Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Heiko Scharffenberg, Sieg der Sparsamkeit. Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in Schleswig-Holstein (Institut für schleswig-holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte, Schriftenreihe, Bd. 7), Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 2004, 240 S., geb., 24,00 €.
Seit Ende der 1980er-Jahre untersuchen Historiker den Forschungsgegenstand der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts, doch bislang ging die Analyse des Teilbereichs der Entschädigung von NS-Verfolgten nicht über eine Thematisierung politikgeschichtlicher Aspekte hinaus. Zwar betonten sie immer wieder die Notwendigkeit, auch der konkreten Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben nachzugehen, um dadurch unterhalb der Ebene staatlicher Rechtsakte Einblicke in die Auseinandersetzung der Deutschen mit den Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus zu gewinnen; Vorhaben dieser Art mussten jedoch an den Sperrfristen für die dafür notwendigen Einzelfallakten der Administration scheitern.
Das langbestehende historiographische Desiderat der Erforschung der Entschädigungspraxis kann durch die Regionalstudie Heiko Scharffenbergs ein Stück weit geschlossen werden. Aufgrund einer Änderung des Archivgesetzes Schleswig-Holsteins war ihm die Einsichtnahme in Wiedergutmachungsakten möglich. Mithilfe dieser Quellen hinterfragt er die Abwicklung der Entschädigung in Verwaltung und Justiz von 1945 bis in die 1960er-Jahre hinein, die Ermessensspielräume involvierter Akteure aus Administration, Jurisprudenz und Medizin, den Einfluss lokaler Opferverbände und die Gründe für den Ausschluss ganz bestimmter Opfergruppen aus dem exklusiven Kreis der Anspruchsberechtigten. In drei Kapiteln, deren Periodisierung der sich verändernden legislativen Zuständigkeit für die Wiedergutmachung folgt, werden die zahlreichen Aspekte untersucht.
Zunächst blickt der Autor auf die von der Britischen Militärregierung erlassene Zonenanweisung zur Unterstützung der NS-Opfer aus dem Jahr 1945, die ein Prinzip von Inklusion und Exklusion aufwies, das auch in nachfolgenden Entschädigungsgesetzen Verwendung fand: Lediglich die Antragssteller, die aufgrund ihrer ,,Rasse", ihrer politischen Einstellung und ihres Glaubens verfolgt oder aus neutralen Ländern verschleppt worden waren, hatten Aussicht auf sogenannte Sonderhilfe. Geschädigte, denen die Sonderhilfsausschüsse - ihnen oblag die Umsetzung der Zonenanweisung - einen ,,schlechten Charakter" nachsagten, wurden dagegen vollständig von finanziellen Unterstützungen ausgeschlossen. Am Fallbeispiel des Flensburger Sonderhilfsausschusses, der sich aus ehemaligen politisch und ,,rassisch" Verfolgten zusammensetzte, kann Scharffenberg die Diskriminierung von ,,Asozialen", ,,Zigeunern" und ,,Kriminellen" belegen. Gegenüber anderen Verfolgten zeigte sich das Gremium indessen recht freigiebig, wobei hier die vom Autor konstatierte halboffizielle Position des örtlichen Bundes politisch Verfolgter bemerkenswert ist, der innerhalb des Vergabeverfahrens Mitspracherecht besaß. Dieser Machtposition verdankten mitunter zwei Drittel der Antragsteller ihre Sonderhilfen.
