ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Boris Barth, Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914-1933, (Schriften des Bundesarchivs, Bd. 61), Droste Verlag, Düsseldorf 2003, X, 625 S., 49,80 €.

Legenden sind langlebig - zumal wenn sie im politischen Tagesgeschäft in geschichtspolitischer Absicht instrumentalisiert werden. Eine jener Legenden, die von der historischen Forschung längst widerlegt, von den meisten Zeitgenossen während der Weimarer Republik und der nationalsozialistischen Herrschaft aber in den Kanon der geschichtlichen Selbstverständlichkeiten aufgenommen worden ist, stellt die sogenannte Legende vom Dolchstoß dar. Demnach seien defaitistische Kreise in der Heimat der kämpfenden Truppe in den Rücken gefallen und hätten somit die Niederlage erst ermöglicht. Boris Barth geht in seiner Konstanzer Habilitationsschrift der Rezeptionsgeschichte der Legendenbildung und ihrer Instrumentalisierung nach und spricht sich dabei für die Verwendung des Plurals aus. Denn jede soziale Gruppe der nationalen Rechten habe aus jeweils eigenen Motiven ihre spezifische Variante der Dolchstoßlegende kreiert. Der Autor identifiziert fünf Gruppen, denen er seine besondere Aufmerksamkeit widmet: den Konservativen, der Generalität, der protestantischen Kirche, den Alldeutschen bzw. Völkischen sowie den aktivistischen Nationalisten, die aus den Freikorps hervorgingen und sich später zum Teil in NS-Organisationen wiederfanden.

Barths Verdienst liegt darin, den breiten gesellschaftlichen Diskurs systematisch aufzufächern und die verschiedenen Varianten der Dolchstoßlegende in unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen zu verorten. Sein Schwerpunkt liegt dabei auf dem Bildungsbürgertum, konkreter auf den professoralen Äußerungen, wobei er auch Äußerungen von Seiten der Kirchen und des Militärs einbezieht. Indem er die verschiedenen Gruppen separat behandelt, unterstützt diese Methodik den Befund, dass es sich um voneinander unabhängig entstehende Dolchstoßlegenden handeln muss. Inwieweit eine kommunikative Vernetzung der am nationalistischen Diskurs beteiligten Akteure vorliegt, bleibt offen. Angesichts der ansonsten umfassenden Kenntnis des Forschungsstandes verwundert es, dass das Buch die neuesten Thesen der Geschlechtergeschichte nicht berücksichtigt. Denn dass die Dolchstoßlegende etwas mit dem bürgerlich-heroischen Männerbild sowie den Remaskulinisierungs-Bestrebungen der Nachkriegszeit zu tun hatte, ist in der jüngeren (Militär-)Historiographie mehrfach betont worden.

Die Untersuchung deckt das gesamte nationalistische Spektrum der Weimarer Zeit ab und liefert einen fundierten Überblick über die von der Kriegsniederlage beeinflussten politischen Positionen des Bildungsbürgertums. Dabei bedient sich der Autor einer vorwiegend referierenden Darstellungsweise, hinter der seine eigenen Thesen zur Dolchstoßproblematik etwas zurückstehen. Ohne auf eine exakte Quantifizierung zurückzugreifen, hat der Rezensent den Eindruck, dass das Buch zu einem erheblichen Teil aus indirekter Rede und Zitaten besteht und weitgehend bekannte Befunde über das rechte politische Spektrum mit neuen und vor allem mehr Quellen untermauert werden. Es scheint, als solle jeder einzelnen der gesichteten Quellen die Ehre der Erwähnung bzw. des Zitats zuteil werden. Oder warum muss man beispielsweise wissen, was die ,,Pommersche Tagespost" zu einem überregionalen Phänomen zu sagen hatte (S. 131)? Etwas mehr exemplarisches Zitieren hätte dem Lesefluss nicht geschadet. An einer Stelle begründet Barth seine ausgesprochene Zitierlust, wenn er in Anlehnung an Kurt Sontheimers Standardwerk ,,Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik" konzediert, dass ,,dem wörtlichen Zitat breite[r] Raum eingeräumt [wird], weil nur so das unglaubhaft scheinende glaubhaft wird" (S. 407). Dies allerdings wird man von vielen historischen Themen behaupten dürfen. Und so wird man auch künftig zu Sontheimers Buch greifen, um einen knappen und strukturierten Überblick über das rechte Spektrum der 1920er- und beginnenden 1930er-Jahre zu erhalten. Barths Buch ist dafür eine willkommene Ergänzung, die als breiter Quellenfundus ihren Stellenwert erhalten wird.

Rainer Pöppinghege, Paderborn


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | Dezember 2005