ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Friedhelm Boll, Sprechen als Last und Befreiung. Holocaust-Überlebende und politisch Verfolgte zweier Diktaturen. Ein Beitrag zur deutsch-deutschen Erinnerungskultur (Veröffentlichungen des Instituts für Sozialgeschichte e.V.), Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Studienausgabe, Bonn 2003, 459 S., brosch., 25,00 €.

,,Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Die Schmach der Vernichtung lässt sich nicht austilgen. Das zum Teil schon mit dem ersten Schlag, in vollem Umfang aber schließlich in der Tortur eingestürzte Weltvertrauen wird nicht wiedergewonnen." Jean Amery, der diese Sätze 1966 in seiner Essaysammlung ,,Jenseits von Schuld und Sühne" veröffentlichte, gelang es nicht, jenes Weltvertrauen wiederzugewinnen, das ihm die Folterknechte in Auschwitz genommen hatten.(1) Er nahm sich 1978 das Leben. Friedhelm Bolls Buch über das Schicksal von überlebenden Opfern des Nationalsozialismus und des Stalinismus in Deutschland zeugt von den kaum überwindlichen gesellschaftlichen Hindernissen, die seit 1945 dem im Weg lagen, was der Soziologe Wolfgang Sofky als elementare Voraussetzung des Überlebens nach dem Ende der Folter, aber als ,,höchst prekäre, oftmals vergebliche Aufgabe" charakterisiert hat: das ,,Widerfahrnis der Ohnmacht" aufzuwiegen, das ,,Bewusstsein des Handelns" zurückzugewinnen.(2) Indem Boll die Lebensgeschichten von Opfern des Holocaust und politisch Verfolgten des NS-Regimes und der Diktaturen in Ostdeutschland nach 1945 im Spiegel von detaillierten Erinnerungsinterviews und vielfältigen weiteren biografischen Dokumenten nachzeichnet, lässt er freilich auch deutlich werden, dass solches Abarbeiten von Ohnmachtserfahrungen nicht gänzlich zum Scheitern verurteilt sein muss. Aber im geteilten Deutschland nahm es Jahrzehnte in Anspruch.

Boll bietet eine Oral History, die in ein breites Verständnis von Kultur-, Sozial- und Politikgeschichte eingefasst ist und fünf Opfergruppen exemplarisch betrachtet. Sie sahen sich auf unterschiedliche Weise dem Problem ausgesetzt, ihre Gewalterfahrungen nicht artikulieren zu können. Die Untersuchung folgt einem roten Faden, der die Lebenswege von Holocaust-Überlebenden in der alten Bundesrepublik mit solchen in der DDR, mit nationalsozialistisch verfolgten Sozialdemokraten und kommunistisch verfolgten Sozialdemokraten sowie schließlich Internierten und Gegnern der SBZ/DDR als Verfolgten des Stalinismus verknüpft. Es ist die gesellschaftliche Bedeutung oder Aufmerksamkeit, die diese Opfer noch lange nach Folter, Gewalt und Verfolgung vermissten und deren Ausbleiben sie zum Schweigen veranlasst hat. Oder anders: Jedes Minimum an gesellschaftlichem Interesse, das ihnen entgegengebracht wurde, erhöhte die Chance, ihr Schweigen zu durchbrechen oder doch wenigstens zu unterbrechen.

