ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Gi-Chul Song, Die staatliche Arbeitsmarktpolitik in Deutschland zwischen der Revolution 1918/19 und der Währungsreform 1923/24 (Beiträge zur deutschen und europäischen Geschichte, Bd. 31), Krämer Verlag, Hamburg 2003, 456 S., kart., 39,90 €.

In der Forschung über die Anfänge der Weimarer Republik standen lange Zeit die großen Krisen im Vordergrund. Die Kämpfe der Revolution(1), das Chaos während der Inflation(2) und die verpassten Chancen bei der Gründung der Republik(3) sind gut erforscht und entfalten ihre Erklärungskraft im Hinblick auf die Frage, warum die Weimarer Republik so instabil gewesen ist. Diese aus der Perspektive ihres Untergangs gestellte Frage, ist in ihrer Bedeutung gar nicht hoch genug einzuschätzen, hat aber den Nachteil, dass die stabileren Zeiten, denen vielleicht eine erfreulichere Zukunft inne gewohnt hätte, und die erfolgreichen Politiken erst in den letzten Jahren in den Blick der Zeitgeschichtsforschung geraten sind.

Gi-Chul Song legt den Schwerpunkt seiner Dissertation auf die sogenannte ,,relative Stabilisierung" 1920/21 und die arbeitsmarktpolitischen Entlastungsmaßnahmen des Reichsarbeitsministeriums unter dem Zentrumspolitiker Heinrich Bauer in der Stabilisierungskrise 1923/24, die durchaus als erfolgreich gelten. Mit dieser Themenwahl versucht er bisher kaum erforschten Aspekte der Weimarer Politik zu durchleuchten.

Seine Zielsetzung ist es, alle arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen der frühen Weimarer Republik in den Blick zu nehmen: die öffentlichen Lohnersatzleistungen in Form von Arbeitslosen- und Kurzarbeiterunterstützung, arbeitsmarktpolitische Regulierungsversuche und beschäftigungs- sowie konjunkturpolitische Ansätze zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit (S. 32). Dabei konzentriert er seinen Staatsbegriff auf die nationalstaatliche Ebene, indem er die beiden arbeitsmarktpolitischen Akteure der Makro-Ebene, das Demobilmachungsamt und das Reichsarbeitsministerium, ins Zentrum rückt. Die Arbeitsmarktpolitik von Ländern und Kommunen wird allenfalls kursorisch berücksichtigt. Ausgehend von der staatlichen Arbeitsmarktregulierung während des Ersten Weltkrieges entwirft er ein detailliertes Bild der Maßnahmen des Demobilmachungsamtes in der Revolutionskrise 1918/19, in dessen Politik er den eigentlichen und entscheidenden Bruch mit der tradierten staatlichen Arbeitsmarkt- und Arbeitslosenpolitik zu erkennen meint: ,,Es waren die Demobilmachungsaufgaben, welche die Entwicklung der staatlichen Arbeitsmarktpolitik in der Weimarer Republik entscheidend vorantrieben" (S. 431). Die quasi-diktatorischen Vollmachten des Demobilmachungsamtes, die dem Amt durch das Demobilmachungsrecht zukamen, hätten die Einführung und den Ausbau der zentralen Arbeitsmarktpolitischen Instrumentarien wie der staatlichen Arbeitslosenunterstützung, der Förderung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen mit staatlichen Mitteln und das öffentliche, paritätische Arbeitsvermittlungssystem erst möglich gemacht. Im internationalen Vergleich seien die entsprechenden Erfolge bezüglich des relativ hohen Beschäftigungsstandes nach dem Ersten Weltkrieg abzulesen.

Durch die Schaffung des Demobilmachungsamtes sei die Frage, ob und inwieweit der Staat gegen die Arbeitslosigkeit und ihre Folgen intervenieren und welche Rolle er bei der Institutionalisierung und Absicherung der Arbeitsmarktbeziehungen übernehmen sollte, zunächst mit einer direkten staatlichen Reglementierung der Wirtschafts- und Beschäftigungsverhältnisse zur Entlastung des Arbeitsmarktes beantwortet worden. Die vom neugeschaffenen Amt getroffenen Maßnahmen hätten vor allem einen sozialpolitischen Impetus gehabt.

