Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Helmut Schmidt, Auf dem Weg zur deutschen Einheit. Bilanz und Ausblick, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2005, 219 S., geb., 19,90 €.
Unter dem Titel ,,Was der Osten wirklich braucht" veröffentlichte Helmut Schmidt am 26. August 2004 in der ZEIT einen Leitartikel, indem er sich einmal mehr den ökonomischen Herausforderungen des Wiedervereinigungsprozesses annahm. Dieser und fünfzehn weitere Beiträge aus den Jahren 1989 bis 2004 finden sich in einem Sammelband, den Helmut Schmidt pünktlich zum 15. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung vorlegt.
Auch im 87. Lebensjahr bleibt Helmut Schmidt sich darin treu und tadelt schonungs- und schnörkellos Fehler, die in seinen Augen beim Vereinigungsprozess gemacht wurden. Und so bleibt auch sein Fazit unmissverständlich: ,,Die meisten Versäumnisse der letzten fünfzehn Jahre sind kaum noch zu korrigieren." Aber, wer Schmidt kennt, weiß, dass er es bei dieser Festsstellung nicht belässt, sondern konkrete Vorschläge macht, unter welchen Bedingungen die Wiedervereinigung doch noch gelingen könnte, denn: ,,Zum Handeln ist es noch keineswegs zu spät!"
Statt eines Nachworts findet der Leser daher auch einen von Schmidt für diesen Band geschriebenen Essay, der vieles über die Grundprobleme verrät, die basierend auf ökonomischen Fehlentscheidungen in den Jahren 1989/1990 unser Land noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte belasten werden. In seinen Augen lag einer der größten Fehler der Regierung Helmut Kohls in der Annahme begründet, ,,man könne die deutsche Einheit mit der linken Hand, gewissermaßen aus der Portokasse finanzieren. Während im Osten die Mehrheit hoffte, mit der Einführung der D-Mark würden über Nacht Milch und Honig fließen, erlagen viele im Westen dem von der Bonner Regierung propagierten Irrtum, das Projekt deutsche Einheit würde ohne große Opfer über die Bühne gehen."
Doch bei dieser Grundsatzkritik belässt Schmidt es nicht, er wird sehr konkret, in dem er die in seinen Beiträgen bereits angesprochenen Probleme in der Aufzählung von vier Kardinalfehlern bündelt, die seiner Ansicht nach 1990 begangen wurden: Ein Grundübel sei die gegen den Rat aller Experten vorgenommene Währungsumstellung von Löhnen und Preisen im Umtauschverhältnis 1:1 gewesen. Dies habe de facto eine Aufwertung der ostdeutschen Mark um etwa das Dreifache bewirkt und damit zu schwersten Einbußen des Umsatzes, der Erträge und der Beschäftigung geführt. Darüber hinaus habe ein Vermögensgesetz nach dem Grundsatz ,,Rückgabe vor Entschädigung" zu einer Rechtsunsicherheit geführt, die zum einen rein ökonomisch, den Aufholprozess des Ostens unnötig behindert, zum andern psychologisch dazu geführt habe, dass viele Ostdeutsche sich ,,vom Westen ‚plattgemacht'" fühlten.
Zudem sei die Schaffung einer Mammutbehörde, wie sie Treuhand darstellte, von vornherein falsch gewesen. Sie habe mit ihrer Politik dazu beigetragen, dass die Privatisierung ostdeutscher Firmen auf einen ,,Ausverkauf an westdeutsche Erwerber" hinausgelaufen sei. Dass dieses Behörde statt eines zunächst erwarteten Überschusses mehrere Hundert Milliarden an Schulden hinterlassen habe, sei logische Konsequenz der irrigen Auffassung gewesen, ,,eine staatliche Behörde könne ein Unternehmen leichter sanieren als ein erfahrener Unternehmensmanager."
Dass man sich nicht von vornherein auf eine transparente Finanzierung der ökonomischen und sozialpolitischen Einheit geeinigt und die zu erwartenden Belastungen den Bürgerinnen und Bürgern nicht mitgeteilt habe, nennt Schmidt als vierten Grundfehler. Auch der nachträglich eingeführte Solidaritätszuschlag habe dann eine schnell steigende Verschuldung des Bundeshaushaltes nicht mehr verhindern können.
Aber, wie bereits angeführt, belässt es Helmut Schmidt nicht bei dieser Aufzählung. Ihn treibt vielmehr seit langem - die abgedruckten Beiträge aus den vergangenen 16 Jahren belegen das - die Frage um: Wie kann man dem Aufholprozess des Ostens neuen Schwung geben? In seinen Augen bedarf es einer allein den Osten begünstigenden wirtschaftspolitischen Anstrengung, die aus drei Komponenten besteht, die gleichzeitig zur Anwendung gebracht werden müssten: Erstens fordert Schmidt einen klaren Abbau einer ,,Vielzahl von behindernden Paragraphen, Genehmigungserfordernissen und Genehmigungsinstanzen." Die sechs ostdeutschen Landtage sollten vom Bund die Möglichkeit erhalten, durch Landesgesetzgebung insbesondere in den Bereichen Bau- und Planungsrecht, im Arbeitsrecht sowie im Wirtschaftsrecht vom bisher geltenden Bundesrecht abzuweichen. Diese Deregulierung würde in Schmidts Augen der ostdeutschen Wirtschaft insgesamt, explizit aber dem ostdeutschen Mittelstand einen Wettbewerbsvorteil bringen, den sie dringend benötigten, um an die westdeutsche Wirtschaftskraft anzuschließen. Zweitens propagiert Schmidt eine ,,deutlich spürbare Mehrwertsteuer-Präferenz", um die ostdeutsche Wertschöpfung zu verbessern. Und drittens setzt er bei der staatlichen Wirtschaftsförderung auf die Konzentration der Mittel auf sogenannte Wachstumskerne.
In der Verwirklichung dieser Ratschläge sieht Schmidt einen Ansatz zur Überwindung der gesamtdeutschen finanzpolitischen Kalamität, die es - in welcher politischen Konstellation auch immer - nun anzugehen heißt. Denn nur wenn die ökonomischen Herausforderungen der Einheit erfolgreich angegangen werden, kann auch die innere Einheit vollzogen werden, denn, wie es der aufmerksame Leser in der Einleitung lesen kann, ,,der Lehrsatz, nach dem das ökonomische Sein das Bewusstsein bestimmt, enthält zwar nicht die ganze Wahrheit, aber doch eine psychologisch und politisch höchst wichtige Einsicht."
Johannes von Karczewski, Bonn