Dies wird schon an den drei Beispielen deutlich, die Boll für das Kapitel über Holocaust-Überlebende in der Bundesrepublik aus seinen insgesamt über 100 Interviews ausgewählt hat: Rosa und Feliks Fischer mussten sich nicht nur antisemitischer Angriffe in der Bundesrepublik der 1950er und 1960er-Jahre erwehren, sondern auch der Frage ihrer Tochter, warum sie nicht ausgewandert seien. Trotz des emotionalen Rückhalts, das sich dieses Ehepaar aufgrund gemeinsamer KZ- und Ghetto-Erfahrungen geben konnte, und trotz neuer Freundschaften in ihrem Heimatort, waren sie selbst in der Interviewsituation in den 1990er-Jahren nur zu ,,interruptiven" Auskünften über ihre Erfahrungen in der Lage. Hanna Mandel, die aus dem ungarisch-rumänischen Grenzgebiet stammte und erst in der Bundesrepublik deutsch lernte, fing in den 1970er-Jahren an, sich der Zeitzeugenarbeit zur Verfügung zu stellen, ihre Verfolgungserfahrung immer stärker durchzuarbeiten, erzählerisch zu gestalten, um schließlich das ,,Reden als Befreiung" (S. 59) zu erleben. Ähnlich wirkte die Zeitzeugenarbeit auch für Max Mannheimer als ,,Selbsttherapie" (S. 82). Holocaust-Überlebende in der DDR blieben zwar weitgehend von im Westen nur schwer unterdrückten Antisemitismus verschont; aber Aufmerksamkeit in einem politischen, sozialen und kulturellen Sinne erhielten sie doch kaum als Juden, sondern nur, insoweit sie an eine sozialistische oder kommunistische Vergangenheit zurückblicken konnten, an die sich im SED-Staat anknüpfen ließ. Die antifaschistische Schablone des Vergangenheitsdiskurses in der DDR gewährte aber jene Aufmerksamkeit gerade nicht. Auch dafür bietet die Studie zwei Beispiele.

Den Holocaust-Überlebenden in Ost- und Westdeutschland sind die ersten beiden von fünf Teilen gewidmet, und sie stehen auch am Anfang des Buchuntertitels. Den Mittelpunkt des Buches dagegen nehmen die vom Nationalsozialismus und dann vom Stalinismus verfolgten Sozialdemokraten ein. Auch ihnen gilt die besondere Empathie des Autors. Wie er deutlich machen kann, hatten sie in der Bundesrepublik unter dem restaurativen Klima der Adenauerzeit, den heroisierenden Tendenzen der frühen Widerstandshistorie, aber auch unter politisch-taktischen Erwägungen der SPD-Führung (Integration der HJ-Generation) zu leiden: Das Interesse am Arbeiterwiderstand entwickelte sich erst allmählich und zwar in sozialdemokratisch regierten Kommunen. Vom NS-Regime verfolgte Sozialdemokraten taten bis um 1980 gut daran, von ihrer politischen Vergangenheit ganz zu schweigen, wenn sie etwa gleichzeitig auch eine nicht zweifelsfreie militärische Vergangenheit hatten, also Gefahr liefen, als Deserteure stigmatisiert zu werden. Dies änderte sich erst um 1980 allmählich.

Generell wird bei allen Opfergruppen deutlich: Es war nicht nur das gesellschaftliche Abseits, in dem sie standen, was ihnen das Sprechen erschwerte, sondern mindestens ebenso die Gefahr, missverstanden zu werden - einer Gefahr, der sich im besonderen Maße ausgesetzt sieht, wem das ,,Weltvertrauen" ohnehin so nachhaltig zerstört worden ist wie den Opfer des nationalsozialistischen und kommunistischen Terrors.