Fraglich sei zu diesem Zeitpunkt nur gewesen, zu welchem Zweck die staatlichen Eingriffe erfolgen sollten. Über diese Frage habe sich ein Kompetenzstreit zwischen Demobilmachungsamt und Reichswirtschaftsamt entwickelt, in dem sich in dieser frühen Phase dank seiner diktatorischen Vollmachten das Demobilmachungsamt durchsetzen konnte. Dieses versprach sich von einer Stärkung des freien Spiels der Wirtschaftskräfte eine schnelle Ankurbelung der Nachkriegswirtschaft und eine Wiederbelebung des Arbeitsmarktes,während jenes mit zwangswirtschaftlichen Konzepten liebäugelte. Nicht zuletzt dieser Bevorzugung der freien Marktwirtschaft gegenüber einer wie auch immer gearteten Zwangswirtschaft, sei es zu verdanken, dass die unmittelbaren Folgen der militärischen und wirtschaftlichen Demobilmachung auf dem deutschen Arbeitsmarkt im Frühjahr 1920 so schnell und erfolgreich bewältigt worden seien (S. 58-177, 431). Die marktwirtschaftliche Orientierung wurde auch beim Wechsel der arbeitsmarktpolitischen Kompetenz vom Demobilmachungsamt auf das Reichsarbeitsministerium beibehalten. Allerdings musste die staatliche Interventionspolitik in den noch folgenden politischen und sozialen Krisen bis zur Währungsreform 1923/24 zunehmend an die fiskalischen Notwendigkeiten angepasst werden. Während in der Revolutionskrise der sozialpolitische Aspekt im Vordergrund gestanden habe, sei mit dem Wechsel der Verantwortung für die Arbeitsmarktpolitik vom Demobilmachungsamt auf das Reichsarbeitsministerium zunehmend der konjunktur- und beschäftigungspolitische Aspekt zur Ankurbelung der Wirtschaft in den Vordergrund getreten, dem durch die inflationäre Situation enge Grenzen gesetzt gewesen seien. Kenntnisreich entwickelt Gi-Chul Song die Stationen der Erwerbslosenfürsorge, von der ursprünglichen Fürsorgeleistung über die produktive Erwerbslosenfürsorge hin zur beitragsfinanzierten Erwerbslosenfürsorge, die zur Vorstufe des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung von 1927 wurde. Er zeigt die enge Koppelung mit Maßnahmen zur Notstandsarbeit und Kurzarbeiterunterstützung auf und weist nach, dass das Reichsarbeitsministerium im Winter 1920/21 eine aktive Konjunktur- und Beschäftigungspolitik betrieben habe, die aber durch den Währungsverfall bis 1923 zunehmend reaktiv geworden sei. Es sei dem Reichsarbeitsministerium aber im Laufe des Jahres 1923 wieder gelungen, aktiv zu werden. Durch die Umstellung der Erwerbslosenfürsorge auf das beitragsfinanzierte Versicherungsprinzip habe es wesentlich dazu beigetragen, die neueingeführten Rentenmark zu stabilisieren (S. 178-421, 432).

Insgesamt hat Gi-Chul Song eine detaillierte Darstellung der Entwicklung der staatlichen Arbeitsmarktpolitik in Deutschland 1918-1924 abgeliefert, die dazu ansetzt, eine Lücke der Forschung über die Weimarer Arbeitsmarktpolitik zu schließen. Allerdings bleiben einige Aspekte im Dunkeln. So beschreibt Gi-Chul Song kenntnisreich die eingeleiteten neuen Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt, aber leider beleuchtet er nicht annähernd so ausführlich die dahinterstehenden Konzepte, Ideen und Erwartungen. Auch die Effekte der Maßnahmen bleiben auf einer deskriptiven Ebene. Analytisch tiefergehende Urteile, wie ,,Der Weimarer Staat riskierte [...] durch die zunehmende Verwicklung in die sich verschärfenden Interessenkonflikte der Tarifparteien auf dem Arbeitsmarkt die Politisierung der ökonomischen Verteilungskämpfe und damit die zunehmende Belastung des politischen Systems" (S. 434), bleiben die Ausnahme und lassen sich bei Johannes Bähr(4) oder Gerald D. Feldman(5) sehr viel pointierter nachlesen.

Andrea Rehling, Tübingen


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