ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Gerda Engelbracht, Von der Nervenklinik zum Zentralkrankenhaus Bremen-Ost. Bremer Psychiatriegeschichte 1945 - 1977, Edition Temmen, Bremen 2004, 287 S., geb., 19,90 €.

Die hier zu besprechende Publikation erschien zum einhundertjährigen Bestehen des Klinikums Bremen-Ost, das seit seiner Eröffnung 1904 als Irrenanstalt St. Jürgen-Asyl auf eine Tradition als psychiatrische Klinik zurückblicken kann. Die Geschichte dieser Einrichtung spiegelt ein Stück bundesdeutscher Psychiatriegeschichte wider. Die Autorin der vorliegenden Studie ist durch mehrere psychiatriegeschichtliche Veröffentlichungen seit Mitte der 1990er Jahre über diese Bremer Anstalt als Expertin ausgewiesen. Dabei traf sie auf die kontinuierliche Unterstützung und Förderung ihrer historischen Forschung durch die Klinikleitung in Gestalt des Ärztlichen Leiters Prof. Dr. Helmut Hasselbeck, von dem das Geleitwort des vorliegenden Bandes stammt.

Die Autorin versteht es, wissenschaftlichen Anspruch mit interessanter, auch für Laien verständlicher, anschaulicher Darstellungsweise zu vereinbaren. Zahlreiche Fotos aus dem Anstalts- und Behandlungsalltag oder von im Text erwähnten Patienten und in der Anstalt Beschäftigten lockern den Text auf. Grau unterlegte Textpassagen kennzeichnen die Zeitzeugenberichte sowohl von ehemaligen Patienten als auch von Angehörigen des Anstaltspersonals. Es handelt sich um als wörtliche Wiedergaben gekennzeichnete Auszüge von Interviews, welche die Autorin geführt hat. Zu Beginn dieser ,,authentischen" Passagen liefert die Verfasserin eine kurze Einführung zu den Personen, die jeweils zu Wort kommen. Dabei gibt sie zuweilen auch Hilfestellung bei der Einordnung der Aussagen in den Gesamtzusammenhang ihrer historischen Darstellung. Es fehlen jedoch quellenkritische Anmerkungen zu den Zeitzeugenberichten, etwa Hinweise auf das durch Alter und Lebensgeschichte eventuell getrübte Erinnerungsvermögen oder auf Verklärungen. Ein pauschaler Hinweis auf das Standardwerk von Lutz Niethammer zur Oral History in einer knappen Anmerkung (Einleitung S. 10, Anm. 5) reicht nicht aus - zumal der Anmerkungsapparat an das Ende des Bandes gerückt ist und extra aufgeschlagen werden muss.

Die Autorin sieht in der Befragung von Zeitzeugen eine wichtige Ergänzung der schriftlichen Überlieferung. Sie hat über vierzig ehemalige Beschäftigte der Klinik interviewt. Um nicht bei einer ,,Geschichte von oben" zu bleiben, hat sie durch die Auswertung von Patientenakten und die Heranziehung von autobiografischen Berichten ehemaliger Patienten die Sichtweise der Behandelten erfasst. Die Einbeziehung der Perspektive ,,von unten" macht die Arbeit besonders lesenswert und fördert Ergebnisse zu Tage, die bei einer eindimensionalen (Akten-) Perspektive aus der Sicht der Anstaltsleitung verborgen geblieben wären. Patienten schildern beispielsweise, wie sie bestimmte Behandlungsmethoden, etwa die Insulinbehandlung am eigenen Leib bzw. an eigener Seele, erfuhren. Die Nutzung von Zeitzeugenaussagen als Quelle erlaubt es der Autorin, der von den Patienten erfahrenen Behandlung nicht nur die Norm, das Ideal der medizinischen Lehrbücher, sondern die Erfahrungen von und mit den Ärzten im medizinischen Alltag gegenüber zu stellen. So beschreibt an einer Stelle ein Neurochirurg, was Ärzte und Patienten während einer Hirnoperation bei dem damaligen Stand der Anästhesie in den 1950er-Jahren ertragen mussten.

