ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Wilma und Georg Iggers, Zwei Seiten der Geschichte. Lebensbericht aus unruhigen Zeiten, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002, S. 320 mit 15 Abb., geb., 25 €.

Zwei von ihrem familiären und sozialen Umfeld, ihrer frühen Sozialisation, sowie ihrem Naturell her so verschiedene Menschen - er ernst, aber optimistisch; sie humorvoll, jedoch eher pessimistisch eingestellt - legen in sich abwechselnden Kapiteln davon und von ihrer mehr als fünfzig Jahre währenden Symbiose in ,,unruhigen Zeiten" Zeugnis ab: Der Historiker Georg Iggers wurde Ende 1926 in Hamburg in eine Kaufmannsfamilie hineingeboren, deren väterlicher Stamm - soweit nachgegangen - im Raum Frankfurt am Main angesiedelt, streng orthodox jüdisch, kulturell aber deutsch war. Die mütterliche Seite ließ sich bis ins Rheinland und in Westfalen zurückverfolgen. Mit der Akkulturation in Hamburg lockerte sich anscheinend weitgehend die religiöse Bindung, jedoch verkehrte man vorwiegend - wohl weil doch nicht recht vom deutschen Bürgertum akzeptiert - in jüdischen Kreisen und engagierte sich in jüdischen Wohltätigkeits- und Hilfsorganisationen. Das konfliktreiche Verhältnis zu den autoritären Eltern, insbesondere zum Vater führte den Knaben Georg in verschiedenen Internaten fernab der Heimat noch bewusster in die Orthodoxie, deren Kehrseite allerdings Liberalität und Respekt vor anderen Religionen und ihren Vertretern wurde, solange diese selbst diese Werte im Hinblick auch auf andere Religionen, Rassen, Nationen austrugen. Dahinter steckt ein fundamentaler Sinn für Freiheit. Seine Faszination für das einfache (Land-)Leben, für die Natur, für gemeinsames Wandern mit allem, was dazu gehörte, schreibt Georg der unbewussten Verwurzelung in der deutschen Romantik zu. Beides, bewusstes Judentum und den freilich erst später erkannten Einfluss der deutschen Romantik fand der aufwachsende Junge in der zionistischen Jugendbewegung, der er sich anschloss. Ihr war mit der nicht-jüdischen Jugendbewegung die ,,Abneigung gegen die ›muffige‹ bürgerliche Gesellschaft" und, ausgeprägter noch, eine ,,nationale [...] Agrarromantik" gemein, wie sie ,,in pervertierter Form auch in der HJ vorzufinden war" (S. 62). Georg fühlte sich bald mehr als Jude denn als Deutscher; die Eltern entschieden sich indes nicht für Palästina, sondern für die USA als Emigrationsland, wohin sie nach Überlegungen seit der Rheinlandbesetzung 1936 schließlich im Herbst 1938 dem NS-Reich mit Sohn und dessen vier Jahre jüngerer Schwester entflohen.

Die Literaturwissenschaftlerin und Historikerin Wilma Iggers kam als Wilma Abeles im März 1921 in der Villa eines von den Eltern gepachteten Gutes im böhmischen Dorf Mirschikau zur Welt. Sie wuchs in eine großbäuerliche Familien-"Kompanie" hinein. Die Familie war gläubig jüdisch, züchtete aber Schweine und schlachtete jedes Jahr eins zum eigenen Verzehr ("Natürlich wußte ich, dass Schweinefleisch nicht koscher war, aber das ging uns doch nichts an." S. 14). Man war fleißig, sparsam, erfinderisch im Produzieren wie im Verkaufen, selbst von Ratschlägen - was der Familie half, nach dem infolge der Bodenreform Mitte der 1920er-Jahre samt Vieh und Maschinen ohne Vergütung verlorenen Pachthof in Teinitz eine neue Gutspächter-, dann Gutsbesitzer-Existenz aufzubauen. Wilma wuchs sorglos und frei heran; die einzigen Konflikte im Elternhaus hatte sie anscheinend mit ihrer für ,,ihre Generation überdurchschnittlich gebildet[en]" Mutter, der sie im Gegensatz zu ihrer knapp zwei Jahre jüngeren Schwester zu wild, eben nicht damenhaft war. Ihre Familie lebte als deutsche Juden zwischen und mit anderen Deutschen und Tschechen, fühlte sich ,,mehr als zur jüdischen Gemeinde [...] zum deutschsprachigen Bürgertum" gehörig (S. 17). Abgesehen von kleineren Reibereien, auch in der Schule - köstlich die Charakterisierung der Lehrer -, erfuhr die Familie Antisemitismus und Nationalismus eigentlich erst mit dem Aufstieg der Nazis; die Probleme sollten sich bis über den Krieg hinaus auswirken, was am Beispiel der Vertriebenen demonstriert wird: Wer darf sich ,,Vertriebener" nennen? Die Juden der 1930er-Jahre oder die Deutschen nach 1945? Nach dem ,,Anschluss" Österreichs ans Deutsche Reich im März 1938 sah die Familie die akute Gefahr des Nationalsozialismus auch auf die Tschechoslowakei und somit auf sich selbst zukommen. Im Oktober/November 1938 emigrierte die hauptsächlich aus engen und weitläufigen Verwandten bestehende 39köpfige ,,Kompanie" in kleineren Gruppen nach Kanada, in die Provinz Ontario, wo sie auf verschiedenen Farmen um die Stadt Hamilton wieder zu wirtschaften anfing, u. a. mit Geflügel. Die kanadische Regierung war zwar bemüht, Juden zu wehren; der Einwanderungsbehörde war aber offenbar nicht der Gedanke gekommen, dass Farmer - die man gern einwandern sah - auch Juden sein konnten.

