ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Robert Gerwarth, The Bismarck Myth. Weimar Germany and the Legacy of the Iron Chancellor, Clarendon Press, Oxford 2005, 228 S., geb., £ 45,00.

Seit den Arbeiten von Thomas Nipperdey, Wolfgang Hardtwig und einigen anderen weiß man um die enorme Bedeutung des Bismarck-Mythos für das späte Kaiserreich. Bis zur Jahrhundertwende hatte sich ein relativ geschlossenes, dominantes Bild des ,,Eisernen Kanzlers" herausgebildet, das ihn als Verkörperung der Werte und der politischen Ambitionen eines nationalistischen Bürgertums erscheinen ließ. Allein zwischen 1898 und 1914 wurden rund 500 Denkmäler und Statuen zu Ehren des Reichsgründers in Auftrag gegeben, von denen mehr als die Hälfte auch gebaut wurden; hinzu kamen Devotionalien jeder Art und eine ständige Beschwörung des Reichskanzlers.

Was mit diesen Denkmälern - und allgemeiner mit dem Bismarck-Mythos - nach dem Ersten Weltkrieg geschah, ist dagegen weniger bekannt. Genau an dieser Stelle setzt die Arbeit von Robert Gerwarth an. Er vertritt die These, dass Otto von Bismarck auch während der Weimarer Republik eine zentrale Rolle als antidemokratischer Mythos gespielt habe: Im ,,civil war of memories and historical symbols" (S. 4) der ersten deutschen Demokratie habe der Rekurs auf Bismarck immer wieder dazu gedient, einen demokratischen Konsens zu verhindern. Am Streit über Bismarck und sein Erbe lasse sich demnach die hochgradig fragmentierte politische Kultur der Weimarer Republik besonders gut studieren. Diese These kann Gerwarth überzeugend belegen. Die chronologisch angelegte Studie setzt noch zu Bismarcks Lebzeiten ein und verweist im Einklang mit der bisherigen Forschung unter anderem auf Bismarcks eigene Rolle bei der Konstruktion eines geschichtspolitisch wirkungsmächtigen Bildes. Nicht zuletzt durch seine ,,Gedanken und Erinnerungen", dem Bestseller unter den politischen Büchern in Deutschland, bis es von Hitlers ,,Mein Kampf" verdrängt wurde, leistete er selbst einen wesentlichen Beitrag zur Arbeit am eigenen Mythos.

Während es wenig erstaunlich ist, dass nach 1918 die politische Rechte den Bismarck-Mythos im Kampf gegen die Republik einsetzte, hält das Buch auch einige Überraschungen bereit. Gerwarth zeigt etwa, dass die Sozialdemokratie zeitweise versuchte, den ,,kleindeutsch"-preußischen Bismarck zu überholen. Keine Partei vertrat in den ersten Monaten des Jahres 1919 die Idee eines Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich enthusiastischer als die MSPD. Dieser Versuch, die Karte der revolutionären Ziele von 1848 gegen 1871 auszuspielen und die Republik über den Vergleich mit Bismarck zu legitimieren, scheiterte aber spätestens, als im Mai 1919 die Bedingungen des Versailler Vertrages bekannt wurden. Dies war Wasser auf die Mühlen aller Republikgegner, die fortan nicht müde wurden, den Bismarck-Mythos zu mobilisieren, um die politische Ordnung in Frage zu stellen.

Neben dem dominanten, relativ bekannten reaktionären Debattenstrang zeigt Gerwarth, dass es in den Folgejahren immer wieder auch Versuche gab, Bismarck für die Republik in Dienst zu nehmen. Bismarckverehrung und Kampf gegen die Weimarer Republik waren demnach nicht miteinander identisch. Im Wissen um die mobilisierende Kraft dieses Mythos versuchten etwa die SPD und mehr noch Gustav Stresemann, Bismarck immer wieder als pragmatischen Realpolitiker zu deuten, der den Forderungen der radikalen Rechten das Augenmaß abgesprochen hätte. Den Vertrag von Locarno etwa pries Stresemann als Fortsetzung Bismarckscher Staatskunst an.

Besonderes Augenmerk legt die Studie daneben auf das Verhältnis von Hitler und der NSDAP zum Bismarck-Kult. Gerwarth vertritt in diesem Zusammenhang die These, dass Hitlers ,,ability to use the Bismarck myth as a propaganda device would prove to be one of the conditioning factors in his rise to power" (S. 128). Demnach waren es primär zwei Faktoren, über die Hitler die Brücke zum Reichsgründer schlug: einerseits über den Antiparlamentarismus und andererseits über den im Bismarck-Mythos aufgehobenen Glauben an einen charismatischen Führer. Laut Gerwarth stellten die gescheiterten Pläne einer deutsch-österreichischen Zollunion im Sommer 1931 einen der Hauptgründe dar, weshalb sich Hitler zum einzigen Politiker stilisieren konnte, der mit Bismarck auf einer Augenhöhe stand. An diesem Punkt lässt sich die Studie meines Erachtens jedoch von der Suggestionskraft ihres Gegenstands ein wenig zu weit tragen, denn so wichtig war Bismarck für Hitler nicht. In der Frühphase der Bewegung stellte er nur einen Bezugspunkt für Hitler dar. Ebenso bedeutsam war aber etwa die Selbstverklärung zum ,,deutschen Mussolini." Vor allem aber wird in der Studie die Polyvalenz und die Willkür nationalsozialistischer Geschichtsbezüge nicht klar genug. Geschichtsbilder und Mythen waren für die Nationalsozialisten weniger wichtig als für die konservative Rechte. Die Nationalsozialisten blieben primär auf die selbst zu gestaltende Zukunft fixiert. Allgemein wäre eine stärkere Kontextualisierung und Einbettung dieses Mythos in die Geschichtspolitik und die Zukunftsdebatten der Weimarer Republik sinnvoll gewesen, da dann der Stellenwert - und nicht zuletzt der Bedeutungsverlust - des Bismarckkults zu Tage getreten wäre. Denn ob der Bismarckmythos auch noch in der Spätphase ,,one of the most powerful weapons employed by right-wing circles in their struggle against Weimar" (S. 171) darstellte, ist fraglich.

Trotzdem: Dieser schmale Band hat es in sich. Es gelingt dem Autor, auf weniger als 180 Textseiten einmal die Geschichte der Weimarer Republik zu durchschreiten und auf seine Fragestellung hin zu durchleuchten. Die Bedeutung des Bismarck-Mythos und allgemein des Rückbezugs auf das Kaiserreich in den politischen Debatten und Deutungskämpfen jener Jahre werden hier sehr deutlich. Wo die Grenzen seiner Mobilisierungskraft lagen, hätte dagegen noch klarer herausgearbeitet werden können.

Kiran Klaus Patel, Berlin


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