ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Martin Trancik, Abgrund - Brückenschlag. Oberschicht und Bauernvolk in der Region Dubrovnik im 19. Jahrhundert (Basler Studien zur Kulturgeschichte Osteuropas 4), Pano Verlag , Zürich 2002, 464 S., geb., 39.50 €.

Martin Tranciks Studie entstand im Rahmen eines vom Schweizerischen Nationalfonds zwischen 1997 und 2000 geförderten Projekts der Universität Basel zu städtischen Eliten und bäuerlichem Volk. Vergleichend sollten die Verhältnisse in den Stadtregionen Dubrovnik und Belgrad zwischen 1850 und 1914 untersucht werden. Während sich die von Nataša Miškovic durchgeführte Untersuchung zu Belgrad(1) in Druckvorbereitung befindet, lag jene von Trancik etwas mehr als ein Jahr nach Abschluss der Dissertation in publizierter Form vor. Die Arbeit macht Anleihen bei den kulturwissenschaftlichen und interdisziplinären Ansätzen der Basler Osteuropa-Forschung, die sich auf die menschliche Lebenspraxis in ihren vielfältigen Ausdrucks- und Vermittlungsformen konzentriert und von individuellen Artikulationen auf weitere lebensweltliche Kontexte zu schließen versucht.

Allerdings bleiben sowohl Konzeption als auch methodische Herangehensweise dieser Arbeit weit hinter der gewohnten Qualität der Basler lebensweltlichen Forschungsschmiede zurück. Trancik unterteilt seine Studie in vier Abschnitte (Biographie, Ethnographie, Abgrund/Brückenschlag, Schlussinterpretationen). Die Darlegung der methodischen Herangehensweise erfolgt zusammen mit den Ergebnissen im Schlusskapitel, anstatt eingangs klärend und einführend vorangestellt zu werden. Dies erschwert die Lektüre, weil man sich in den ersten drei Kapiteln zunehmend nach Prämissen und Zielen der Studie umsehen muss.

Die Begrifflichkeiten pressen multiple Realitäten in eine grobe Dichotomie sozialer Schichten. Die ,,Oberschicht" wird repräsentiert durch die in detaillierten und streckenweise spannend zu lesenden Einzelbiographien von Vertretern vier bedeutender Dubrovniker Patrizierfamilien, als deren verbindendes Moment ihre Rolle als ,,Vorreiter" (in Anlehnung an Hroch) der kroatischen Nationalbewegung genannt wird. Indes konzentriert sich der Autor auf psychologische Fragen wie innerfamiliäre Machtstrukturen und Großvater-Vater-Sohn-Beziehungen, denen eine eher deskriptive Behandlung der Lebenswege und politischen Funktionen der Beispielpatrizier nebengestellt ist. Das ,,Bauernvolk" auf der anderen Seite entzieht sich quellentechnisch dem biographischen Zugang; hier entfaltet Trancik auf ethnographischer Basis ähnliche Themen der Familien- und Dorforganisation. Im dritten Abschnitt geht es dann um die Verbindungen, die zwischen beiden Milieus im Zuge der Nationalisierungsprozesse bestanden und sich veränderten. Dies geschieht anhand von Zeitungen, die sich über Bauern oder Volk äußern und die Ferne zwischen den Sozialgruppen verdeutlichen, oder aber anhand von Konflikten zwischen der Landbevölkerung und den biographisch aufgearbeiteten Patriziern.

Abgesehen von begrifflichen Simplifizierungen, die den Blick eher verstellen als weiten bzw. die das Material in ein vorgedachtes Korsett zu pressen gedenken, gelangt auch der im Schlusskapitel schließlich präsentierte methodische Zugang nicht über eine holzschnittartige Paraphrasierung eminenter Theoretiker hinaus. Hroch(2) , Habermas(3) und Gellner(4) werden geradezu auf ihre Anwendbarkeit auf den vorgegebenen Kontext ,,abgeklopft", was sich in seitenlangen ,,ebenda" in den ohnehin nur spärlich vorhandenen Anmerkungen manifestiert. Es entsteht keine Darstellung, die theoretische Ansätze schlüssig, integral und eigenwillig verarbeitete.

