ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Konrad H. Jarausch, Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945-1995, Deutsche Verlags-Anstalt, Frankfurt a.M. 2004, 500 S., geb., 29,90 €.

Im Buchtitel wird der Begriff vermieden, aber Konrad Jarausch macht eingehend deutlich, dass er die Nachkriegsgeschichte der Deutschen als ,,Geschichte der Re-Zivilisierung" versteht. Ausgehend vom ,,Zivilisationsbruch Auschwitz" und in Anlehnung an die Definition von Zivilgesellschaft durch Jürgen Kocka nimmt Jarausch eine Untersuchung ,,der Umkehr" der Deutschen vom Militarismus und Nationalismus zu Demokratie und Ansätzen von Weltoffenheit vor. In neun Kapiteln beschreibt und analysiert er die unterschiedlichen Wandlungen der Deutschen anhand der drei Zeitabschnitte, in denen sich ,,wichtige Veränderungen besonders stark verdichteten" (S. 28f.): Die unmittelbare Nachkriegszeit der 1960er-Jahre (mit Modernisierung und Protest) sowie die der"Bürgerrevolution" von 1989/90.

Diese Herangehensweise verbietet eine chronologisch angelegte Untersuchung. Dennoch schafft es Jarausch mittels einer Dreiteilung eine gewisse Chronologie zu wahren und Wiederholungen zu vermeiden. Der erste Teil konzentriert sich hauptsächlich auf die ,,erzwungenen Neuorientierungen" nach der Niederlage des nationalsozialistischen Regimes, die auf eine Abkehr von Militarismus und Nationalismus zielten sowie die Wirtschaftssysteme in Ost und West nach ihren jeweiligen Interessen umstrukturierten. Jarausch betont die Maßnahmen der Besatzungsmächte, besonders die der Vereinigten Staaten, zur Erziehung der Deutschen, die zusammen mit der Verarbeitung der Kriegstraumas durch die Deutschen selbst schnelle und nachhaltige Wandlungen hervorbrachten. Auf dem Gebiet der Demokratisierung und der Anlehnung an westliche Kultur dagegen verinnerlichten die Deutschen die Erziehungsversuche erst später, weswegen beide Punkte erst im zweiten Teil behandelt werden, dessen Schwerpunkt auf den sechziger Jahren liegt. Diesen grundlegenden ,,Wertewandel", der teils durch ökonomische und soziale Umbrüche, teils durch die ,,Generationsrevolte" der späten sechziger Jahre befördert wurde, stellt der Autor ausschließlich in der Bundesrepublik fest, während in der DDR aufgrund ,,systematischer Entbürgerlichung" keine zivilgesellschaftlichen Prozesse aufgekommen seien (S. 240f.). Erst in den achtziger Jahren erkennt Jarausch eine ,,Reaktivierung der Gesellschaft" (S. 256) in der DDR durch die Bürgerrechtsbewegung, womit er den dritten Teil des Buches einleitet, der mit der Darstellung des Wunsches der Deutschen nach ,,Normalität" und ihres Umgangs mit Fremden bis in die Gegenwart reicht.

Wenn auch, wie an anderer Stelle angemerkt, Jarausch nicht ganz so oft Neuland betritt, wie er angibt,(1) so ist es doch sehr anregend, auf wie viele offene Fragen der Sozialgeschichtsschreibung er hinweist und wie er auf vermeintlich erschöpfend erforschten Feldern mit neuen Antworten aufwartet. Beispielsweise bewertet er die Entnazifizierung in den Westzonen nicht als moralische Hypothek für die spätere Bundesrepublik, sondern verweist auf den ,,Widerspruch zwischen ihrem kurzfristigen Versanden und ihrem langfristigen Erfolg." Zwar sei die Rehabilitierung ehemaliger Nationalsozialisten ,,ärgerlich" gewesen, habe aber ,,keine wirkliche Gefahr" für das entstehende demokratische System dargestellt, weil keine ,,Subkultur der Ewiggestrigen" aufkommen konnte (S. 75). An dieser wie an vielen anderen Stellen zeigt sich die ganze Stärke des Ansatzes der Zivilgesellschaft: Jarausch kann sich den Wandlungen der Deutschen weitestgehend ohne moralische Wertungen nähern und nüchtern die verschiedenen Perioden deutscher Nachkriegsgeschichte auf ihre zivilisierende Funktion einordnen, was vor allem für den innerdeutschen Vergleich zu interessanten Schlüssen führt. Jarausch interpretiert die Entnazifizierung in der SBZ als Mittel der ,,Machtsicherung der kommunistischen Minderheit", die aber dennoch ,,konsequenter" durchgeführt wurde und so einen Handlungsdruck in der BRD bewirkte, den die SED mit der Veröffentlichung von Namen prominenter Nationalsozialisten in Verwaltung und Industrie der BRD noch verstärken konnte (S. 72).

