ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Wenn man eine geschichtswissenschaftliche Monografie der 1990er-Jahre aussuchen müsste, die als besonders einflussreich und prägend für die Forschungslandschaft in Deutschland gilt, würden viele Historiker Norbert Freis ,,Vergangenheitspolitik"(1) auf den ersten Platz setzen. Vermutlich ist kein anderes Buch im letzten Jahrzehnt so häufig zitiert worden wie Freis bahnbrechende Studie. Man muss nicht mit allen Argumenten Freis übereinstimmen, um dem Buch seinen gerechten Platz in der Historiografie einzuräumen. Erst mit ,,Vergangenheitspolitik" wurde die Geschichte der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik aus den Händen der Publizisten und Polemiker genommen. Erst mit Freis Werk gelangte die Thematik in den Mainstream der deutschen Geschichtswissenschaft. Die Veröffentlichung von zwei Werken, die fast zehn Jahre später unter Freis Regie als Dissertationen entstanden sind, kann man von daher als die zweite Forschungswelle auf diesem Gebiet bezeichnen.

Marc von Miquels Studie über die Juristen und die Politik um die Verjährung von NS-Verbrechen und Claudia Moisels Abhandlung über die französische Strafverfolgung deutscher Kriegsverbrecher sind wichtige neue Beiträge zu der wachsenden Anzahl von Studien über die ´Verarbeitung` der Vergangenheit in den beiden deutschen Staaten nach 1949. Beide Werke zeigen, wie stark das Problem mit der Vergangenheit, besonders der juristischen, von außenpolitischen Faktoren beeinflusst wurde. Beide Werke bauen außerdem in unterschiedlicher Art und Weise auf Norbert Freis bisherigen Veröffentlichungen auf. Da die beiden Werke deutliche Unterschiede in der Konzeption zeigen, ist es jedoch ratsam, sie zuerst getrennt zu besprechen, bevor man auf weitere allgemeine Beobachtungen zurückkommt.

In ,,Ahnden oder amnestieren?" geht Marc von Miquel auf ein bisher frustrierend ignoriertes Thema der Vergangenheitsverarbeitung ein: auf die Rolle der Juristen. Bemerkenswert an seinem Buch ist, wie er aufzeigt, dass die Juristen in der Bundesrepublik ein Elitenetzwerk darstellten, in dem die Grenzen zwischen Parlament und Justizapparat fließend waren. Trotz der bereits vorhandenen Vermutungen ist das hier gezeichnete Bild schockierend. Mit fast krimineller Energie gingen belastete Juristen in ihren zum größten Teil erfolgreichen Versuchen vor, die Verfolgung von NS-Tätern, inklusive sich selbst, zu behindern, in die Irre zu führen und regelrecht zu sabotieren. Auf der Basis der Kontroverse um die belasteten Juristen, widmete sich der Autor anschließend den Debatten über die Verjährung von NS-Gewalttaten, vor allem den beiden großen Bundestagsdebatten von 1964/65 und 1968/69. Die Behandlung von zwei Konfliktfeldern in einem Band sei gerechtfertigt, ,,um deren enge Wechselwirkungen und kausale Verknüpfungen aufzeigen zu können" (S. 16).

Die Gliederung des Buches besteht aus zwei Teilen: einem ersten von etwa 140 Seiten und einem zweiten, der drei große Kapitel beinhaltet. Im ersten Teil geht es darum, die Bedeutung der Rolle der vom DDR-Propagandaorgan Ausschuß für Deutsche Einheit gesteuerten ,,Blutricher"-Kampagne zu erklären. Diese Kampagne wird von Miquel zu Recht als ein nicht unwesentlicher Faktor der negativen politischen und parlamentarischen Einstellungen gegenüber einer aktiveren Verfolgung der in der Bundesrepublik lebenden NS-Verbrechern hervorgehoben. Dabei wird konkret auf die Vorwürfe gegen die Bundesjustiz und die Konflikte um die brisanten Gerichtsakten des Dritten Reichs eingegangen. Im ersten Kapitel des zweiten Teils wird die Gründung der Zentralstelle in Ludwigsburg in einer bisher unbekannten Ausführlichkeit rekonstruiert. Ein besonderer Vorzug dabei ist die Darstellung des Ulmer-Einsatzgruppenprozesses (S. 150-162), der bisher erstaunlicherweise von keinem Historiker konsequent untersucht wurde. Von daher reicht die Bedeutung Miquels Studie über die engeren Fragen des juristischen Personals der Bundesrepublik weit hinaus.

