Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Rolf Schörken, Die Niederlage als Generationserfahrung. Jugendliche nach dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft (Materialien zur Historischen Jugendforschung), Juventa, Weinheim/München 2004, 190 S., brosch., 24,50 €.
Ein bisschen sonderbar ist dieses Buch schon. Halb wissenschaftlich, halb autobiografisch; streckenweise recht salopp, dann wieder in den wohlgesetzten Worten eines Emeritus geschrieben. Rolf Schörken, Jahrgang 1928, hat ein Buch verfasst, das er vor allem als ,,Erfahrungsgeschichte" (S. 185) verstanden wissen möchte: als Erfahrungsgeschichte der sogenannten 45er-Generation, der die Forschung bereits viele Etiketten verliehen hat. Mal versuchte sie die Altersgruppe der zwischen 1922 und 1930 Geborenen mit dem Begriff ´Hitlerjugendgeneration` zu fassen, mal entschied sie sich für den Terminus ´Luftwaffenhelfergeneration`, oder aber sie bediente sich des oft bemühten Schelsky-Ausdrucks ,,skeptische Generation."
Wie schon angedeutet, rekurriert der Verfasser nicht nur auf die in Memoiren greifbaren Erfahrungen anderer 45er, sondern öffnet auch die Truhe seines eigenen Schatzes von Erinnerungen an Krieg, Gefangenschaft und Schulzeit in den ,,undeutlichen Jahren" (S. 111) zwischen 1946 und 1948. Dabei versucht er sich - methodisch geschulter Historiker, der er ist - an der Lösung der prekären Aufgabe, jene verschiedenen Erinnerungsschichten in einem Prozess analysierender Selbstreflexion freizulegen, die sich maßgeblich in Auseinandersetzung mit der geschichtswissenschaftlichen Forschung sedimentierten. Ob es tatsächlich möglich ist, die kaleidoskopartige Evokation bruchstückhafter Erinnerungsmosaike an die Konjunktur bestimmter historiografischer Trends zu koppeln, wie Schörken mit seinem Parforceritt durch die theoretischen Ansätze der Wissenschaft suggeriert (von der Totalitarismus- über die Faschismustheorie zur Oral-History-Methode), mag man bezweifeln. Jedoch lassen sich seine mentalitätshistorischen Überlegungen zu den spezifischen Charakterzügen seiner Alterskohorte durchaus mit Gewinn lesen.
Aus den an unterschiedlichen Einzelschicksalen veranschaulichten janusköpfigen Erfahrungen von Niederlage und Befreiung, welche die 45er im Jahr des Kriegsendes und während der Wirrnisse der unmittelbaren Nachkriegszeit machten, kann der Verfasser die geistig-kulturellen Signaturen seiner Generation plausibel ableiten. Freilich sollte hier der gerade in den vergangenen Jahren wieder verstärkt diskutierte Generationenbegriff nicht gesamtgesellschaftlich verstanden, sondern Schörkens Auswertung autobiografischer Texte gemäß eher auf bildungsbürgerliche Schichten appliziert werden. Wie der emeritierte Geschichtsdidaktiker zu Recht betont, werden Autobiografien schließlich in der Regel (sieht man von deutschen Celebrity-Zwergen der jüngsten Zeit ab) ,,von Autoren und Autorinnen geschrieben, die ein hohes Maß an Bildung und Reflexion in ihre Bücher einbringen" (S. 185). Man denke etwa an so kluge Gelehrte und Intellektuelle wie Ralf Dahrendorf, Günter de Bruyn oder Dietrich Geyer. Darüber hinaus weist Schörken auf die notwendige altersmäßige Differenzierung innerhalb der 45er nach bestimmten ,,Grenzen im Erleben" (S. 21) hin. Gehörten die Jahrgänge 1922 bis 1925 noch zu den jungen Frontsoldaten, stellten die darauffolgenden drei Jahrgänge das Gros der Luftwaffenhelfer. Die 1929 und 1930 Geborenen wurden kaum mehr eingezogen, mitunter aber vom ´Volkssturm` erfasst.
