ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Jürgen Schlumbohm/Claudia Wiesemann (Hrsg.), Die Entstehung der Geburtsklinik in Deutschland 1751-1850, Göttingen, Kassel, Braunschweig, Wallstein, Göttingen 2004, 144 S., brosch., 19 €.

1751 wurde die erste universitäre Geburtsklinik an der 14 Jahre zuvor gegründeten Reform-Universität zu Göttingen eingerichtet. Zum 250-jährigen Jubiläum des im 18. Jahrhundert als Modelleinrichtung geltenden Göttinger Accouchierhauses fand in Göttingen eine Tagung zur ,,Entstehung der Geburtsklinik" statt, deren Beiträge in dem vorliegenden Band publiziert wurden.

Dem Anlass der Tagung entsprechend steht die Göttinger Universitäts-Geburtsklinik im Zentrum der Betrachtungen. Vor dem Hintergrund der seit den 1980er-Jahren durch Medizin- und Fortschrittskritik geprägten Forschungen über die ,,Geburt der Klinik" bieten Claudia Wiesemanns einführende Betrachtungen einen ungewöhnlichen Einstieg. Wiesemann vermittelt zwischen der Perspektive der Medizingeschichte als ,,Erfolgsgeschichte" und den kritischen zumeist geschlechtergeschichtlichen Analysen einer Geschichte der ,,Kolonisierung des weiblichen Körpers" in der akademischen Geburtshilfe, indem sie aktuelle medizinethische Fragen in die Wertung der Geschichte der Geburtshilfe einbringt. Sie verweist auf die individuelle lebensgeschichtliche Bedeutung medizinischer Entwicklungen sowie auf die wichtige Dimension der Erfahrung. Eine patientenzentrierte Analyse kombiniert mit einer wissenschaftsgeschichtlichen Perspektive - so Wiesemanns Vorschlag - lässt die Ambivalenz medizinischen ,,Fortschritts" deutlich hervortreten und somit ,,Fortschritt" neu denken.

Der Beitrag Isabelle von Bueltzingloewens beschäftigt sich mit der Göttinger Universitäts-Geburtsklinik, indem sie ihr analytisches Augenmerk auf den klinischen Unterricht richtet. Sie kann zeigen, dass aufgrund der großzügigen Unterstützung der hannoverschen Landesregierung, die aus bevölkerungspolitischen Motiven die Geburtshilfe verbessern wollte, die Geburtsklinik auch modellhaft für die praktische Ausbildung von Medizinstudenten wurde. Die Göttinger Institution bot besonders gute Ausbildungsbedingungen, da die Aufnahme und Versorgung der Schwangeren und Wöchnerinnen frei von den restriktiven Bedingungen der Armenfürsorge war.

Welche Konsequenzen der Ausbildungsbetrieb der Entbindungsanstalt für die gebärenden Frauen hatte, arbeitet Jürgen Schlumbohm in seiner alltagsgeschichtlichen Studie heraus. Überzeugend kann er zeigen, dass die Entstehung der klinischen Geburt weder als lineare ,,Erfolgsgeschichte" noch als ungebrochene ,,Opfergeschichte" gesehen werden kann. Der Autor stellt das Regiment des Klinikdirektors und Professors der Geburtshilfe, Friedrich Benjamin Osiander (1787-1855), seinen wissenschaftlichen Ergeiz, der einerseits Frauen zu ,,lebendigen Phantomen" und andererseits ihn zu einem der geschicktesten Geburtshelfer seiner Zeit werden ließ, dar. Gleichermaßen rekonstruiert Schlumbohm den ´Eigensinn` der Osianderschen Patientinnen, die versuchten, die Entbindungsanstalt für sich als Wohlfahrtseinrichtung zu nutzen, ohne die geforderte Gegenleistung zu erbringen, Ausbildungsobjekte für den Lehrbetrieb zu sein. So sind einige der von Osiander notierten Fallgeschichten überliefert, die dokumentieren, dass Frauen ihre Wehen verheimlichten und ihre Kinder im Verborgenen mit Unterstützung von Mitpatientinnen gebaren. Auch arbeitet Schlumbohm aus den ärztlichen Schilderungen heraus, dass es im Entbindungshaus eine weibliche Sphäre gab, die dem Arzt offenbar verschlossen blieb. In dieser Sphäre kommunizierten Patientinnen und Hebammen. Schlumbohm betont gleichwohl, dass Ärzte zwar vor allem die zahlungskräftige Klientel für sich gewinnen wollten, sie jedoch aufgrund des Mangels an universitär ausgebildeten Geburtshelfern keineswegs die Intention hatten, die weiblichen Geburtshelferinnen zu verdrängen.