Obwohl die Gliederung mit dem langen ersten Teil, der wichtige Hintergründe liefert, vielleicht nicht ganz geglückt ist, liefert diese Studie einen bedeutenden (neuen) Beitrag zur Forschung über die Konfrontation mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik. Miquels Darstellung zeigt vor allem die Kompliziertheit des Themas, nicht zuletzt weil er sich zwischen außenpolitischen Fragen, bundesdeutschen Parlamentsdebatten und der Paragraphentüftelei der Juristen agil bewegen muss. Einige spannende Archivfunde stimulieren immer wieder die Lektüre. Die eigentliche Stärke dieser Arbeit liegt in der Behandlung eines Dreiecks zwischen außenpolitischem Druck bzw. Kalkül, dem Justizapparat und dem Bundestag für die Zeit von etwa 1958 bis 1969. In mancher Hinsicht ist sein Band eine Art Fortsetzung von Freis ,,Vergangenheitspolitik." Es gibt jedoch einige Schwachpunkte in seiner Analyse.

Miquel hat vermutlich nicht unrecht mit seiner These, dass die Bundesregierung sich bemüht zeigte, Angriffe von ´außen` abzuwehren - und zwar nicht nur aus Ost-Berlin, sondern auch aus Großbritannien, dessen Regierung sich ,,anmaßte, auch nach dem Ende der Besatzungszeit über die Fortentwicklung der deutschen Demokratie zu wachen" (S. 372). Obwohl die Unterstreichung der Rolle der britischen Regierungen im Gesamtkomplex ,,NS-Vergangenheit" einer der wichtigsten Aspekte der Darstellung ist, fällt auf, dass sie nicht sehr stark auf britischen Primärquellen baut. Weder Archivakten noch gedruckte Quellen wurden herangezogen. Wenn britische Zeitungsartikel zitiert sind, stammen sie in der Regel aus Ausschnitten von deutschen Akten. Eine sorgfältiger recherchierte Quellenbasis für seine Aussagen über die britische Deutschlandpolitik wäre aber umso wichtiger gewesen, da seine an sich einwandfreie Einschätzung der Nichtanerkennungspolitik der Bundesregierungen im Bezug auf die DDR, doch etwas unter der Überlappung mit Annette Weinkes Studie über die Rolle der Vergangenheitspolitik in den innerdeutsche Beziehung zwischen 1949 und 1969 leidet.(2)

Ein weiteres Problem stellt sein Umgang mit der These, dass die ,,Volksgemeinschaft" als mentaler und ideologischer Orientierungspunkt bis in die 1960er-Jahre hinein ungebrochen blieb, dar. Miquel geht immer von der Grundannahme aus, dass die Justiz so erfolgreich in ihren Vertuschungsmanövern war, weil wesentliche Teile der westdeutschen Bevölkerung ähnliche Ansichten über die Verfolgung von NS-Verbrechen hegten. Er ist sogar überzeugt, dass sich niemand für die Verfolgung von NS-Tätern interessierte, legt allerdings nur ungenügende Beweismaterialien vor. Eine derart zentrale These kann aber nicht nur auf unkritischen Erwähnungen einiger Meinungsumfragen beruhen. Darüber hinaus fehlt die Überzeugungskraft seiner Behauptung, dass die Presse völlig abgekoppelt von der öffentliche Meinung berichtete. Die Tatsache, dass sich die Welt Ende 1964 für eine Fristenverlängerung in der Verjährungsdebatte einsetzte, scheint ihn zu überraschen, er bezeichnete die Zeitung sogar als ,,notorisch konservativ" (S. 247). Die Welt hatte jedoch in den 1950er-Jahren immer wieder eine kritische Haltung gegenüber der NS-Vergangenheit und seinen Tätern eingenommen. Wenn man Kritik an einer Tageszeitung in dieser Hinsicht üben will, müsste man eigentlich die Frankfurter Allgemeine ins Visier nehmen.

