den dreißiger Jahren. Zwar handelt es sich in beiden Fällen um äußerst interessante Einzelstudien. Die Leser erfahren Neues über organisierte Freizeit sowie über die Entwicklung der ,,Selbstkritik" im Unterschied zur ,,Reueerklärung", letztendlich bleibt aber in beiden Fällen die Frage ungeklärt, mit welcher spezifischen Form von Öffentlichkeit wir es hier zu tun haben.

Auch die Beiträge zu den anderen Ländern sind sehr heterogen. Nicht alle diskutieren gleichermaßen Konzepte von Öffentlichkeit in staatssozialistischen Regimen. So geht es in den beiden Fallstudien zu Polen und in einer zu Ungarn um Erinnerungskultur als Form der Öffentlichkeit. Isabella Main zeigt auf, wie unterschiedlich zwei Ereignisse im Jahr 1949 rezipiert wurden: zum einen das ,,Wunder von Lublin", eine Marienerscheinung, die in eine Massendemonstration des Glaubens mündete, zum anderen die Feierlichkeiten zu Stalins siebzigstem Geburtstag, bei denen die Massenmobilisierung scheiterte. Worin die Beziehung zwischen Erinnerungskultur und Öffentlichkeit besteht, bleibt jedoch offen. José M. Faraldo wiederum möchte mit seiner Studie über die Rezeption der Verfilmung von Sienkiewiczs Krzyzacy ("Die Kreuzritter") zeigen, wie sehr die Katagorien ,,Nation" und nation-building bei der Konzeption von Öffentlichkeit im Habermasschen Sinne bislang vernachlässigt wurden. Zwar gelingt es in dem an für sich exzellenten Beitrag, am Beispiel von Oral-History-Interviews den nationalen Diskurs im sozialistischen Polen darzustellen. Die Wechselwirkung zwischen der Wahrnehmung und Verortung des Nationalen auf der einen und der sozialen Praxis im öffentlichen Raum auf der anderen Seite wird dennoch nicht deutlich. Ebenso verhält es sich mit dem Beitrag Heino Nyssönens über die Erinnerung an den Aufstand von 1956 in Ungarn, der zwar interessante Ausführungen über Erinnerungskultur und Geschichtspolitik enthält, aber wenig Bezug zum Rahmenthema herstellt.

Neue Impulse zur Weiterentwicklung des Öffentlichkeitsbegriffs in Bezug auf staatssozialistische Gesellschaften geben die Beiträge über Öffentlichkeiten im kirchlichen und künstlerischen Bereich: Juliana Raupp erläutert am Beispiel der Nationalgalerie in Ost-Berlin den Stellenwert der ,,Kunstöffentlichkeit" als ,,Gegenöffentlichkeit" in der DDR und diskutiert, inwieweit eine fortgeschrittene funktionale Differenzierung in einer Gesellschaft zwingend mit der Entwicklung von Öffentlichkeit einhergeht. Dieter Segert erweitert diese Perspektive um einen Vergleich der ,,Kunstöffentlichkeiten" in der DDR und der Tschechoslowakei.

Über kirchliche Öffentlichkeiten arbeiten Michael Haspel und Árpad von Klimó: Haspel setzt sich am Beispiel der Evangelischen Kirche in der DDR produktiv mit dem Habermasschen Öffentlichkeitsbegriff auseinander und diskutiert den Gegensatz zwischen ,,System" und ,,Lebenswelt", von Klimó bezieht darüber hinaus die Perspektive des Personals der Staatssicherheit in die Analyse der kirchlichen ,,Gegenöffentlichkeit" mit ein.

Besonders hervorhebenswert erscheint schließlich der Beitrag Lorenz Bichlers über die Propaganda der Chinesischen KP nach 1949 am Beispiel der ,,Korrespondenten" und ihrem Untergrundnetzwerk. Es handelte sich um einen Versuch der Partei, ,,die Masse der Bevölkerung" in den Parteijournalismus einzubinden. Einerseits wird dabei ersichtlich, dass es in China Strukturen von Öffentlichkeit gab, die sich mit den ostmittel- und osteuropäischen Ländern vergleichen lassen, andererseits kommt auch die spezifische Tradition Chinas zum Ausdruck, die in Europa keine Parallelen hatte.

Abgerundet wird der Band durch einen Ausblick der Herausgeber, der wie die Einleitung in Deutsch und Englisch verfasst ist. Anhand ihrer Typologisierung wird deutlich, dass die ,,Gesellschaften sowjetischen Typs" Formen von Öffentlichkeit hervorbrachten, die sich nicht einfach als Defizite im Vergleich zum ,,Westen", sondern um eigenständige spezifische Entwicklungen begreifen lassen. Das Buch schließt mit einem Plädoyer für vergleichende und transfergeschichtliche Untersuchungen über öffentliche Sphären in Gesellschaften sowjetischen Typs, womit sowohl Vergleiche von Diktaturen wie beispielsweise der Sowjetunion und des Nationalsozialismus gemeint sind als auch eine histoire croisée der mittel- und osteuropäischen Sozialismen. Der vorliegende Sammelband hat in diese Richtung einen ersten Schritt getan.

Anke Stephan, München

Fußnoten:

1 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt a. M. 1990 (Erstausgabe 1962).

2 Hannah Arendt, The Human Condition, Chicago 1958.

3 Jeff Weintraub, The Theory and Politics of the PublicPrivate Distinction, in: Weintraub, Jeff/Kumar, Krishan (Hrsg.), Public and Private in Thought and Practise. Perspectivses on a Grand Dichotomy, Chicago 1997, S. 1-42.

4 Janina Wedel, The Private Poland, New York 1986.


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