Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Klaus-Peter Lorenz, Die Demokraten-Macher. Politische Bildner im Nachkriegsdeutschland. Das Beispiel Jugendhof Vlotho 1946-1949 (Geschichte und Erwachsenenbildung, Bd.18), Klartext-Verlag, Essen 2004, 370 Seiten., brosch., 24,90 €
Geht es um das Bibliotheken füllende Thema des deutschen Zusammenbruchs von 1945 und der Vergangenheitsbewältigung in der Übergangszeit bis zur Gründung der Bundesrepublik, dann bergen biographisch ansetzende Mikrostudien besondere Vorzüge, die mit der Besonderheit des Untersuchungsgegenstandes zu tun haben, namentlich mit der stark individuell geprägten Verarbeitung der Zusammenbruchserfahrungen. Dieser Ansatz erweist sich ein weiteres Mal als ausgesprochen fruchtbar, wenn man die stark überarbeitete Buchfassung der bereits in den 1980er Jahren abgefassten Dissertation von Klaus-Peter Lorenz zur Hand nimmt. Der Autor geht in seiner Studie über den Jugendhof Vlotho dem mutigen Experiment der damaligen britischen Besatzungsmacht nach, das Konzept der demokratischen Umerziehung der deutschen Jugend weitgehend in die Hände deutscher Pädagogen und Bildungsreferenten zulegen, die das gesamte politische und weltanschauliche Spektrum des Nachkriegszeit repräsentierten, von schwer belasteten Nationalsozialisten einmal abgesehen. Im Zentrum der Studie steht das Leitungsteam des Jugendhofes und dessen Ringen um ein tragfähiges Konzept, Jugendgruppenleiter auszubilden, die das geistige Vakuum, das der zusammengebrochene NS-Staat in der heranwachsenden Generation hinterlassen hatte, auszufüllen vermochten. Der Ansatz des Autors, die biographischen Hintergründe des Referenten des Jugendhofes auszuleuchten und in Beziehung zu den Antworten auf die Probleme der Nachkriegsgesellschaft zu setzen, stellt sich als ein gewinnbringendes Unternehmen dar, zeigt es doch, wie sehr sich Menschen gegensätzlicher geistiger und politischer Herkunft unter dem Druck der Verhältnisse produktiv zusammmenzuraufen verstanden, um in einer Atmosphäre der Offenheit die demokratischen Tugenden der Toleranz, des Zuhörens und des Fremdverstehens einzuüben. Das Spektrum der Mitarbeiter reichte immerhin von ehemaligen, quasi ‚vorbelasteten' Funktionsträgern der NS-Jugendorganisationen über Vertreter christlicher Jugendorganisationen bis hin zu Jugendbildnern mit sozialdemokratischem und kommunistischem Hintergrund.
Aber diesen Vorzügen standen, so das abgewogene Urteil des Autors, klar erkennbare Schattenseiten gegenüber, die vor allem mit der unbewussten Tradierung von ideologisch und gefühlsmäßig überfrachteten Gemeinschaftsvorstellungen zu tun hatten, die bei diesem Personenkreis ihre Wurzeln zumeist in der deutschen Jugendbewegung hatten. Lorenz nennt vor allem die unpolitische, von sozialen Interessen und politischen Machtkämpfen abstrahierende Vorstellung von ‚echter' Gemeinschaftlichkeit und die damit verbundene Naivität gegenüber politischen Missbrauchsgefahren. Andererseits aber, das gibt auch der Autor zu bedenken, war es gerade der diffuse jugendbewegte Gemeinschaftsidealismus, der sich lager-, konfessions- und parteienübergreifend als Verständigungsbrücke zwischen Rechten und Linken, Christen und Atheisten und selbst zwischen Opfern des NS-Regimes und ehemals aktiven Nationalsozialisten erwies. Vor allem die eigentümliche Gemeinschaftsatmosphäre des Vlothoer Hauses ermöglichte es manch idealistisch beseeltem ehemaligen NS-Funktionsträger, sich nicht mehr nur als sog. ‚Opfer' der Befreiung von der NS-Diktatur zu begreifen, sondern für sich persönlich Zukunftsperspektiven zu entwickeln, wenn sich eine echte Chance zur Rehabilitierung und Wiedereingliederung ins Berufsleben bot. Insofern erwies sich ein eher irrationales Traditionselement der politischen Kultur als ein Freiraum, der Integrationschancen bot, die eine konsequente Entnazifizierungs- und Abstrafungspraxis möglicherweise eher verbaut hätte. Gedankengänge dieser Art zeigen, dass es sich der Autor mit der Bewertung des zwiespältigen Charakters des Jugendhof-Projektes nicht leicht gemacht hat, vielmehr bis in einzelne biographische Facetten hinein den Erfahrungshintergrund der Akteure und ihre aktuellen jugendpolitischen Antworten verständlich zu machen sucht. Vor allem diese für die 1980er Jahre wegweisende methodische Leistung rechtfertigt die erneute Veröffentlichung einer zeitlich weit zurückliegenden Dissertation.