Im zweiten Teil der Studie wird die Durchführung der 1948/1949 neugeschaffenen landeseigenen Renten- und Haftentschädigungsgesetze thematisiert. Diese markierten nicht nur eine verwaltungs- und verfahrenstechnische Zäsur, sondern erschufen für die Antragsteller neue Hürden beim Erhalt von Leistungen. Hierzu zählten das Territorialprinzip, eine verstärkte Beweispflicht und die Festsetzung eines bestimmten Grades, der durch die Verfolgungsmaßnahmen entstandenen Behinderung. Mit Erlass der Gesetze ging eine Verschiebung der Entscheidungskompetenz einher, wobei die Befugnisse der Sonderhilfsausschüsse beschnitten wurden und die Opferverbände ihren bisherigen Einfluss vollständig einbüßten. Zwar entschieden die Sonderhilfsausschüsse bis 1953 weiterhin über die grundlegende Anerkennung der Antragsteller und ihrer Rentenansprüche, dies geschah gegenüber sogenannten ,,Asozialen", ,,Zigeunern" und ,,Kriminellen" genauso restriktiv wie in den Vorjahren. Die endgültige Entscheidung und damit auch die Vergabe von finanziellen Mitteln lag jetzt allerdings in der Hand des Kieler Innenministeriums. Dort bestand das Interesse zu jener Zeit darin, Kosten durch die Einsetzung diverser Kontrollinstanzen zu reduzieren. Da das für die Wiedergutmachung zuständige Referat im Innenministerium die Sparpläne nicht effizient umsetzte, kürzte das Finanzministerium den Etat und forderte weitere Einsparungen durch ,,kritische" Gutachten bei der Nachuntersuchung von Rentenempfängern. Am Beispiel der Stadt Flensburg zeigt Scharffenberg auf, dass mit dieser Arbeit gezielt Mediziner in den Fachabteilungen der Krankenhäuser beauftragt wurden, die Anhänger der nationalsozialistischen Rassentheorie waren und die auf Verfolgungen beruhenden psychischen Erkrankungen der Opfer negierten, für welche das Land Entschädigungen hätte zahlen müssen. Die Politik der Exklusion durch Gutachten ,,kritischer" Sachverständiger wurde bis 1969 fortgeführt. Zwar hatten Antragsteller im Rentenverfahren die Möglichkeit, gegen ablehnende Bescheide zu klagen, die aus derartigen Gutachten resultierten. Allerdings war der zuständige Mediziner beim Oberversicherungsamt Schleswig ausgerechnet Werner Heyde alias Fritz Sawade, der zeitweilige Leiter der als ,,Euthanasie" bekannten ,,Aktion T4". Um Unauffälligkeit bemüht, bestätigte er stets die Befunde der Kollegen.
Im Vordergrund des dritten Kapitels stehen Organisation, Arbeitsweise und Vergabepraxis des Landesentschädigungsamtes in Kiel seit Erlass des Bundesergänzungsgesetzes (BErG) 1953. Das BErG enthob die Sonderhilfsausschüsse ihrer Funktion und bürdete die Untersuchung der Anträge allein den Entschädigungsämtern auf, die nun hoffnungslos in Arbeit versanken. Am Beispiel der Kieler Behörde legt der Autor die anfangs mangelhafte Organisation und Personalknappheit dar. ,,Langsam und emotionslos" verrichtete der ,,korrekte Beamte" dort seine Arbeit am Verfolgten (S. 182). Zwar hätte jener Beamte Möglichkeiten der Einwirkung anhand der Art der Beweisführung, der Berufung von Gutachtern und der Auslegung von Verfolgungsumständen gehabt, diese wurden jedoch nur selten genutzt. Auf die Vergabepraxis des Entschädigungsamtes hatten derweil die einzelnen, miteinander konkurrierenden Opferverbände keinen Einfluss mehr; ihnen blieb die Funktion einer Beratungsstelle für NS-Verfolgte.