Jenseits des Ozeans begannen für Wilma und Georg neue Lehr- und Wanderjahre, sehr früh auch Lehrtätigkeiten an Colleges und Universitäten, von 1947 an, erst recht nach der Heirat Ende 1948 in den allermeisten Fällen gemeinsame, wenn auch an verschiedenen Institutionen einer Stadt. Begann auch eine neue ,,Sozialisierung"? Aus allem, was sie schreiben, spricht, dass sie schon weitestgehend gefestigt waren. Gefestigt in ihrem Judentum, ob streng oder liberal - doch fanden sie eine religiöse Gemeinschaft, die ihnen zusagte, in Little Rock bei der nicht-jüdischen ,,Unitarian Fellowship", und ein katholischer Kindergarten war auch kein Problem, wenngleich sie ihren drei Söhnen eine ,,gute Grundausbildung in Hebräisch und jüdischer Religion" angedeihen ließen (S. 126). Gefestigt auch in ihrer mitgebrachten deutschen bzw. deutsch-tschechischen, allgemeiner: in der europäischen Kultur, die im Deutschen Reich durch Nationalismus und Nationalsozialismus verschüttet oder deren Vertreter in die innere Emigration abgetaucht waren. Georg trieb dieser Hintergrund von Hegel und Marx zur Erforschung der Saint-Simonisten, schließlich und endlich zu der immer von neuem aufgenommenen und suchend weiter geführten Beschäftigung mit den Wurzeln, den Erscheinungsformen und den Auswirkungen des Historismus in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit dem Historismus, mit dem Fokus auf der ,,Krise des deutschen Liberalismus", steht unter dem Leitmotiv der ,,Idee der Menschenrechte"; sie bringt ihn wie den in die Niederlande emigrierten Soziologen Helmuth Plessner zu der These eines ,,deutschen Sonderwegs", die damit anders unterlegt ist als die These der meisten anderen Wissenschaftler und Publizisten. Georg Iggers verfolgt eventuelle ideologische und politische oder auch nur semantische Wandlungen der Historikerzunft nach 1945 und die Herausbildung einer kritischen modernen Sozialgeschichte, seit einer Reihe von Jahren auch in globaler Perspektive, ohne dass da eine anderwärts auftretende Verflachung wahrzunehmen wäre. Das Kapitel ,,Historiker und Zeitgenossen" (S. 231-285) ist in dieser Hinsicht, außer einer Erinnerung an Begegnungen und (Lehr-)Veranstaltungen weltweit, praktisch ein Abriss des Nachworts der deutschen Auflage von 1997 seines Buches ,,Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart" (Wien - Köln - Weimar 1997, S. 400-443). Im Kontext der (Auto-)Biographie gelesen, bewirkt diese ,,Wiederholung" beim Leser eine tiefere Einsicht in die Getriebenheit, mit der sich Georg Iggers diesem komplexen Thema seit Dezennien gewidmet hat. Seine Triebfedern sind Bekenntnis und Wissenschaft zugleich: ,,Bekenntnis zu einer demokratischen und sozial gerechten Gesellschaft, Wissenschaft als Beitrag zu einem rationalen, kritischen Diskurs" (Deutsche Geschichtswissenschaft, S. IX).