Der ,,eigentliche Durchbruch der Zivilisierung" fand in den sechziger Jahren statt, die Jarausch als ,,Art nachholender Modernisierung" versteht (S. 133-134). Die Spiegel-Affäre von 1963, die Wechsel im Bundeskanzleramt, besonders der Einzug Willy Brandts, und die Abwehr von Rechts- und Linksextremismus sieht er als erfolgreich überstandene ,,Bewährproben der Demokratie." Erst jetzt, wo ,,die Demokratie selbst zum Maßstab geworden war", öffneten sich Räume für Diskussion um Partizipation und mehr als nur formale Demokratie (S. 203). ,,1968" ist demnach nicht so sehr Ausgangspunkt, sondern Katalysator für den ,,Abbau autoritärer Strukturen" und den ,,Zuwachs an Partizipation" (S. 237-238). Jarausch schafft es, das ,,aufgeladene Symbol 1968" in den allgemeinen Wandel einzubetten, den Industriegesellschaften in diesem Jahrzehnt durchliefen und damit den ,,Zyklus von Verherrlichung und Verdammung" durch ,,bewusste Historisierung" zu brechen (S. 235).

Es ist zu bedauern, dass Jarausch in diesem Teil die Entwicklung der DDR nur streift und damit jene Generationskohorte ausspart, die zwischen Mauerbau und ökonomischer Flexibilisierung, kultureller Duldsamkeit und folgendem ,,Kahlschlag" der SED, 5-Tage-Woche und Wachstumskrise und mit der Niederschlagung des ,,Prager Frühlings", unter anderem auch durch NVA-Truppen, eine widerspruchsvolle Entwicklung durchlief, die über Jahrzehnte prägend blieb. Ansonsten ist die Behandlung der DDR zwar knapp, aber stichhaltig. Der Autor spannt den Bogen vom ,,Stolz der Aufbaugeneration" (S. 126) bis zur ,,nur noch konventionell loyalen" Haltung der Bevölkerung in den achtziger Jahren (S. 284) und bietet mit dem Begriff des ,,zivilgesellschaftlichen Aufbruchs" eine stichhaltige Erklärung, warum die DDR implodieren konnte. Die SED, die ,,jeden Sammelpunkt der Unabhängigkeit in ihrem Machtbereich vernichten wollte" (S. 255), konnte nur mit Methoden der Spionage auf die ,,schrittweise Entwicklung von kritischen Minderheiten" regieren, die Jarausch als Ausgangspunkt für das Ende der SED-Herrschaft identifiziert. Er verhehlt nicht, dass die sich entwickelnde ,,Gruppenszene" den Machtanspruch der SED nicht in Frage stellen konnte, solange ,,sich die Mehrheit der Bevölkerung aufgrund ihrer wirtschaftlichen Enttäuschung und ihrem Wunsch nach Reisefreiheit nicht hinter die Forderungen der Opposition stellte", kommt aber zu dem Schluss:"Der Bruch mit dem Sozialismus war letztlich unausweichlich, weil dieser die Herausbildung der Zivilgesellschaft in Ostdeutschland systematisch verhindert hatte" (S. 277). Für das heutige ,,Partizipationsdefizit im Osten" sei jedoch nicht nur die SED verantwortlich. Der Anschluss der Organisationen und Parteien an die westlichen Pendants brachte die ostdeutschen Vertreter jeweils in eine ,,dauerhafte Minderheitenposition", die der Durchsetzung ihrer spezifischen Interessen entgegenstand und steht (S. 275).

Besonders für das tiefere Verständnis der neuesten Entwicklung Deutschlands ist es von Vorteil, dass der Autor sich als Emigrant der späten 1960er-Jahre nicht als Teil der deutschen Nachkriegsgesellschaft versteht, aber durch seine Position an der Spitze des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam die nötige Detailkenntnis besitzt. Die ,,Suche nach Normalität" ist wohl nur von einem Außenstehenden, derart pointiert zu beschreiben wie von ihm. Er benutzt den Begriff nicht normativ, sondern analysiert im Gegenteil, wie die normative Verwendung der ,,Normalität" das Denken der Deutschen vor und nach dem Ende der DDR bestimmte. Für einige war Normalität die ,,Entsorgung der Vergangenheit", für andere die Verteidigung der Teilung Deutschlands als einzige Garantie vor einem Rückfall in Großmachtgelüste - beides Einstellungen, die Jarausch kritisiert. Konsequenterweise verweigert sich Jarausch der Antwort, ob es ein ,,normales" Deutschland je geben kann oder soll. Aus der amerikanischen Perspektive jedenfalls urteilt er, dass die Neuorientierung in Bezug auf Militäreinsätze und das ,,Aufkommen eines demokratischen Patriotismus" keine Abkehr von den ,,langwierigen Lernprozessen" der Nachkriegszeit darstelle. Diese seien lediglich ,,von einigen Übertreibungen gereinigt" worden (S. 312).