Um Aussagen über die Person der Antragsteller und über die Praxis der Entschädigung machen zu können, hat der Autor 295 Einzelfallakten des Landesentschädigungsamtes Kiel analysiert und anhand der darin enthaltenen Angaben zahlreiche Statistiken generiert. Sie informieren zum einen über die prozentuale Verteilung einzelner Verfolgtengruppen, die durchschnittliche Verfahrensdauer, das Alter und den Beruf der Antragssteller sowie über Anerkennungs- wie Ablehnungsquoten der Anträge. Zum anderen dienen sie als Datenbasis, um die eigenen statistischen Angaben des Entschädigungsamtes kritisch zu hinterfragen. Sinnvoll erscheint die nachfolgende Analyse des Entscheidungsverhaltens der Sachbearbeiter hinsichtlich der unterschiedlichen Verfolgtengruppen. Benachteiligt oder vollkommen ausgeschlossen waren sogenannte ,,Asoziale", ,,Kriminelle", Zwangssterilisierte und ,,Zigeuner." Politisch Verfolgte hatten bessere Aussichten auf Entschädigungszahlungen. Hier soll laut Scharffenberg das Land Schleswig-Holstein zur Zeit des ,,Kalten Krieges" eine Ausnahme darstellen, da auch Kommunisten berücksichtigt wurden. Die höchste Anerkennungsquote ist bezüglich Juden und ,,religiös" Verfolgten vorzuweisen. Im Umgang mit Juden zeigte sich die Behörde besonders sensibel und wohlwollend. Ganz anders verhielten sich die Mediziner und Juristen gegenüber den Verfolgten. Erst 1969, als die letzte Frist der Antragstellung verstrich, änderten die medizinischen Gutachter ihre Vorgehensweise im Hinblick auf die Anerkennung psychischer Nachfolgeerkrankungen der Opfer. Auch die Richter der Entschädigungskammern beim Landgericht Kiel arbeiteten Scharffenberg zufolge mit ,,Hirn, aber nicht mit Herz" (S. 222). So wurden zwei Drittel der anhängigen Klagen abgewiesen, die übrigen waren zumindest teilweise erfolgreich.
Die Studie verleiht der Wiedergutmachungsforschung durch die erstmalige Analyse konkreter Einzelfälle eine neue Qualität und liefert wichtige Einblicke in das Entschädigungsverfahren und in das Verhalten der mit der Umsetzung beauftragten Personen. Erkenntnisreich sind die quantitative und qualitative Analyse der Fallakten, die gelungene Untersuchung der Tätigkeit von medizinischen Sachverständigen und die Revision offizieller Zahlen über Ablehnungs- und Anerkennungsbescheide der lokalen Behörden und Gerichte. Scharffenberg kann nachweisen, dass sich die Realität der Vergabe für den Antragsteller weit hoffnungsloser gestaltete als dies amtliche Statistiken zunächst behaupteten. Interessant sind zudem seine Feststellungen bezüglich der in weiten Teilen gescheiterten sozialen Reintegration der NS-Verfolgten. Dies behandelt er leider als Marginalie in einer Zwischenbilanz. Doch der ,,Sieg der Sparsamkeit" birgt auch einige Schwächen, die vornehmlich mit der Konzeption der Arbeit zusammenhängen. Die Vielzahl der eingangs erwähnten Fragestellungen kann der Autor nicht immer gleich erschöpfend und argumentativ schlüssig beantworten. Negativ kommt sein monokausaler, allein auf die Sparpolitik des Landes versteifter Erklärungsansatz hinzu, der seine Einschätzung über das Scheitern der Wiedergutmachung tragen mag, ihm jedoch den Blick auf andere mögliche Deutungen verstellt. So muss gefragt werden, welchen Nutzen sich beispielsweise die Ärzte davon versprachen, als Handlanger die Sparpolitik der Landesministerien zu bedienen? Müssen bei der Untersuchung der Handlungsmotive dieser Protagonisten ihre Biografien nicht stärker berücksichtigt werden? Nun ist es keinesfalls so, dass Scharffenberg dies gänzlich unterlässt, ein biografischer Zugang ist jedoch nicht zentral für seine Interpretation.
Auch die Bewertung weiterer Befunde offenbart Schwächen. Wenig differenziert erscheint beispielsweise seine Beurteilung der Arbeit des Flensburger Sonderhilfsausschusses, dem er große Weitherzigkeit attestiert. Er lässt allerdings außer Acht, dass die Mitglieder jedoch rund ein Drittel der Anträge ganz bewusst ablehnten, nämlich solche, die von Zwangssterilisierten, ,,Asozialen" und ,,Kriminellen" gestellt worden waren. Ebenso überraschend ist die abschließende, nun nicht mehr auf Schleswig-Holstein, sondern auf die gesamte Bundesrepublik bezogene Kritik an der Wiedergutmachung als ,,fadenscheinige, halbherzige Aktion zur Beruhigung des Gewissens" (S. 223). Ein derart verallgemeinerndes Resümee kann Scharffenberg aufgrund seiner Ergebnisse, die - wie er selbst einräumt - nur für Schleswig-Holstein gelten, nicht ziehen.
Henning Tümmers, Bochum