ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Wolfgang Kraushaar/Karin Wieland/Jan Philipp Reemtsma (Hrsg.), Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF, Hamburger Edition, Hamburg 2005, 142 S., geb., 12 €.

Nach der 68er-Bewegung scheint nun auch die RAF in das Stadium ihrer Historisierung einzutreten. Eine besonders prominente Rolle spielt in diesem Zusammenhang das Hamburger Institut für Sozialforschung. Unermüdlich wird dort an der bundesrepublikanischen Gesellschaftsgeschichte der 1960er- und 1970er-Jahre gearbeitet, wobei nicht zuletzt solche Stränge beleuchtet werden, die ins Radikal-Abseitige führen und die sich angesichts der zuweilen totalen Negation des Bestehenden durch die damaligen, nicht selten schillernden Protagonisten des Entrückt-Extremen zugleich als Teil und als Widerpart westdeutscher Geschichte darstellen. Dabei kommt der geschichtswissenschaftlichen Arbeit des Hamburger Instituts zugute, dass es über ein Archiv verfügt, dem man für das hier umrissene Themenfeld zentrale Bedeutung zuschreiben kann.

Welcher Nutzen sich aus den noch zu hebenden, unveröffentlichten Quellen ziehen lässt, verdeutlicht der Beitrag von Wolfgang Kraushaar, der neben Gerd Koenen und Ingrid Gilcher-Holtey seit einigen Jahren zu den zentralen Deutungsinstanzen für die Geschichte linker Protestbewegungen und Terrorgruppen in der Bundesrepublik zählt. Sein Aufsatz über ,,Rudi Dutschke und den bewaffneten Kampf", der die Schnittstelle zwischen 68er-Bewegung und RAF näher zu fassen sucht, stützt sich nicht nur auf publiziertes Material, sondern greift auch auf die reichhaltigen Archivbestände des Hamburger Instituts zurück. Dadurch kann Kraushaar manche seiner Erkenntnisse über Dutschkes Haltung in der damals wie heute vieldiskutierten Gewaltfrage, die er schon zuvor in seinen Arbeiten ausgebreitet hat, auf eine verbreiterte Quellenbasis stellen und schärfer konturieren.

Wichtigstes Ergebnis von Kraushaars Auseinandersetzung mit dem politischen Denken des Studentenführers ist die genauere Bestimmung von Dutschkes geistiger Urheberschaft des Stadtguerillakonzepts. Nicht erst im berüchtigten ,,Organisationsreferat" vom September 1967, in dem Dutschke gemeinsam mit Hans-Jürgen Krahl die Ergänzung der ,,Propaganda der Schüsse" (Che Guevara) in der ,,Dritten Welt" durch eine ,,Propaganda der Tat" in den sogenannten Metropolen der Industrienationen forderte, sondern bereits im Februar 1966, also noch vor Beginn der Studentenrevolte, entwickelte er im Zusammenhang mit einer nächtlichen Plakatklebeaktion unter dem Motto ,,Amis raus aus Vietnam!" die pseudo-schmittianische Strategie, ,,Guerilla-Einheiten" zu bilden, mithin einen ,,urbanen militärischen Apparat" (S. 30) aufzubauen. Doch auch diese Datierung möchte der Hamburger Historiker ausdrücklich als ,,Zwischenergebnis" (S. 31) verstanden wissen und ist sich der Vorläufigkeit seiner Untersuchungen durchaus bewusst.

Bei aller Entmystifizierung des vermeintlichen Pazifisten Dutschke und dessen Historisierung als Verfechter des Stadtguerillakampfes arbeitet Kraushaar indes ebenfalls Dutschkes Frontstellung zum Terrorismus der RAF und damit die grundlegende Ambivalenz im politischen Denken des ,,Carbonaros aus märkischem Sand" (Joachim Fest) heraus. Dabei referiert der 68er-Spezialist freilich eher Bekanntes, als tiefere Einblicke in Dutschkes Gedankenwelt zu gewähren: so vor allem die eigentümlichen Differenzierungen zwischen Gewalt in der ,,Ersten" und Gewalt in der ,,Dritten Welt", d.h. zwischen der ,,konterrevolutionären" Erschießung bloßer ,,Charaktermasken" und der ,,emanzipierenden Tat" des Tyrannenmordes sowie zwischen ,,Gewalt gegen Sachen" und ,,Gewalt gegen Personen." Ungeachtet seiner Beziehungen zu inhaftierten RAF-Mitgliedern kann Dutschke nicht zu den Befürwortern ihrer terroristischen Aktionen gezählt werden. ,,Terrorismus ist reiner Mord; er ist gegen die sozialistische Ethik" (S. 47), erklärte er Ende der 1970er-Jahre unmissverständlich. Diese klare Distanzierung vom RAF-Terror änderte allerdings nichts an der Tatsache, dass die - auf verschiedene Weise mit ,,Leben" zu füllende - Idee der Stadtguerilla ,,nicht von der Peripherie, sondern aus dem Zentrum der antiautoritären Bewegung" (S. 49) stammte.

Gerade nicht dem Zentrum der antiautoritären Bewegung entsprang der mit dem Gestus des Halbstarken auftretende Kopf der RAF, Andreas Baader, dem - intellektuell unterbelichtet - jeglicher Hang zu theoretischer Reflexion fehlte, ja mehr noch: der Theorieferne zum obersten Gebot erhob. Praxis zählte - und dies bedeutete vor allem eins: zu morden. Mord, dies stellen Karin Wieland und Jan Philipp Reemtsma in ihren Beiträgen heraus, machte das Proprium der Lebensform von Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof & Co. aus, bedeutete nicht weniger als die demonstrative Selbstversicherung ihrer Existenz.

