ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hélène Roussel/Lutz Winckler (Hrsg.), Rechts und links der Seine. Pariser Tageblatt und Pariser Tageszeitung 1933-1940 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 89), Niemeyer Verlag, Tübingen 2002, 373 S., brosch., 64,00 €.

Es gibt wohl kein Periodikum des deutschen Exils nach 1933, das so oft und unter so viel verschiedenen Aspekten Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen ist. Mit dem vorliegenden Sammelband, der die Ergebnisse einer interdisziplinären deutsch-französischen Forschergruppe vorstellt und hier eine - unverdient späte - kritische Würdigung erhält, scheinen nunmehr so gut wie alle Felder abgedeckt zu sein.(1)

Hélène Roussel führt in die Geschichte unter der Doppelüberschrift: ,,Das deutsche Exil in den dreißiger Jahren und die Frage des Zugangs zu den Medien - Pariser Tageblatt und Pariser Tageszeitung im Kontext der deutschen Exilpresse" ein (S. 15-35). Am Ende des Bandes steht der ,,Abschied von Paris", thematisiert unter dem Aspekt, ob und wie der soziokulturelle Hintergrund der vor dem Nationalsozialismus geflohenen Redakteure und Mitarbeiter in Pariser Tageblatt (PTB), dessen Nachfolgerin Pariser Tageszeitung (PTZ) und in anderen Periodika weiterwirkten. Thomas Stephan zeichnet ,,Palästina im Spiegel der Berichterstattung" unter der Fragestellung ,,Exil oder Heimat?" politisch-chronologisch nach (S. 335-350). Angesichts der Politik des Mandatsträgers Großbritannien einerseits und der mit der Einwanderung von über 300.000 aus dem Deutschen Reich geflohenen Juden verbundenen vielschichtigen Probleme noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges andererseits, kommt er zu dem Ergebnis: ,,Für viele war diese Frage längst nicht mehr erheblich - es ging ums pure Überleben" (S. 350). Daniel Azuelos konfrontiert die Lebensentwürfe und die Erwartungshaltungen der zur Zeit der Gründung des Aufbau in New York 1934 bereits amerikanische Staatsbürger gewordenen, aus Deutschland und Osteuropa gekommenen Juden und der neu eintreffenden Flüchtlinge jüdischer Provenienz, wie sie sich in dieser Wochenzeitung spiegeln, wobei liberale und orthodoxe Vorstellungen quer durch die ´Gruppen` zu gehen scheinen. Den Konsens hat er im Titel seines Beitrags eingefangen: ,,Vom Pariser Tageblatt und der Pariser Tageszeitung zum Aufbau - vom liberalen Selbstverständnis zum wiederentdeckten Judentum" (S. 351-362).

Manche Bereiche, die der ein oder andere Autor in einer früheren Publikation beleuchtet oder auch nur angedacht hat, wurden jetzt vertieft oder aus anderer Perspektive erneut betrachtet. Umgekehrt finden sich auch Abrisse von größeren Darstellungen und Dokumentationen, auf die man wieder neugierig wird. Die Herausgeber selbst knüpfen in ihrer oben genannten ,,Einleitung" an einen gemeinsam verfassten Artikel aus dem Jahre 1989 an, in dem die Frage nach einer von PTB bzw. PTZ wohl oder nicht geleisteten ,,publizistischen Akkulturation" gestellt und letztlich positiv beantwortet worden war. Die dort ermittelten Bedingungen und Stadien des ,,deutsch-französischen Kulturtransfers" dienen ihnen als Leitfaden für die Einteilung der einzelnen Beiträge in vier Rubriken.