Zweifellos waren es gerade die ,,im Halbdunkel liegenden Jahre der Besatzungszeit" (S. 186), die den Sozialisationserfahrungen in der ,,Normalwelt" (S. 14) des ´Dritten Reiches` entscheidende kognitive Lernprozesse folgen ließen. Ebendiese Veränderungen im geistigen Kosmos von Vorstellungen und Einstellungen sollten maßgeblich dazu beitragen, dass aus der nationalsozialistischen ´Volksgemeinschaft`, langfristig betrachtet, ein überwiegend pluralistisch-liberal verfasstes Volk demokratischer Staatsbürger wurde. Denn kaum eine Generation hat die politische Kultur der Bundesrepublik so geprägt wie die der 45er. Mögen dies auch manche Vertreter der ideologisch aufgeregten 68er-Generation anders sehen: Es war in erster Linie die vor dem Erfahrungshintergrund von Krieg und Diktatur agierende Alterskohorte eines Karl Dietrich Bracher, Wilhelm Hennis oder Kurt Sontheimer, die mit ihrer tiefen Skepsis gegenüber allem Totalitär-Übersteigertem und ihrem großen Engagement für politische Bildung und Aufklärung unter freiheitlich-demokratischen Vorzeichen das Fundament legten, auf dem sich - zusätzlich befördert durch eine damals wie heute kaum vorstellbare wirtschaftliche Prosperität - ein stabiles parlamentarisches Staatswesen entwickeln konnte.
Die 45er: Das waren jene, deren Jugend ,,von einer gewaltigen historischen Katastrophe förmlich durchschnitten" wurde, die Niedergang und Kollaps des ,,Dritten Reiches" mit der ,,Aufmerksamkeit der Heranwachsenden" erlebten und die in den Jahren der Besatzung, mitten ,,in einer Lebensphase besonderer Bildsamkeit", ,,zu Selbständigkeit erwachten" (S. 5, 11), wie Schörken leicht emphatisch formuliert. Große Bedeutung für die Richtungsgebung der mit und nach 1945 einsetzenden Lernprozesse misst der Autor dem Einfluss solch literarischer Größen wie Thomas Mann bei, den er - wie übrigens auch Kurt Sontheimer - Mitte der 1950er-Jahre nicht ohne Grund zum Gegenstand seiner Dissertation auserkor. Für ihn war Mann eine ,,wahre Hermes-Gestalt", ein ,,Öffner der Wege" (S. 133) in Kultur und Politik, der Licht in den ,,Schlagschatten des Krieges" (S. 131) brachte und der die zentralen Kategorien und Denkfiguren vermittelte, die einem Großteil der 45er bei Kriegsende noch völlig unbekannt waren. In liberal-demokratischen Größen aus der literarischen Sphäre suchte und fand der Autor zusammen mit anderen Angehörigen seiner ,,geistig ausgetrockneten Generation" (S. 23) jene sinnstiftende Orientierung, die mit dem totalen Zusammenbruch der NS-Herrschaft und der damit verbundenen Auflösung des totalitären Begriffssystems abhanden gekommen war. Treffend umschreibt Schörken die sich tief in das Bewusstsein eingrabenden soziokulturellen ,,Freiheitserfahrungen" (S. 15), die seine Alterskohorte nach den desillusionierenden Sinnlosigkeits- und Ohnmachtserfahrungen von 1945 sammelte, mit dem Wort ,,Öffnungen" (S. 127). Ein ,,reges geistiges Leben" (S. 15) habe sich in informellen Kreisen und Zirkeln entfaltet, begleitet durch den amerikanischen Kulturtransfer in so wichtigen Segmenten des Alltags wie der Musik. Nicht zufällig fühlt sich der Autor gerade dem Jazz verbunden und gibt damit eine musikalische Prägung zu erkennen, die der nachfolgenden Generation der Rockmusik diametral entgegenstand. Die etwa auch vom Jazzfan Eric Hobsbawm in seiner vielgelesenen Autobiografie plastisch geschilderten Kommunikationsbarrieren zwischen seiner Altersgruppe und jener der 68er hatte durchaus eine musikalische Dimension. In vielerlei Hinsicht waren es grundverschiedene generationelle Stile, die seit dem Ende der 1960er-Jahre vornehmlich im universitären Milieu aufeinander trafen.
Gerade in Konfrontation mit der an Utopien und Emotionen reichen Studentenbewegung treten die Charakteristika der 45er hervor, die den politisch aktiven Studenten, wie der Autor seine eigene, exemplarische Haltung beschreibt, erst mit ,,Sympathien", dann mit wachsender ,,Abneigung" (S. 186) begegneten. Die überwiegend in Frieden und Wohlstand aufgewachsenen 68er, so lassen sich die gravierenden Mentalitätsunterschiede auf den Punkt bringen, hatten nun einmal einen anderen ,,Erlebnisbestand" (S. 59) als die zunächst in der totalitär-"natürlichen Ordnung des Unnormalen" (Imre Kertesz), dann in der ,,Trümmer- und Hungerwelt" (S. 67) der Nachkriegszeit großgewordenen 45er. Deshalb dachten sie anders und handelten anders. Letztere hatten zum Zeitpunkt der Studentenrevolte ihre Lektion fürs Leben schon gelernt, ersteren stand sie noch bevor.
Riccardo Bavaj, St. Andrews (UK)