Das Accouchierhospital der Georg-August-Universität war im Gegensatz zum Wiener Institut bekannt für den häufigen Einsatz von Instrumenten, die den Geburtsvorgang beschleunigen sollten. Von dieser wissenschaftlichen Ausrichtung zeugt heute noch die Göttinger Sammlung geburtshilflicher Instrumente, die zu den bedeutendsten ihrer Art gehört. Christine Loytved zieht diese Sammlung von Instrumenten und menschlichen Präparaten aus den 250 Jahren Geschichte der Göttinger Universitäts-Geburtsklinik heran, um die Praxis der männlichen Geburtshelfer und Hebammen zu rekonstruieren. Dieser Zugang zu einer medizinischen Sammlung ist durchaus innovativ, wurden derartige Überlieferungen medizinischer Wissenschaft bislang ausschließlich im Kontext wissenschaftlicher Nutzung interpretiert. Loytved betont zu Recht das medizinkritische Moment in ihrer Analyse der Anfänge der wissenschaftlichen Geburtshilfe in Göttingen, die zu einer menschlichen Distanzierung des Geburtshelfers den Schwangeren und Gebärenden gegenüber geführt habe.

Das Kasseler Accouchier- und Findelhaus (1763-1787), das Christina Vanja untersucht, stand in vielfältigem Bezug zur Göttinger Universitäts-Geburtsklinik. Leiter des Instituts war Georg Wilhelm Stein der Ältere, der Lehrer der bedeutenden Göttinger Professoren für Geburtshilfe Friedrich Benjamin Osiander und Adam Elias von Siebold , um nur zwei aus der langen Reihe seiner Schüler zu nennen. Stein war auch maßgeblich an der Planung des Neubaus des Göttinger Accouchierhauses beteiligt, welcher 1792 fertig gestellt wurde. Das Kasseler Haus war ebenfalls zur Ausbildung und Forschung von Medizinern konzipiert worden, doch prägte dieser Aspekt der Einrichtung in einem weitaus weniger starkem Maße die soziale Praxis als in der Göttinger Klinik. Aufgenommen wurden dort nur Mitglieder des Untertanenverbands, während in Göttingen Frauen jeglicher Herkunft Aufnahme fanden. Vanja betont, dass das Kasseler Accouchierhaus nicht ohne weiteres im Sinne Ute Freverts als Experimentierfeld männlicher Geburtshelfer zu charakterisieren sei. Vielmehr wurde auf die Scham der Patientinnen Rücksicht genommen, die Medizinstudenten häufiger auf die Phantome verwiesen, um praktische Fertigkeiten in der Geburtshilfe zu erlangen.

Vanjas Beitrag zeigt ebenso wie der letzte Beitrag des Sammelbandes von Gabriele Beisswanger über das 1767 gegründete Braunschweiger Entbindungshaus, dass die vergleichende Perspektive viele Thesen der Forschung über die ,,Geburt der Geburtsklinik" relativiert. Im Braunschweiger Accouchierhospital wurden in erster Linie Chirurgen und Hebammen ausgebildet. Da die Braunschweiger Universität keine medizinische Fakultät hatte, waren keine Medizinstudenten im Accouchierhospital, um dort in Geburtshilfe ausgebildet zu werden. Auch an geburtshilflichen Instrumenten mangelte es in der Braunschweiger Einrichtung. Die in der Stadt ansässigen Ärzte interessierten sich offenbar nicht für den wenig prestigeträchtigen Bereich der Geburtshilfe. Die Not leidenden Frauen, die das Haus als Wohlfahrtseinrichtung nutzten, waren somit nicht wie die Göttinger Schwangeren und Gebärenden der Experimentierfreude von Ärzten ausgesetzt.

Das Konzept des Sammelbands überzeugt durch die vielfältigen Perspektiven, Fragestellungen und auch Quellengattungen, die zur Analyse der Institutions-, Wissenschafts- und Alltagsgeschichte der universitären Entbindungshäuser herangezogen werden. Die Aufsatzsammlung deutet auf einen Paradigmenwechsel in der Forschung über die ,,Geburt der Geburtsklinik" hin, da in Abgrenzung zu älteren Studien bewusst auf vereinfachende Erfolgs-Misserfolgs- respektive Opfer-Täter-Dichotomien verzichtet wird, um der Komplexität von Norm, Aneignung und Interaktion der sozialen Akteure gerecht zu werden.

Karen Nolte, Würzburg


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | Dezember 2005