Zum Thema ,,Politik - Entwürfe symbolischer Identität" betrachtet Dieter Schiller zunächst mit freierem Blick, als es vor 1989/90 möglich war, politische und kulturelle Ereignisse und Persönlichkeiten des ‚Widerstands` in Vergangenheit und Gegenwart. Anhand der Fragestellung: ,,Das Exil als das ‚andere Deutschland`?", ,,Die Formel von den zweierlei Deutschland" nimmt er dabei (Leit-)Artikel, Reden, Berichte über Gedenkfeiern und dergleichen unter die Lupe (S. 39-55). Er kommt zu dem Schluss, dass nur wenige Autoren den Blick auf und für die Realität behielten, das Gros aber je länger desto mehr zu ,,Repräsentanten und Sprecher[n] eines sich immer mehr ins Imaginäre verflüchtigenden anderen, besseren und wahren Deutschland" wurden (S. 55). Die ,,leicht veränderte Fassung" eines 1990 publizierten Aufsatzes von Lutz Winckler über ,,Der 14. Juli - Aneignung eines Mythos", schließt hier gut an (S. 57-72). Winckler geht den Wandlungen zwischen 1934 und 1939 von ,,discours" und ,,parcours" der Französischen Revolution von 1789 nach, wie sie sich in Leitartikeln, Kommentaren und speziellen Beiträgen von Emigranten und von Franzosen über Menschenrechte, Revolution, Freiheit, Gleichheit und in den Berichten über die offiziellen Feiern sowie die Volksfeste auf den Straßen manifestieren. Aus dem Rahmen dieses Abschnittes scheint auf den ersten Blick der Beitrag von Ursula Prutsch, ,,Prophetischer Pessimismus,` Joseph Roths Exilpublizistik", herauszufallen (S. 73-91). Mit Hinweisen auch auf Erzählungen und Romane arbeitet die Autorin die Themen heraus, die Roth in seinen Feuilletons anschnitt. Diese laufen, wiewohl nicht implizit politisch-programmatisch Stellung nehmend, durchweg auf das Gleiche hinaus: Auf die Anklage gegen und Verachtung für die verschiedenen Arten und Formen der Korrumpierung und der Anbiederung von Meinungsmachern an Totalitarismus, Nationalsozialismus, Barbarei oder anders gewendet: des Verrats von Publizisten und Politikern an der Menschenwürde, zu aller erst an der eigenen. Nimmt man indes Roths im Exil in Paris selbstgewählte Existenz als trinkender, aber nüchterner Beobachter der Menschen und der Welt von einer ,,Taverne an einer Straßenecke" (S. 73) aus als Kriterium, so lässt sich die Platzierung dieses Beitrags unter ,,Politik - Entwürfe symbolischer Identität" durchaus vertreten.

Die Rubrik ,,Vermittler" umfasst sechs Beiträge: Gilbert Badia ordnet die beiden in PTB/PTZ verwendeten Pseudonyme des französischen Sozialisten, Analysen der französischen Innenpolitik bzw. außenpolitischen Betrachtungen zu ("Salomon Grumbach - ein anonymer Interpret französisch-deutscher Politik", S. 95-113). Karl Holl legt in ,,Hellmut von Gerlach" dessen physisch aufreibendes Leben als ,,Demokrat, Pazifist, Freund Frankreichs im Pariser Exil" und, so ist hinzuzufügen, Anwalt der Verfolgten, dar (S. 115-127). Ines Rotermund zeigt auf, dass Paul Westheim in PTB/PTZ fortsetzt, womit er in Berlin, in seinem Kunstblatt aufgehört hat: transnationaler Mediator national geprägter Kunst zu sein, wobei er allerdings im Exil den ,,Aspekt des sozialkritischen Engagements" stärker betont habe ("Die Realität des Visuellen. Der Kunstkritiker Paul Westheim und die französische Kunst", S. 129-144, Zitat S. 143). Erudit vergleichend interpretiert Lutz Winckler die unterschiedlichen, mit eindeutig verschiedenen Pseudonymen versehenen Feuilletons des sozialdemokratischen Publizisten und Politikers Hermann Wendel über Frankreich und speziell über Paris als geprägt vom ,,Mythos" - eine beliebte Vokabel Wincklers - der Französischen Revolution und der quasi archäologischen, auch träumerischen Suche nach politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Geschichts-Orten in der Gegenwart ("Hermann Wendel - ein Grenzfall", S. 145-157). ,,Ferdinand Hardekopfs Standort zwischen Frankreich und Deutschland. Seine Rolle als Vermittler zwischen französischer und deutscher Kultur und als Gedächtnis des Exils", ist das nächste Thema von Hélène Roussel (S. 159-182). Die ersten zwölf Seiten mit den Werdegängen dieses individualistischen Bohemiens inmitten und zwischen allen politischen und künstlerischen Strömungen in Deutschland, in der Schweiz und in Frankreich bis 1933 dienen zum Verständnis der ,,intensive[n] Mitwirkung bei der Exilpresse." Der Wanderer zwischen den Welten findet anscheinend, so die Autorin vorsichtig, ,,ein neues Identifikationsmuster als deutscher Exilierter" (S. 170). Die Fixpunkte von Hardekopfs Existenz waren und blieben jedoch, wie hier deutlich wird, seine Tätigkeit als Übersetzer deutscher und französischer Dichter und Schriftsteller, insbesondere André Gides, seine Ablehnung jedweder Mauschelei und seine unbedingte Treue zur unabhängigen, kritischen Meinung. Mit Sacha Zilberfarb's ,,Flanerie in einigen Pariser Texten von Franz Hessel" (S. 183-203) sind wir auch sprachlich wieder ein Stück näher an Lutz Wincklers Interpretation von Hermann Wendel.