Die schriftlichen Quellen stammen aus dem anstaltseigenen Archiv, dem Staatsarchiv Bremen, dem Archiv der Evangelischen Kirche Deutschlands in Berlin und dem Bundesarchiv. Die Verfasserin hat mit Hilfe von in den Akten enthaltenen Jahresberichten bzw. ärztlichen Berichten eine aufschlussreiche tabellarische Übersicht über die zahlenmäßige Entwicklung der Patienten, den Bettenbestand, die Aufnahmen und Entlassungen, den Personalbestand und die Familienpflegeplätze im Zeitraum von 1905 bis 1979 zusammengestellt, die sie im Anhang zu ihrer Studie präsentiert. Die Aufstellung belegt einen deutlichen Anstieg des ärztlichen und des Pflegepersonals seit etwa 1970, als die Reformansätze griffen. Damit einher ging die Abschaffung der Familienpflege. Letztmalig sind für 1969 57 Familienpflegeplätze ausgewiesen.

Die Gliederung der Arbeit folgt nur zu Beginn der Chronologie, indem die Autorin die Jahre 1904 bis 1945 kursorisch in einem mit ,,Vorgeschichte" überschriebenen Kapitel auf knappen sechs Seiten abhandelt. Angesichts der gut erforschten (Vor-)Geschichte der Psychiatrie im Nationalsozialismus - wobei die Autorin selbst die Geschichte der Bremer Anstalt in mehreren Veröffentlichungen bearbeitet hat - ist dies durchaus genug. Der Schwerpunkt dieser Studie liegt sinnvoller Weise auf der Entwicklung nach 1945. Hier gliedert die Autorin ihre Arbeit innerhalb eines groben chronologischen Rasters nach strukturellen Gesichtspunkten, beginnend mit der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit. Im nächsten Kapitel stellt sie den ersten Nachkriegsdirektor der Klinik, Heinrich Schulte, vor. Er prägte mit seiner fast 20jährigen Dienstzeit die Klinik von 1945 bis 1964. Unter dem Titel ,,Die Nervenklinik zwischen Mangelbewältigung und Aufbruch" werden in Unterkapiteln die Außenabteilungen, die Fachabteilungen, die psychiatrischen Behandlungskonzepte und das Pflegepersonal während der Amtszeit Schultes und darüber hinaus bis Ende der 1960er-Jahre behandelt. Die Wende zu den 1970er-Jahren brachte unter dem Einfluss der ,,1968er"-Bewegung und von den USA nach Europa gelangenden Reformideen in der Psychiatrie den Durchbruch zur sozialen Psychiatrie. Die im zweiten Teil des Bandes versammelten Kapitel stehen folglich unter der Überschrift ,,Der Weg zu einer sozialen Psychiatrie." Das erste Kapitel widmet die Autorin dem Klinikchef und energischen Wegbereiter der Psychiatriereform Stefan Wieser, der die Klinik von 1964 bis 1973 leitete. Er stellte sich mit seiner ganzen Kraft in den Dienst der Reform, die er sowohl nach innen, auf Anstaltsebene, durchsetzen wollte, als auch nach außen, im Verhältnis von Anstalt zur Außenwelt. Der Neubau des Zentralkrankenhauses Bremen-Ost steht im Mittelpunkt des anschließenden Kapitels. Die Autorin zeichnet die bewegende Debatte um das ,,richtige" Konzept der Bremer Öffentlichkeit nach: Die Frage der räumlichen Trennung von akut erkrankten und chronisch kranken Patienten. In einem Ausblick stellt der ärztliche Geschäftsführer des Klinikums Hans Haack die Periode von 1977 bis 2004 vor - gewissermaßen anstelle eines resümierenden Kapitels.