Da Miquel - meiner Meinung nach - eine etwas zu pessimistische Interpretation von der ,,Bewältigungswilligkeit" von Bevölkerung und Justiz besitzt, kommt es teilweise zu einer Unterschätzung von Erfolgen, wie bescheiden sie auch immer im Gesamtkomplex ausfielen. Symptomatisch ist hier die inakkurate Behauptung, dass mit dem Verfahren gegen den Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner in München im Oktober 1957 ,,erstmals vor einem deutschen Gericht die willkürlichen Exekutionen der Wehrmachtsjustiz an der eigenen Truppe [...] verhandelt wurden" (S. 39). Wie der Rezensent festgestellt hat, fanden die ersten Verfahren gegen ehemalige Generale der Wehrmacht wegen solcher Exekutionen sogar schon vor der Gründung der Bundesrepublik statt. Es gab unterdessen andere Verfahren gegen niedrigere Dienstränge des Offizierskorps vor Oktober 1957.(3) Mit dieser Behauptung über den Schörner-Prozess sieht man, dass die unreflektierte Übernahme einer allzu umfassenden Interpretation von der These der zweiten Schuld zu einer Beeinträchtigung der notwendigen Differenzierung in der Analyse führen kann. Dieser Kritikpunkt sollte dennoch nicht zu sehr ins Gewicht fallen, da Miquels Behandlung der Beziehung zwischen Politik und Justizapparat durchaus als grundlegend zu bezeichnen ist.

In ihrer Studie über die Entwicklung der französischen Politik und Praxis in der Strafverfolgung von deutschen Kriegsverbrechern, geht Claudia Moisel auch auf Aspekte der Verjährungsdebatten ein, sowie auf brisante vergangenheitspolitische Fälle der Sechziger- und Siebzigerjahre. Dabei ergänzt sie manchen Aspekt aus Miquels Studie. Moisel beschäftigt sich jedoch in erster Linie mit den Anfängen der französischen Kriegsverbrecherpolitik und der Umsetzung in den unmittelbaren Nachkriegsjahren. Ungefähr die erste Hälfte des Buches schildert die französische Gesetzgebung, die Entwicklung der ,,Service de recherche des crimes de guerre ennemis" und die außenpolitischen Dimensionen der Kriegsverbrecherfrage für die Franzosen bis zur Gründung der Bundesrepublik. Obwohl die ersten französischen Verfahren 1944 von den Amerikanern anfangs unterbunden worden waren, blieb zunächst die französische Haltung unnachgiebig, wenn nicht sogar überwiegend von Rachegefühlen getrieben, wobei hier der Erfahrung nach dem Ersten Weltkrieg eine besondere Bedeutung zukommt.

Insbesondere zeigt sie, wie stark sich in Deutschland die Vorstellung etablierte, dass Kommunisten in Frankreich immer hinter der Kriegsverbrecherjustiz der Franzosen steckten. Wichtig ist hier jedoch, dass die französische Seite ganz und gar nicht interessiert war, die Missstände in der deutschen Haltung zu hinterfragen. Das offizielle Interesse in Frankreich an Verfahren gegen deutsche Kriegsverbrecher nahm in der Tat in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre rasant ab. Während 1950 die Anzahl von 3487 Ermittlungsverfahren festzustellen ist, gab es 1953 nur 234, 1954 die magere Zahl von sieben. Dem schwindenden Interesse Mitte der 1950er-Jahre an einer konsequenten Verfolgung von Straftätern, folgte aber eine unnachgiebige Haltung im französischen Parlament 1949/50. Dass ein Todesurteil zum letzten Mal 1951 vollstreckt wurde macht deutlich, dass die Wende bereits Anfang der Fünfzigerjahre eintrat.

In der zweiten Hälfte des Buches wird die Wende in der französischen Haltung und ihre Auswirkungen beschrieben, vor allem im Fall Oberg (1954 bis 1963). Obwohl das Gesetz über die Unverjährbarkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, verabschiedet am 26. Dezember 1964 im französischen Parlament, als eine Art Antwort auf die Ankündigung der Bundesregierung zu sehen ist, Mordverbrechen jeder Art am 8. Mai 1865 verjähren zu lassen, schienen die Franzosen zunehmend an einer aktiven Strafverfolgungspolitik desinteressiert zu sein. Nicht nur die zentrale Bedeutung der deutsch-französischen Beziehung spielt hier eine Rolle, sondern ebenso die Problematik der Kollaboration des Vichy-Regimes. Dennoch blieben die deutschen Verbrechen auf französischem Boden ein heißes Eisen in der Öffentlichkeit.

Eine besondere Rolle in der unmittelbaren Nachkriegszeit spielte 1946 der Prozess gegen den Chef der Zivilverwaltung im Elsaß, Robert Wagner. Hier hätte man sich etwas mehr Detail in der Darstellung gewünscht, sowie in dem späteren Kapitel über den Oradour-Prozess in Bordeaux 1953. Man kann eigentlich die Atmosphäre in Gerichtssälen und in der Bevölkerung durch die Prozessberichterstattung in der Tagespresse rekonstruieren. Etwas mehr von der französischen Reaktion auf den Anblick von deutschen Kriegsverbrechern auf französischen Anklagebänken hätte die Darstellung bereichert. Andererseits ist die Intention Moisels Werk eine andere. Ihr Anliegen ist es, einen Grundriss des Gesamtkomplexes der französischen Kriegsverbrecherpolitik zu bieten, der von seinen Anfängen in den Kriegsjahren bis zu seinem parlamentarischen Ende mit dem Zusatzabkommen zwischen Deutschland und Frankreich vom 30. Januar 1975 reicht. Dieses Anliegen ist ihr gelungen.