Der umfangreiche Feuilleton-Teil von PTB/PTZ wird im folgenden Abschnitt, getitelt ,,Zwischen den Kulturen: Institutionen der Vermittlung", aufgeblättert in folgende fünf Sparten: ,,Literaturkritik" (S. 207-218) - eine pointierte Zusammenfassung von u. a. den vier wichtigsten Funktionen der Literaturkritik, die die Autorin Michaela Enderle-Ristori ausführlich in ihrem Buch ,,Markt und intellektuelles Kräftefeld."(2), untersucht hat; ,,Filmseite/ Filmkritik / Filmberichte" (S. 219-234) - worin Helmut G. Asper die ,,[z]wischen Unterhaltung, Information und Aufklärung" angelegten Sichtweisen auf Filme aus Hollywood, Frankreich, Sowjetunion, NS-Deutschland und über den Kampf der republikanischen Seite im Spanischen Bürgerkrieg skizziert; ,,Theaterkritik", von Claudie Villard (S. 235-250), legt dem Umfang in beiden Zeitungen gemäß den Schwerpunkt auf Exiltheater auch außerhalb von Paris bzw. Frankreich, auf die ,,wenigen Aufführungen von Exilstücken in Paris" (S. 237) und deren das Künstlerische übersteigende Funktion der Sammlung im Exil und des ´Kulturtransfers`; worum sich vor allen Alfred Kerr und Robert Breuer sorgten; echte Kommunikation zwischen französischen und exilierten Künstlern und zwischen Bühne und Saal scheint einzig das Kabarett zuwege gebracht zu haben - bis auch hier, wie auf anderen Gebieten, die zunehmenden politischen Kontroversen die Integrationsprozesse zerstörten; ,,Musikberichterstattung" (S. 251-260) - hier fokussiert Klaus Mävers auf ,,Kontinuität und Diskontinuität [...] - Paul Becker und danach"; schließlich Bildende Kunst, zu welchem Thema Ines Rotermund ,,Pariser Kunstgalerien der dreißiger Jahre." ,,Auf den Spuren des Kunstflaneurs Paul Westheim" mit Lageplan vorstellt (S. 261-267, der Titel des Beitrags lautet anders herum).

Die Faszination der Herausgeber und der Autoren für die Metropole an der Seine und das Leben der Menschen vor allem der Exilanten in ihr kommt noch einmal im Titel der vorletzten Rubrik zum Tragen: ,,Paris zwischen Alltag und Mythos". Arne Kapitza und Markus Labude schauen sich den eigentlich gar nicht als solchen vorhandenen ‚Lokalteil` von PTB/PTZ auf ,,Helfer und Mittler im Exilalltag" an und subsumieren unter den chronologisch aufgelisteten wechselnden Seitentiteln, die bis in die Provinz gehen, fünf konstante Themenbereiche, von ,,Human Interest"-Berichten bis zu Inseraten (S. 271-284). Lutz Winckler widmet sich der ,,topografischen und imaginären Lektüre von Paris", illustriert mit Zeichnungen und Texten von Karl Arnold, unter einem seiner Lieblings-Termini: ,,Paris-Mythos im Feuilleton" (S. 285-310, Hervorhebung von U.L.-A.), und last but not least kommt noch einmal Paul Westheim zu Wort in dem interpretativen Artikel ,,Stadtgeschichte von Paris in Texten Paul Westheims" von Hélène Roussel und Peter Rautmann (S. 311-332).

Ein Namenregister beschließt diesen Sammelband, der durch die doppelten Brillen - die der Redakteure und Mitarbeiter der beiden Pariser Tageszeitungen und die der Autoren - ein sowohl konzentriertes als auch weit gefächertes Bild mit vielen Facetten von ,,Rechts und links der Seine" vermitteln und den man gern, trotz einiger Manierismen, immer mal wieder zur Hand nimmt: ,,Wie war das noch mal?"

Ursula Langkau-Alex, Amsterdam


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | Dezember 2005