Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Sebastian Conrad/Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004, 327 S., kart., 26,90 €.
Innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft wird seit einiger Zeit das Konzept einer transnationalen Geschichte intensiv diskutiert.(1) Sie reagiert mit dieser Debatte zugleich auf die aktuellen Erfahrungen und Herausforderungen der Globalisierung und bietet damit einmal mehr auch Orientierungswissen für unübersichtliche Gegenwartstendenzen. Mit dem vorliegenden Sammelband übertragen Herausgeber und Autoren die Überlegungen zum Transnationalen erstmals systematisch auf eine Epoche der deutschen Geschichte. Er fußt auf einer von der Jungen Akademie und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 2003 in Blankensee gemeinsam durchgeführten Tagung, wobei für die Publikation einige zusätzliche Autoren gewonnen wurden. Dass dabei das Deutsche Kaiserreich von 1871 für einen derartigen Zugriff ausgewählt wurde, ist beileibe kein Zufall, da der Nationalstaat auch in transnationaler Perspektive eine zentrale Rolle spielt und spielen muss. Denn in den Blick geraten bevorzugt grenzüberschreitende Abhängigkeiten, Aktivitäten sowie Wahrnehmungen. Und es rücken Netzwerke in den Fokus, das heißt strukturelle Verknüpfungen jeder Art. All diese Betrachtungsweisen relativieren den nationalhistorischen Horizont zwar erheblich, aber sie bedürfen seiner nach wie vor zwingend, denn um das Transnationale zu erforschen, muss das Nationale immer auch mitgedacht werden.
Die Aufsatzsammlung soll, wie die Herausgeber einleitend betonen, neue Sichtweisen und Perspektiven anregen. Und sie soll zu klären versuchen, ob sich die aus dem späten 20. und frühen 21. Jahrhundert stammenden Begriffe wie Globalisierung oder Transnationalität für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg gewinnbringend und analytisch anwenden lassen. Insgesamt verstehen Conrad und Osterhammel transnationale Geschichte dabei pragmatisch als eine Geschichte wechselseitiger, die oftmals engen nationalstaatlichen Grenzen ,,transzendierenden" Beziehungen und Einflüsse, welche das klassische Feld der Außenpolitik und der internationalen Beziehungen ausdrücklich einschließt (S. 14). Transnationale Zugänge knüpfen damit in besonderer Weise wenigstens an drei oftmals miteinander verbundene Forschungsrichtungen an: die Transferforschung, die sogenannten postcolonial studies und auch weltgeschichtliche Studien. Die Herausgeber haben die insgesamt 15 Beiträge in fünf Blöcke gegliedert. Der erste Abschnitt ,,'Zooming in': Das Kaiserreich in der Welt" ist den Basisprozessen der Modernisierung und Globalisierung gewidmet und umfasst drei Aufsätze. Woodruff D. Smith diskutiert in diesem Rahmen die zeitgenössischen Schlüsselbegriffe ,,Weltpolitik" und ,,Lebensraum", und Niels P. Petersson verfolgt die Anfänge der ökonomischen Globalisierung vor 1914. Dabei macht Petersson intensive Wechselwirkungen zwischen der Nationalisierung der ,,Globalisierungsvormacht" Deutschland und der voranschreitenden weltwirtschaftlichen Integration aus (S. 67). Michael Geyer vergleicht schließlich Deutschland und Japan - zwei Staaten die unmittelbar zwar nur wenig miteinander verbindet, an denen sich aber exemplarisch verfolgen lässt, wie sehr sich die Nationsbildungsprozesse im langen 19. Jahrhundert der jeweiligen nationalen Kontrolle entzogen und von grenzüberschreitenden Prozessen und Akteuren abhängig waren. Der zweite Teil ,,Verwalten und Herrschen in Metropole und Kolonien" besteht aus zwei Abhandlungen. Zunächst befassen sich Andreas Eckert und Michael Pesek mit bürokratischen Strukturen und Praktiken in den deutschen Afrikakolonien. Besonders greifbar werden die Schwierigkeiten, vertraute bürokratische Verwaltungsmuster vor Ort zu etablieren. Auch vor dem Hintergrund zahlreicher Alkoholexzesse und Skandale blieb die koloniale Verwaltung den preußischen Beamten in Berlin weitgehend fremd, weshalb die Autoren deren Rückwirkungen auf das Reich als relativ gering einstufen. Anschließend macht Sebastian Conrad zahlreiche Parallelen und Beziehungen bei der ,,Erziehung zur Arbeit" in Ostafrika und Ostwestfalen aus, die sich keineswegs nur auf das Missionsmotto ,,ora et labora" beschränkten.
Den Auftakt des drittes Bereichs ,,Kolonialismus in Europa" bildet Philipp Thers Deutung des ersten deutschen Nationalstaats als kontinentales Reich oder ,,preußisch-deutsches Empire" (S. 130), in dem viele Völker lebten und das sich in erster Linie über traditionelle Dynastien legitimierte. Hiergegen lässt sich nicht nur aus diplomatiegeschichtlicher Sicht einiges einwenden, auch fallen die föderale Vielgestaltigkeit des Kaiserreichs und die wachsende Loyalität gegenüber der Nation dabei weitgehend unter den Tisch.(2) Mit den konfessionellen und ethnischen Zerklüftungen der östlichen preußischen Provinzen beschäftigt sich dann Helmut Walser Smith. Er kann plausibel und differenziert vorführen, dass protestantische Masuren, Slowinzen und preußische Litauer den Weg in den kleindeutschen Nationalstaat fanden, während die katholischen Kaschuben sich abwandten. Damit bereichert er die Nationalismusforschung um bisher nur wenig ausgeleuchtete Facetten.