Auch in der Behandlung der ,,Toleranz des Fremden", dem ,,Schlüsselindikator für die Reife und Vitalität einer Zivilgesellschaft" (S. 316), bewahrt die Sicht von außen den Autor vor voreiligen Schlüssen. Die Gebietsannexionen zu Ende des Zweiten Weltkriegs machten die Bevölkerung ,,einheitlicher deutsch als je zuvor", weswegen sich in beiden deutschen Staaten kaum Sensibilität für den Umgang mit anderen Nationalitäten entwickelte. Jarausch kritisiert die Realitätsferne von Franz-Josef Strauß, der 1984 ,,entgegen allen Fakten behauptete" die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland, genauso wie ,,linke Moralappelle" jener Zeit. Bei aller Unterschiedlichkeit glichen sich beide Einstellungen darin, dass sie keine Initiativen für eine Integration von Fremden vorantrieben und damit die ,,grassierende Xenophobie" nicht verhinderten, die Anfang der neunziger Jahre mit Gewaltakten und Mordanschlägen eine neue Qualität erreichte, die zudem vom damaligen Kanzler Kohl lange nicht verurteilt wurden (S. 324, 329). Der Autor muss hier den gewählten Untersuchungszeitraum verlassen, um einen verhalten positiven Ausblick für das Verhältnis der Deutschen zu Fremden ziehen zu können, den die rot-grüne Regierung mit dem ,,längst überfälligen Bruch" mit dem Abstammungsprinzip einleitete. Das inzwischen verankerte Bewusstsein, dass Zuwanderung nötig ist, um den Wohlstand zu sichern, sieht er genauso als Meilenstein der Entwicklung Deutschlands an wie die Erkenntnis, dass eine Integration der Fremden notwendig ist und nicht auf ,,eine einseitige Assimilation hinauslaufen soll" (S. 346).

In anderen Teilen jedoch erschwert die amerikanische Prägung des Autors das tiefere Verständnis der Einflüsse auf Nachkriegsdeutschland, wie besonders an der Darstellung westlicher kultureller Einflüsse deutlich wird. Jarausch hält in diesem Feld an dem Begriff der ,,Amerikanisierung" fest, da es sich ,,um konkret fassbare amerikanische Einflüsse" handele (S. 160) und kontrastiert seine Ankündigung, mit dem Ansatz der ,,Westernisierung" auch europäische Einflüsse mit einzubeziehen, die auf dem Gebiet der Mode, der Musik und des Kinos zweifellos vorhanden gewesen sind. Ein weiteres Beispiel ist die Diskussion der deutschen Wirtschaftspolitik, wobei der knappe Befund erfolgt, dass das ,,vielgerühmte Modell" der sozialen Marktwirtschaft seit den siebziger Jahren ,,nicht mehr richtig" funktioniere. Die These, die Bundesrepublik sei ,,schon vor der Vereinigung dabei [gewesen], ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren" (S. 124f.) ist aufgrund deren Stellung als Exportweltmeister ebenso fraglich wie die Feststellung, dass die Einführung der Pflegeversicherung zu einer weiteren Belastung der Arbeitgeber geführt habe, da sie die Überkompensation durch den Wegfall des Buß- und Bettags als Feiertag schlicht unterschlägt (S. 127). Dort, wo Jarausch auf diese anglo-amerikanisch geprägte Kritik verzichtet, gewinnt seine Analyse an Überzeugungskraft, wie mit der Schilderung der konfliktreichen Einführung der Marktwirtschaft gegen den Widerstand der ,,an Absprachen gewöhnten Industrie und den auf Sozialisierung hoffenden Gewerkschaften" in Westdeutschland, die mit der Vorstellung einer reibungslosen Einführung der Marktwirtschaft aufräumt (S. 117).

Mit der ,,Geschichte der Re-zivilisierung" Deutschlands hat Jarausch einen verständlichen und gleichzeitig analytisch hochwertigen Ansatz zur Interpretation Nachkriegsdeutschlands vorgelegt, der für die Forschung zur Geschichte der Deutschen sowohl Anregung als auch Bezugspunkt bilden wird. Seinem Anspruch, ,,keine affirmative Erfolgs-, sondern eine kritische Wandlungsgeschichte der Deutschen" zu schreiben, wird der Autor in jedem Fall gerecht.

Christoph Vietzke, Huntingdon (U.K.)


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