Eine Besonderheit der Bremer Klinik war die relativ frühe Binnendifferenzierung, die über die traditionelle Kategorisierung der Patienten nach Schwere und Erscheinungsform der Erkrankung hinausging. Der erste Nachkriegschef, der erwähnte Heinrich Schulte, gilt als einer der führenden Vertreter der Psychohygienebewegung in Deutschland. Er betrieb die Einrichtung einer psychosomatischen Station und eines psychotherapeutischen Instituts. Letzteres stand seit Beginn 1949 unter der Leitung einer Nichtmedizinerin, nämlich einer am Berliner Psychoanalytischen Institut ausgebildeten Psychoanalytikerin. Die psychosomatische Abteilung entstand 1953. Seit 1965 behandelte die Abteilung nur noch ambulant. Der im Verhältnis zu den anderen Abteilungen sehr hohe Personal- und Kostenaufwand schien nicht mehr hinnehmbar. Die Einbeziehung psychoanalytischer und psychosomatischer Behandlungsangebote geschah allerdings zum Teil auf Kosten der als nicht therapierbar geltenden Dauer- bzw. Langzeitpatienten. Für diese wurden die räumlichen Verhältnisse zusehendes beengter, weil die neuen Abteilungen Platz auf dem Klinikgelände beanspruchten. Unmittelbar nach 1945 begann man, Patienten mit überwiegend schlechter Prognose in auswärtige Anstalten zu verlegen, etwa nach Marburg. Aber auch auf Bremer Territorium gab es bald mehrere Außenabteilungen der Anstalt, die besonders schwerkranke oder alte Patienten, getrennt nach Geschlechtern, aufnahmen.

Selbst als 1977 der Neubau mit achthundert Betten fertig gestellt war, bestand die als ,,Abschiebeanstalt" berüchtigte Außenabteilung Kloster Blankenburg noch weitere zehn Jahre. Mit dem Neubau schrieb Bremen erneut Psychiatriegeschichte, denn es verwirklichte das Skandinavische Modell eines integrierten Krankenhauses für somatisch und psychisch Erkrankte gleichermaßen.

Wie die Verfasserin in ihrer Einleitung selbst vorgibt, liegt der Schwerpunkt ihrer Darstellung auf der institutionellen Entwicklung der Klinik. Dass dabei keine ,,trockene" Institutionengeschichte herausgekommen ist, liegt entscheidend an dem schon erwähnten lebendigen Stil der Autorin und an ihrem Gespür für das Alltägliche, das Menschliche. Der Leser erfährt aus mehreren Perspektiven, wie der Klinikalltag in Bremen und in psychiatrischen Kliniken in den 1950er und 1960er-Jahren aussah. Der Autorin gelingt es, die wesentlichen bestimmenden Einflussfaktoren auf den Klinikalltag vorzustellen, z.B. einzelne Behandlungsmethoden und deren Auswirkung auf die Abläufe in der Klinik oder das strenge hierarchische System, dem das Pflegepersonal in der ,,totalen Institution" bis weit in die 1960er-Jahre unterlag. Diese Einflussfaktoren waren für damalige bundesdeutsche psychiatrische Kliniken zeittypisch. Unter diesem Gesichtspunkt ist die vorliegende Studie ein wesentlicher Beitrag zur ,,Alltagsgeschichte" der Psychiatrie in der Bundesrepublik. Übertragbar auf andere deutsche Kliniken sind sicher auch die Auswirkungen der Umbruchphase um 1970. Plastisch schildert die Autorin, welche Änderungen im Klinikalltag einzelne Reformen mit sich brachten, Änderungen, die im Bewusstsein mancher altgedienter Pfleger oder Langzeitpatienten einer Revolution gleichkamen. Patienten, die zuvor nur mit Löffeln hatten essen dürfen, erhielten nun Messer und Gabel. Die Geschlechtertrennung wurde auch im Verhältnis von Pfleger und Patient aufgehoben. Erstmals durften 1969 Schwestern männliche Patienten betreuen und seit 1970 Pfleger Patientinnen, allerdings nur auf der neurologischen Station.

Vieles für den Bereich der Psychiatrie aufzuzeigen, was einem heute selbstverständlich erscheint, ist der besondere Verdienst dieser Studie, der durch den gewählten Untersuchungszeitraum von 1945 bis 1977 die spannende Gegenüberstellung von ,,Vorreformzeit" und ,,Nachreformzeit" gelungen ist.

Elke Hauschildt, Koblenz und Hamburg


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