Die sich anschließende Einheit ,,Repräsentationen und Normierungen" enthält vier Untersuchungen. Zunächst analysiert Alexander Honold die vielerorts veranstalteten Menschen- und Völkerschauen um 1900 als kulturellen Austausch zwischen den ausgestellten Exoten und dem voyeuristischen Publikum, der keineswegs nur einseitig verlief. Den Aufschwung der Ethnologie im Kaiserreich bettet danach Andrew Zimmerman in den weltumspannenden Kontext des deutschen und europäischen Imperialismus und den Aufstieg der Naturwissenschaften ein. Er unterstreicht dabei zugleich das wechselseitige Zusammenwirken von wissenschaftsinternen, kulturellen und politischen Einflüssen bei der Entwicklung dieser wissenschaftlichen Disziplin. Den oft übersehenen imperialistischen Frauenverbänden ist der Beitrag von Birthe Kundrus verpflichtet. Sie kann zeigen, dass mit Blick auf Frauenrechte und Rassenfragen zwar manche Positionen in diesen Filialvereinen männlicher Verbände durchaus fortschrittlich waren. Freilich schloss dies eine Radikalisierung politischer Ordnungsvorstellungen des ,,weiblichen Kulturimperialismus" unter dem prägenden Einfluss der deutschen Welt- und Kolonialpolitik keineswegs aus. Mit Dieter Gosewinkels Ausführungen zu den Diskussionen um die deutsche Staatsangehörigkeitspolitik endet dieser Teil. Gosewinkel kann keinen direkten Transfer der kolonialen Rassepolitik in das Recht des Kaiserreichs - und damit eben auch keine Kontinuität zu den Nürnberger Rassegesetzen - ausmachen. Dennoch sind Auswirkungen festzuhalten, denn die steigende Anzahl von Reichsangehörigen in den Kolonien führte 1913 schließlich dazu, die Staatsangehörigkeit für die sogenannten Auslandsdeutschen rechtlich zu fixieren (S. 256).
Den Band beschließt der fünfte Block ,,Koloniale (Un-)Ordnung", dem drei Beiträge zugeordnet sind. Der Frage, inwieweit Kolonien als ,,Laboratorien der Moderne" zu betrachten seien, geht Dirk van Laak nach. Insgesamt steht er dieser in den letzten Jahren wiederholt bemühten Wendung zwar skeptisch gegenüber, schätzt (gerade auf der Rückseite des Modernisierungsprozesses) die Folgewirkungen der Kolonialepoche auf Deutschland freilich auch nach 1919 als ,,enorm" ein (S. 276). Sven Beckerts anschließende Abhandlung ,,Das Reich der Baumwolle" eröffnet einen erfrischenden globalgeschichtlichen Blick auf das 19. Jahrhundert und den durchbrechenden Kapitalismus. Letztlich weist er bereits über den engeren Horizont des Bandes hinaus, denn der Siegeszug dieses landwirtschaftlichen Produktes und seiner Verarbeitung ist nur im untrennbaren Zusammenwirken von lokalen, regionalen, nationalen und übernationalen Netzwerken zu begreifen. Nicht so recht in diesen Teil fügt sich der den Band beschließende, anregende Essay ,,Das Kaiserreich transnational. Eine Skizze" von David Blackbourn, der viele Aspekte der Einleitung aufgreift und in Teilen auch weiterführt. Es irritiert ein wenig, dass Blackbourn die internationale Diplomatiegeschichte - zumindest in ihrer althergebrachten Form - als Teil einer transnationalen Geschichte ausschließt (305). Zwar ist sie mit keinem Beitrag vertreten, aber das Feld der internationalen und Diplomatiegeschichte birgt durchaus das Potenzial, mit dem Forschungsbereich der transnationalen Geschichte produktiv zusammenzugehen. Das gilt im Übrigen auch für die Geschichte des Menschen und seiner natürlichen Umwelt, die Blackbourn ausdrücklich in seine Überlegungen einschließt, auch wenn sie ebenfalls nicht in der Aufsatzsammlung vertreten ist: Umweltgeschichte interessiert sich per definitionem bereits für Wechselwirkungen zwischen Mensch und Natur und ist ohne die globale Perspektive gar nicht zu denken.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Band gelungen ist, denn er wird seinem Anspruch gerecht, mit Blick auf das Kaiserreich neue Perspektiven zu eröffnen. Das gilt nicht nur für die eingangs genannten drei Forschungsfelder, aus denen sich transnationale Geschichte speist, sondern auch für den Blick nach innen, denn eine transnationale Geschichtsschreibung schärft zugleich das Bewusstsein für Grenzen, die innerhalb von Gesellschaften verlaufen und zugleich über sie hinausweisen. Da eine Reihe von Beiträgen auf jüngeren Monografien der Verfasserin und Verfasser aufbauen, dokumentiert der Band darüber hinaus, dass die sogenannte transnationale Geschichte für all jene Historiker besonders attraktiv und anschlussfähig ist, die sich der Dominanz nationalgeschichtlicher Erzählungen entziehen wollen, ohne gleich eine Globalgeschichte schreiben zu müssen.
Nils Freytag, München
Fußnoten:
1 Vgl. dazu nur die Beiträge im Diskussionsforum bei clio-online: http://geschichte-transnational.clio-online.net [22.8.2005]<.
2 Vgl. zu den diplomatiegeschichtlichen Einwänden die Besprechung von Matthias Stickler, in: Sehepunkte 5 (2005), Nr. 6 [15.06.2005], URL: http://www.sehepunkte.historicum.net/2005/06/7169.html.