Der Autor setzt sich auch nicht eingehender mit der exzellenten neueren Literatur zur Nationalismusforschung zu Dalmatien auseinander.(5)

Er erwähnt diese kurz, lässt die Ergebnisse mit dem Hinweis, ,,seine Arbeit liege zeitlich zwischen diesen Studien" (S. 19), vollständig beiseite, obwohl gerade dies ihm aufschlussreiche Hinweise hätte liefern können: Hier wurde schon aufgezeigt, in welch komplexer Weise sich nationale, regionale, lokale und soziale Identitätsmomente verquickten und welche strukturellen (politischen, wirtschaftlichen, institutionellen) Gegebenheiten Loyalitäten und Verhaltensmuster konditionierten. Beispielsweise kapituliert der Autor vor der für die Dubrovniker Geschichte hochinteressanten Gruppe der katholischen Serben, die er mit der lapidaren Bemerkung außen vor lässt, sie entzögen sich ,,letztlich einer genauen Bestimmung" (S. 112). Es wird einmal mehr deutlich, dass der Geschichte einer ethnisch gemischten Stadtregion nicht mit dem Wunsch nach ,,genauen Bestimmungen" beizukommen ist, dass vielmehr der Blick für hybride, multiple und variable Identitätsmuster zu öffnen ist.

Zu vermissen ist auch eine kritische Auseinandersetzung mit der herangezogenen Literatur, was am Beispiel des kroatischen Historikers Ivo Peric verdeutlicht sei. Zwar hat Trancik zweifellos Recht, wenn er meint, Perics Arbeiten seien ,,schon deshalb zu konsultieren, weil man die dort dargelegten Fakten buchstäblich nirgendwo sonst finden kann" (S. 20). Jenseits der Fakten hätte aber eine Problematisierung des ideologischen Werdegangs dieses Historikers Not getan, der seit den 1950er-Jahren zahlreiche Arbeiten zur Dubrovniker und dalmatinischen Geschichte veröffentlicht, sich aber im Zuge der kroatischen Unabhängigkeit und der Tudjman-Ära u. a. als Autor eines stark nationalistisch gefärbten Geschichtsschulbuches inklusive antiserbischer Hetztiraden hervorgetan hat.(6)

Das Ziel, etwas über die sich wandelnden Interaktionen nationaler und sozialer Identitätsmomente in der Region Dubrovnik auszusagen, wird so nur ansatzweise erreicht. Insgesamt bleibt das methodische Raster - die Gegenüberstellung von Biographie und Ethnographie, die misslungene Verknüpfung psychologischer mit anthropologischen und geschichtswissenschaftlichen Ansätzen, die insgesamt simplifizierende Abhandlung theoretischer Vorgaben, die zu einfachen Konzepte von Nation und Sozialstatus - zu starr, um neue Einblicke zu liefern. Auch stilistisch lässt die Studie zu wünschen übrig. Neben einem geradezu inflationären Gebrauch des Wortes ‚umfassend' (nebst der inexistenten Form ‚umfassender') sieht sich der Autor bemüßigt, immer wieder rechtfertigend darauf hinzuweisen, warum seine offensichtlich reduktionistische Herangehensweise ,,trotzdem" begründet sei bzw. was er mit seiner Studie nicht bewerkstelligen möchte - um dann genau das zu tun.

Das Quellenmaterial wird nicht, wie in der Basler Osteuropa-Forschung üblich, dazu verwendet, vom Individuum auf dessen Lebenswelten zu schließen. Die reichlich zitierten Primärtexte sind lose aneinandergereiht und lassen eher vermutende Schlüsse, meist psychologischer Natur zu. Die kontextliefernde Substanz liefert die Sekundärliteratur, jedoch wird beides eben nicht zu einem sich ergänzenden Ganzen zusammengefügt. Das hätte eine spannende Lektüre bedeutet: Wenn die Quellen die existierende sozial- und nationalgeschichtliche Literatur hinterfragt, widerlegt, gebrochen oder bestätigt hätten. Der Autor selbst räumt ein, mit einem solchen Anspruch überfordert zu sein, wenn er es als ,,Problem" (S. 107) ansieht, dass die Lebensgeschichte eines seiner Protagonisten (Pero Cingrija) so komplex sei, dass sie eingewoben werden müsste in ,,umfassende Fragestellungen wie die Besetzung Bosnien-Herzegowinas durch die Monarchie 1878, in den epochalen Streit zwischen Kroaten und Serben in Dalmatien, in das Problem des Verhältnisses zwischen Klerikalismus und kroatisch-südslawischem Nationalismus, in das große koalitionstechnische Abenteuer der Resolution von Rijeka, in den komplizierten Prozess der Verästelung der ursprünglich einheitlichen südslawischen Nationalpartei in eine aufgesplitterte Parteienlandschaft und natürlich auch in das politische Dauerproblem des Verhältnisses der Südslawen zur Habsburgermonarchie" (S. 107). Kurz: In die Geschichte der Stadtregion Dubrovnik, die schließlich nicht im luftleeren Raum existierte.

Sabine Rutar, Bochum


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