ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Thomas Widera (Hrsg.), Pazifisten in Uniform. Die Bausoldaten im Spannungsfeld der SED-Politik 1964-1989 (Hannah-Arendt Institut für Totalitarismusforschung e.V., Berichte und Studien, Bd. 44), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004, 224 S., brosch., 24,90 €.

Dieser Band vereinigt fünf von Zeitzeugen und Historikern verfasste Beiträge, die sich mit Entstehung, Praxis und Bedeutung des waffenlosen Wehrdienstes in den Baueinheiten der Nationalen Volksarmee beschäftigen. Bei der Einrichtung der Bausoldaten der DDR, die durch eine Anordnung des Nationalen Verteidigungsrats am 7. September 1964 ins Leben gerufen wurden, handelte es sich um das ostdeutsche Pendant der Wehrdienstverweigerung. Diese Einrichtung bildete aber nicht wirklich einen zivilen Ersatzdienst, zumal ein Rechtsanspruch auf Kriegsdienstverweigerung aus der Formulierung des Gesetzes nicht abgeleitet werden konnte. Die Bausoldaten sollten hauptsächlich zum Ausbau militärischer und sonstiger logistischer Anlagen verpflichtet werden und mussten ein Gelöbnis ablegen, das unbedingten Gehorsam und vollen Einsatz zur Verteidigung der DDR verlangte. Ob der Titel ,,Pazifisten in Uniform" vor diesem Hintergrund ganz glücklich gewählt ist, wäre deshalb noch zu diskutieren.

Dennoch: Der Titel weckt hohe Erwartungen, wird hier doch ein zentrales Problem der Sozialgeschichte des geteilten Deutschlands im Zeitalter des Kalten Krieges angesprochen. Der Westen stilisierte sich im Kalten Krieg zunehmend als Hort der Freiheit. Dagegen dominierte ,,Frieden" die ideologische Selbstverortung der Staaten des Warschauer Paktes. Im Rahmen dieses Interpretaments suchte die Propaganda der DDR die Bundesrepublik während der Ära Adenauer als faschistisch unterwandert und als militaristischen Staat zu entlarven. Doch diese Interpretationsmuster warfen Probleme für das DDR-Herrschaftssystem auf. Denn aufgrund der Betonung des Klassenkampfes in der SED-Propaganda und aufgrund des unbedingten Herrschaftsanspruches des Staates konnte das SED-Regimes Wehrdienstverweigerung und organisierten Pazifismus im eigenen Land nur als Widerstand gegen das Regime oder zumindest als mangelnde Berücksichtigung des Klassenstandpunktes interpretieren.

Die Beiträge des Bandes widmen sich einzelnen Aspekten dieses Problemfeldes. Peter Schicketanz, 1965-1968 Mitarbeiter des Magdeburger Bischofs D. Johannes Jänicke, arbeitet chronologisch die Reaktion der Evangelischen Kirche auf die Anordnung über die Aufstellung von Bausoldaten zwischen 1964-1966 heraus und geht dabei besonders auf die Handreichung ,,Zum Friedensdienst der Kirche" (1966) ein, an deren Abfassung er damals selbst beteiligt war. Christian Sachse beschäftigt sich in seinem Beitrag vor allem mit den ideologischen Grundlagen und den Erfahrungen der Wehrerziehung in der DDR von 1952 bis 1978 und möchte dazu einen Beitrag zur ,,Militarisierung der DDR" (S. 44) leisten. Er arbeitet besonders den Charakter der DDR als Nachkriegsgesellschaft heraus, ein Aspekt der in der Geschichte der Bundesrepublik schon seit einigen Jahren steigende Aufmerksamkeit genießt. In seinem etwas holprig geschriebenen Beitrag untersucht Matthias Kluge, von 1985-1987 selbst Bausoldat, die Zusammenhänge zwischen dem Friedensseminar in Königswalde und der Bausoldatenbewegung. Ziel seines Beitrages ist es, ,,die unhaltbare Verengung" der Forschung auf ,,medienpräsente Bürgerrechtler (Rainer Eppelmann, Bärbel Bohley, Gerd Poppe usw.) [...] durch die Eruierung breiterer Täterkreise zu überwinden." Er richtet deshalb seinen Blick auf den ,,Kfz-Elektriker Hansjörg Weigel aus Königswalde bei Zwickau" (S. 74). Anhand der Reminiszenzen ehemaliger Bausoldaten (allerdings nicht immer auf repräsentativer Quellengrundlage) hebt Kluge die Bedeutung der Bausoldatenzeit für die politische Sozialisation hervor. Bausoldaten sind für ihn ,,ostdeutsche Achtundsechziger" (S. 109). Stefan Wolf, 1983-1984 selbst Bausoldat, untersucht die Bausoldaten aus der Perspektive des Staatssicherheitsdienstes, allerdings ohne seine empirischen Befunde in die DDR-Geschichte einzuordnen. In seinem weitreichenden und analytisch fundierten Beitrag erörtert Thomas Widera die Bedeutung der Bausoldaten für die Entstehung der Friedensbewegung der 1980er-Jahre und geht dabei ausführlich auf die Haltung der Kirchen und die Geschichte der Bausoldatenanordnung ein.

Der Band beschäftigt sich mit einem wichtigen Thema, das in der Forschung bisher nicht die nötige Beachtung gefunden hat. Im Vorwort bezeichnet Thomas Widera die Bausoldaten als ,,prototypisch" für die ,,defizitären Problemlösungskapazitäten realsozialistischer Staatsgesellschaften" (S. 7). Trotz einiger interessanter Einzelbeobachtungen verliert der Leser leider gerade diesen interessanten Aspekt jedoch aus den Augen. Was denn nun genau ,,Staatsgesellschaft" heißen soll, wird auch nicht näher erläutert. Ebenso wenig systematisch thematisieren die einzelnen Beiträge, wie Bausoldaten ,,ausschließlich in Systemkonkurrenz zur Bundesrepublik mit Blick auf die jüngste deutsche Vergangenheit und die pazifistische Grundstimmung nach dem Zweiten Weltkrieg" (S. 7) entstanden. Gerade von einem Band, der in einer Reihe des Hannah-Arendt-Insituts erschienen ist, hätte der Leser einen analytisch reflekterierteren Beitrag zum Charakter von SED-Staat und DDR-Gesellschaft vor dem Hintergrund des Kalten Krieges erwartet. Die Chance, anhand der Bausoldaten die Gesellschaftsgeschichte der DDR aus beziehungsgeschichtlicher Warte neu zu vermessen, wurde deshalb nur bedingt eingelöst. Während die Beiträge oft aus zeitgenössischer Warte darzustellen versuchen, wie es denn eigentlich gewesen ist, enttäuschen sie in Bezug auf die analytische Durchdringung der Thematik. Allein Thomas Widera vermag in seinem ausführlichen Essay zu den Bausoldaten ,,an der Wende von gesellschaftlicher Verweigerung zum politischen Protest" Verbindungen zur Politik- und Gesellschaftsgeschichte des geteilten Deutschland herzustellen und auf den Forschungsgegenstand zu beziehen. Auf diesen Beitrag seien deshalb alle interessierten Leser besonders verwiesen.

Holger Nehring, Oxford


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