Lebensweg und Sozialisation der verkrachten Existenz Baader und dessen Entwicklung zum ,,Dandy des Bösen" schildert Wieland in Fortführung ihrer früheren Studien über ,,deutsche Dandys" in klarer und eingängiger Diktion, darum bemüht, sowohl Baaders Biografie in den breiteren Kontext von Nachkriegsdeutschland und Protestbewegung einzubetten als auch das spezifisch Neue am Phänomen der RAF zu entschlüsseln. Baaders Lebensstil als notorisch unangepasster Outcast fügte sich ideal in die antiautoritäre Neubestimmung des revolutionären Subjekts ein: Nicht mehr die Arbeiterschaft war es, in die man als selbsternannte revolutionäre Avantgarde seine Hoffnungen setzte: Neben der Studentenschaft galt nun den gesellschaftlich Deklassierten und Ausgestoßenen die Aufmerksamkeit, so dass sich der dissoziale Abweichler (und begabte Hochstapler) Baader als Projektionsfläche für in weltrevolutionäre Verzückung geratene Utopisten wunderbar eignete.

Das ,,unerhört Neue" an der RAF, ihre irritierende Tarnung als Bürger, ist für Wieland zugleich das Ende von ,,1968", zumindest in ästhetischer Hinsicht. Nicht um Gegenkultur ging es Baader und Ensslin, sondern um ,,Luxus und Gewalt" (S. 87). Ihr terroristisches Dandytum äußerte sich nicht zuletzt in ihrem ambivalenten Verhältnis zur Gesellschaft. Sie lebten außerhalb von ihr, stilisierten sich aber gleichzeitig zu ihrem ,,besseren", weil auserwählten Teil (ebd.). Dabei fiel der westdeutschen Öffentlichkeit die Rolle zu, als Bedeutung schaffender Spiegel der narzisstischen RAF-Identität, des ,,heroischen Kunstwerks" (S. 86) der linksextremen Avantgarde zu fungieren: ,,Immer im Bruch mit der Welt, am Rand, zwingt er [der Dandy; R.B.] die andern, ihn selbst zu erschaffen, indem er ihre Werte leugnet" (Albert Camus). Vulgo: Ohne ,,Schweine" keine RAF.

Zur Beziehungsgeschichte von westdeutscher Gesellschaft und linkem Terrorismus zählt natürlich auch die nicht zu unterschätzende Rolle von sich als ebenso ,,kritisch" wie empathisch disponierenden ,,Sympathisanten." Ganz zu Recht weist Jan Philipp Reemtsma in seinem luziden Vorwort darauf hin, dass die den permanenten Ausnahmezustand kultivierende Erregungsgemeinschaft der RAF den ,,anerkennenden Blick" (S. 10f.) von außen benötigt habe, um sich perpetuieren zu können. Es bedurfte daher eines bestimmten ,,gedanklichen und emotionellen Klimas" (S. 11), das der ideologischen Aufgeregtheit der an apokalyptischen Wahnvorstellungen nicht gerade armen 1970er-Jahre und der kohärenz- und identitätsstiftenden Trias ,,Gewalt, Waffenkult, Sprache" (S. 9) bis zu einem gewissen Grad Legitimation und Plausibilität verlieh.

Fernab jeder falsch verstandenen psychologisierenden Hermeneutik, wie sie sich etwa in den Rechtfertigungsbemühungen des Gießener Psychoanalytikers Horst-Eberhard Richter gegenüber den exkulpierenden Selbstthematisierungen der RAF-Terroristin Birgit Hogefeld manifestiert, erkennt Reemtsma in seiner instruktiven, nicht frei von polemischen Untertönen entfalteten Handlungsanalyse jene Eigenschaft als Wesenskern der linksextremen Terrorgruppe, die zugleich ihre Attraktivität ausmachte: Dass sie ,,Machterfahrungen mit sich brachte wie keine andere [Lebensform]" (S. 113). Herr über Leben und Tod zu sein, bildete die Essenz ihres handlungsleitenden Selbstentwurfs. Und dass sie ebendiesen Entwurf, der in geistig-theoretischer Hinsicht mit einer ,,maximalen Unterkomplexität" (S. 128) - um nicht zu sagen: Dummheit - einherging, konsequent und radikal lebte, umgab sie mit der Aura des Authentischen, des Unentfremdet- Wahrhaftigen. Vor allem in der Authentizität ihres Handelns lag für einen Teil der deutschen Linken eine gewisse Anziehungskraft begründet, ohne die man die Geschichte der RAF nur unzureichend verstehen kann. Was Reemtsmas Beitrag, zweifellos der intellektuelle Höhepunkt des Bändchens, jedoch weitgehend im Dunkeln lässt, ist die Genese, die Entstehungsgeschichte des linken Terrorismus der 1970er-Jahre. Erklärungsansätze finden sich etwa in den ebenso anschaulichen wie aufschlussreichen Arbeiten Gerd Koenens, insbesondere in seiner lesenswerten Darstellung über die ,,Urszenen des deutschen Terrorismus" (vgl. Rez. in AfS 45, März 2005).

Riccardo Bavaj, St. Andrews (UK)


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