Der Leiter des Jugendhofes Klaus von Bismarck (als späterer Intendant des WDR bekannt geworden), der Herkunft nach ein christlich orientierter Nationalkonservativer, bewies bei der Zusammenstellung der Kursprogramme für die Jugendleiter ein gutes Gespür für die Balance zwischen einem schonungslosen politischen Aufklärer-Duktus und Debattenstil auf der einen, und aufbauenden weltanschaulichen Orientierungsleistungen sowie praktischen Ausbildungsinhalten auf der anderen Seite. Im Vordergrund standen die moralischen Orientierungsangebote Christentum und Sozialismus als Antwort auf den deutschen Zusammenbruch. Dass dabei vor allem die britischen Vorstellungen einer demokratisch-pluralistischen Staatsbürgerkunde und Ideologiekritik zu kurz kamen, wird aus den Ausführungen des Buches sehr deutlich. Was manch einem aus heutiger Sicht übertrieben erscheinen mag, rückt der Autor völlig zu Recht in den Vordergrund, namentlich die musikkulturellen Traditionen eines deformierten politischen Selbstverständnisses beachtlicher Teile der damaligen pädagogischen Intelligenz. Diese Traditionen kamen im Vlothoer Jugendhaus in dem Moment massiv zur Geltung, als sich nachdrückliche Kritik an der Praxisferne des Ausbildungskonzepts geltend machte und Vertreter der sog. Jugendmusikbewegung diesen Mangel mit ihren Konzepten praktischer Jugendarbeit zu beheben versprachen. Hinter diesem Personenkreis stand eine der wirkungsmächtigsten Strömungen der deutschen Jugendbewegung, die sich nach 1933 von der musikpolitischen Propagandastrategie des NS-Regime systematisch hatte instrumentalisieren lassen, und dies in zahllosen Fällen aus freien Stücken. Zugrunde lag dem Gesellschaftsbild dieser im Kern bildungsbürgerlichen Bewegung die naive politische Vorstellung von einer Lebenserneuerung auf musischer Basis: Der einzelne sollte in einer Zeit der sozialen und geistigen Zerrüttung und Desorientierung über gemeinsames Musizieren zur Gemeinschaftsfähigkeit zurückfinden. Gemeinschaftsgeist und Sinn für soziale Ordnung sollte das gemeinsame Singen, Tanzen und Instrumentalspiel wiedererstehen lassen, gleichsam eine ‚echte' Volksgemeinschaft im Kleinen; und genau damit hatte die Jugendmusikbewegung auf Defizite des politischen Systems der Weimarer Nachkriegsgesellschaft geantwortet.
Diese nach dem I. Weltkrieg entwickelten Vorstellungen glaubte man als vermeintlich unbeschädigten Traditionsbestand in die Nachkriegszeit nach 1945 hinüberretten zu können, wenn im Ausbildungsprofil des Jugendhofs sog. Singe-, Instrumental- und Volkstanzgruppen ein recht großes Gewicht erhielten. Der Leitung des Jugendhofes entging, dass sich die Schwerpunktverlagerung von einer demokratischen Debattenkultur hin zu gemeinschaftsorientierten praktischen Fertigkeiten auch als verdeckte Rehabilitierungsschleuse für ehemalige Funktionsträger des NS-Kulturbetriebs erwies. Der Autor weist aber auch darauf hin, dass dieses Bemühen um traditionale Selbstvergewisserung über 12 Jahre NS-Diktatur hinweg auf deutliche Grenzen stieß, die in zweierlei begründet lagen: Zum ersten war dieses eher antidemokratische Traditionsangebot einer wachsenden Konkurrenz durch westliche Kulturimporte ausgesetzt, die sich nunmehr nach Jahren rigider nationalistischer Abschottung voll entfalten konnten; zum zweiten trafen die teilweise stark in den NS-Kulturbetrieb verstrickten Musiker und Musikpädagogen in den wiederaufblühenden Jugendverbänden auf Skeptiker und Gegner, die das Konzept des Vlothoer Jugendhauses nach Gründung der Westrepublik als überlebt erscheinen ließen. Vor allem waren es christlich-konfessionelle und sozialdemokratische Jugendverbände, die sich vom Vlothoer Konzept einer überverbandlichen und überparteilichen Ausbildung von Jugendgruppenleitern abwandten. Gleichwohl leistete das Jugendhaus aus der Sicht des Autors in den Besatzungsjahren wertvolle Dienste, wenn es darum ging, die überkommene außerschulische Jugendarbeit an die demokratischen Werte des Westens heranzuführen und bei den jungen Deutschen Verständnis für die Perspektiven der Gegner und Opfer des nationalsozialistischen Deutschland zu wecken. Insofern kann der Vlothoer Jugendhof trotz aller Mängel durchaus einen ansehnlichen Platz im Prozess der demokratischen Modernisierung Westdeutschlands beanspruchen.
Dietmar Klenke, Paderborn