An einigen Stellen scheint es an französischen Quellen zu mangeln. Dies ist aber ein Resultat der wesentlich restriktiveren französischen Politik in der Freigabe von Akten. Wenn man diesen Hintergrund berücksichtigt, wird die Bedeutung Moisels Arbeit deutlich. Die Autorin hat erfolgreich die unvollständige Aktenlage gemeistert, insofern, dass sie das Wesentliche aus dem vorhandenen französischen Material ausgewertet und die Lücken durch deutsche Zeitungsartikel und Archivalien geschlossen hat. Des Weiteren hat sie es geschafft, was nur sehr wenige Erstautoren erreichen, eine Monografie zu veröffentlichen, die kein überflüssiges Material enthält. Mit einen Text von 241 Seiten ist ihr Buch ein sehr willkommener Beitrag für jeden Seminarleiter der beabsichtigt, ein Seminar über die deutsche Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit zu veranstalten. Eine relativ komplizierte Thematik wird hier überzeugend und kenntnisreich in einem Umfang nachgezeichnet, der für Studenten zu bewältigen ist. Es gäbe sicherlich mehr über das Thema zu schreiben, doch Claudia Moisel hat zweifelsohne einen wichtigen Grundstein für die künftige Forschung gelegt, der wahrscheinlich gar nicht so schnell überholt wird.

Abschließend kann gesagt werden, dass beide Bände wichtige neue Erkenntnisse liefern und deswegen eine erhebliche Bereicherung des Feldes darstellen. Sie zeigen auch, dass die Forschung über die Auseinandersetzung der Deutschen mit der NS-Vergangenheit eine neue Qualität gewonnen hat. Nach der Lektüre beider Werke wird umso deutlicher, dass dieses Forschungsgebiet sich im Wesentlichen um, wie Moisel es formuliert, ,,die Interdependenz von Justiz, Politik und öffentlicher Meinung" dreht (S. 10). In dieser Dreiecksbeziehung spielt jedoch außenpolitisches Kalkül eine überraschend starke Rolle, und zwar über das Datum der deutschen Souveränität hinaus.

Interessant ist auch, dass in der Wahl der Terminologie Moisel etwas vorsichtiger ist als Miquel. Obwohl sie von der französischen ,,Kriegsverbrecherpolitik" spricht, glänzt der Zentralbegriff ,,Vergangenheitspolitik" in ihrer Arbeit mehr durch Abwesenheit. Dagegen verwendet Miquel grundsätzlich ,,Vergangenheitspolitik", nach einem kurzen Vermerk, dass ,,der Begriff [...] das politische Handeln gegenüber den ‚Tätern'" bezeichnet (S. 11). Für ein Buch von fast 400 Seiten ist diese Definition unbefriedigend. Das Problematische an dem Begriff liegt darin, dass man scheinbar von einem von oben herab verordneten politischen Prozess ausgeht, worin Politik und Justiz vornehmlich den Hauptmotor des Handelns darstellen. Obwohl dies im Rahmen von Miquels Studie verständlich wird, ist es allerdings wichtig zu unterstreichen, dass die Presse und die öffentliche Meinung mit alternativen Stimmen ‚von unten` immer wieder auf die politischen Debatten und Prozesse im breitesten Sinne hinwirkten. Deswegen ist der Begriff ,,Vergangenheitsbewältigung" gar nicht so überholt wie Miquel meint, weil er nicht derart eng definiert wie der Neologismus ,,Vergangenheitspolitik" zu verstehen ist.

Die Notwendigkeit, weiter über die Terminologie zu diskutieren, ist jedoch vielleicht ein Zeichen dafür, dass wir mit der Diskussion über den Umgang mit der NS-Vergangenheit bei weitem nicht an einem Endpunkt angelangt sind. Auf dem Weg hin zu einem besseren Verständnis dieses inzwischen zentralen Problemfelds der deutschen Zeitgeschichte bieten Miquels und Moisels Werke äußert interessante Ergebnisse. Beide sind uneingeschränkt zu empfehlen, beide schließen große Lücken in der Forschungslandschaft.

Alaric Searle, München


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