Den sozialdemokratischen Opfern gehört, wie gesagt, das Hauptinteresse Bolls, und insbesondere, dort, wo er deren Schicksal in kommunistischen Osten nachzeichnet, betritt er auch wissenschaftliches Neuland. Die Teile des Buches, die diesen Opfergruppen gelten, bemühen sich intensiver und noch erfolgreicher als die ersten beiden, die Verschachtelung von individuellen (Überlebens- und Leidens-) Biografien mit gesellschaftlich organisierter, ,,kollektiver Erinnerung" zu analysieren - etwa mit einem Kapitel zur Entwicklung ,,antitotalitärer Gedenkkultur 1950-1961" (S. 294 ff.). Gleichzeitig leiden diese Teile auch unter der Nähe des Gegenstandes - der ,,Leidenszeit" der deutschen Sozialdemokratie - zum der SPD verbundenen Entstehungskontext der Untersuchung selbst. Dies macht sich nicht nur in der besonderen Empathie des Autors mit den Interviewpartnern gelten (mit denen er im Unterschied zu den anderen per Du verkehrt, siehe besonders S. 186 ff.), sondern auch in einer gewissen Tendenz, die Schattenseiten der sozialdemokratischen Vergangenheitspolitik der 1950er und 1960er-Jahre auszublenden. Die Partei leistete wie die Adenauerregierung relativ wenig, um die Aufmerksamkeit gegenüber den Holocaust-Opfern gesellschaftlich tiefer zu verankern. Sie war an den Opfern aus den eigenen Reihen und ganz besonders an den noch inhaftierten Sozialdemokraten im Osten interessiert. Wiewohl der Problematik der Konkurrenz der Opfer sehr bewusst, erklärt Boll diesen Bias mit dem lauen Hinweis, dass es sich ,,bei den politischen Häftlingen von SBZ/DDR ab 1945 nicht um Opfer der Vergangenheit, sondern um Opfer einer virulenten und bedrängenden Gegenwart, nämlich der deutschen Spaltung und des Kalten Krieges" (S. 220) handele. Diese Einschätzung ist gewiss richtig - aber sie unterschlägt die instrumentelle Bedeutung, die eine solche Opferpolitik für die Selbstintegration der SPD hatte, und in gewisser Hinsicht desavouiert sie das Thema des Buches und die dort immer wieder am individuellen Beispiel illustrierte Einsicht in die ,,Gegenwart" jeder Vergangenheitspolitik für die Überlebenden dieser Vergangenheit.

Dem wissenschaftlichen Ertrag und vor allem dem wissenschaftlichen Impetus, der von Bolls Untersuchung ausgehen sollte, tun derlei Einwände keinen Abbruch. Dies gilt auch für das im letzten Teil, der von den im Stalinismus Internierten und Gegnern der SBZ/DDR handelt, wobei ein nachlassendes Interesse an den therapeutischen Wirkungen der Interviews des Autors und seiner Mitarbeiter mit den Opfern, auszumachen ist. Im letzten Teil kommt jene Opfergruppe zur Sprache, mit der zu identifizieren dem Autor wie wohl auch den meisten Leser schwerer fällt: Es sind meistens ehemalige, wenn auch meist ,,kleine" NS-Funktionäre und Mitläufer. Stärker als die vorangegangenen wertet der Autor diese Interviews nicht nur im Sinne von Erinnerungskonstruktionen sondern auch ,,realhistorisch" aus. Dass heißt, Boll benutzt die Interviews als Bausteine für eine Geschichte der Lagererfahrungen dieser Gruppe von NS-Tätern und HJ-Pimpfen, ihrer sozialen Interaktions- und Solidarisierungsformen, nicht zuletzt der nicht immer ganz einfachen, oft aber zu überraschenden Resultaten führenden Begegnung von NS-Tätern mit den ehemals Verfolgten des NS-Regimes im Lager, wo nun beide verfolgt sind.

Insgesamt liegt mit Bolls ,,Sprechen als Last und Befreiung" ein gleichermaßen materialreicher wie anregender ,,Beitrag zur deutsch-deutschen Erinnerungskultur" vor, auf dem jede folgende Untersuchung wird aufbauen müssen. Diese Rezeption dürfte noch ertragreicher ausfallen, wenn die - zu erhoffende - nächste Auflage des Buches in einer gestrafften, von Redundanzen erleichterten, dafür um einen kritischeren Blick auf die eigene Parteigeschichte bereicherten Überarbeitung erscheint.

Thomas Kühne, Clark University

Fußnoten:

1 Jean Amery, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten (1966), Stuttgart 1977, S. 73.

2 Wolfgang Sofsky, Traktat über die Gewalt, Frankfurt am Main 1996, S. 81.


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