Wilma Iggers, die 1951 am German Department der University of Chicago über ,,Karl Kraus. A Viennese Critic of the Twentieth Century" promovierte, sieht bescheiden die ›roots‹ ihrer ,,ganze[n] wissenschaftlichen Arbeit, wenn man sie so nennen will" , in ,,meiner Liebe zu der und meiner Neugier auf die Welt, aus der ich stamme. Sie ist vor allem ländlich, sanft hügelig, mit Bergen am Horizont." (S. 289) Diese deutsch- und tschechisch- oder gemischtsprachige, auch jüdische Welt dem Vergessen und dem Nichtwissen zu entreißen, ist ihr großes Anliegen. Davon zeugen u. a. ihre Publikationen ,,Die Juden in Böhmen und Mähren. Ein historisches Lesebuch" (München 1986), eine Zusammenstellung authentischer Texte aus dem 18. bis 20. Jahrhundert, und ,,Women of Prague. Ethnic Diversity and Social Change from the Eighteenth Century to Present Days" (Providence/RI 1995) - deutsch konzipierte Ausgabe: ,,Frauenleben in Prag. Ethnische Vielfalt und kultureller Wandel seit dem 18. Jahrhundert" (Wien - Köln - Weimar 2000) -, über deren Zustandekommen sie ausführlich berichtet. Bei der Arbeit an ,,Die Juden in Böhmen und Mähren" fand sie auch die lange gesuchte ,,These, die es zu beweisen galt", wie es einem ,,richtige[n] Historiker" gezieme:"Die Juden in den böhmischen Ländern hätten gar keine Möglichkeit gehabt, es allen, den Tschechen und den Deutschen, recht zu machen. Wenn sie bescheiden lebten, wurden sie als geizig beschimpft, wenn sie - die, die es sich leisten konnten - sich einen hohen Lebensstandard gönnten - dann waren sie eben protzig. Und so weiter." (S. 289)

Die ›Lehrschule‹ USA hatten sich Wilma und Georg Iggers in ihren schlimmsten Träumen nicht ausdenken können. Mit drei Phänomen wurden sie jahrelang konfrontiert: Antisemitismus, dem eine mehr oder weniger nach innen gerichtete Geschlossenheit der jüdischen Gemeinden korrelierte. Rassismus, der paradoxe Blüten hervortrieb bis hin zur Weigerung mancher Schwarzer, für die Aufhebung der Rassentrennung einzutreten oder sie gar nur zu wünschen - weil sie fürchteten, ihre Stellung zu verlieren (was man auch wieder verstehen kann). Mit dem Rassismus wurde das dritte Phänomen, der Antikommunismus, nicht selten verwoben, wie vor allem Georg in seinem Engagement für die Bürgerrechtsbewegung, u. a. als Vorsitzender des ,,Education Committee" der ,,National Association for the Advancement of Colored People" (NAACP), erfuhr. Unter Kommunismus wurde alles, was die verfestigte Ordnung auch nur vermeintlich infrage stellte, alles irgendwie links von der Mitte, als ,,radical" Typisierte, subsumiert, wobei auch eine große Portion Nationalismus mit ihm Spiel war, was sich schon im Terminus ,,unamerican activities" spiegelt. Die Kapitel ,,Unequal and separate" (S. 97 ff.) und ,,Unruhige Jahre in Buffalo" (S. 159 ff.) sind eine hautnah erlebte und durchlebte Sozialgeschichte der USA.

In den Passagen über Deutschland kriecht dem Leser manche Gedankenlosigkeit - oder soll man sagen: Verdrängung, Unbelehrbarkeit? - sowohl bei Kollegen als auch bei ,,einfachen" Leuten förmlich unter die Haut. Ein krasses Beispiel: Während der ersten Reise nach Deutschland, 1952, wurde dem Ehepaar für das Baby eine mit geschnitzten Hakenkreuzen verzierte Wiege angeboten - nota bene als Teilnehmer einer Esperantokonferenz, ,,die in einem Haus internationaler Begegnungen statt[fand], das früher einer jüdischen Familie und dann Martin Bormann gehört hatte" (S. 144). Die Reise nach und der Aufenthalt in Deutschland und Europa wurden aber auch der Auftakt zu einer neuerlichen, auch physischen Verwurzelung. Seit vielen Jahren leben die Iggers abwechselnd in ihrem Heim in Göttingen und in Buffalo, im Staate New York. Mögen sie das noch lange tun - und viele Leser dieser ,,Zwei Seiten der Geschichte" finden.

Ursula Langkau-Alex, Amsterdam


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