ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Stefan Schubert, Saisonarbeit am Kanal. Rekrutierung, Arbeits- und Lebensverhältnisse ausländischer Arbeitskräfte beim Bau des Mittellandkanals im Osnabrücker Land 1910-1916, IKO-Verlag, Frankfurt/Main, London 2005, 368 S., brosch., 24,90 €

Sozialhistorische Migrationsforschung hat ihre Stellung in der deutschen Geschichtsschreibung in den letzten beiden Jahrzehnten stetig ausgebaut. Der Grundlagenforschung des Osnabrücker Historikers Klaus J. Bade in den frühen 1980er-Jahren folgten in den 1990er-Jahren eine Reihe von Regionalstudien, die das kaiserliche Deutschland in Hinsicht auf das Migrationsgeschehen zu den am besten untersuchten Epochen aufsteigen ließ.(1) Stefan Schubert ist es mit seiner meso- und mikrohistorisch angelegten Dissertation dennoch gelungen, das Forschungsspektrum um wichtige Aspekte zu erweitern.

Der Bau des Mittellandkanals war eines der prestigeträchtigsten Großbauprojekte des Deutschen Kaiserreichs. Ziel war es, das Ruhrgebiet mit den Industriezentren des Berliner Raums zu verbinden. Die Bauarbeiten fielen jedoch in eine Zeit, in der der Arbeitsmarkt nicht mehr durch ein Überangebot, sondern durch einen großen Mangel an Arbeitskräften gekennzeichnet war. Die weit verbreitete ,,Leutenot" in Preußen-Deutschland wurde durch eine massenhafte Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte gelindert: Deren Zahl in Landwirtschaft und Industrie stieg bis zum Ersten Weltkrieg rasant an und erreichte in Preußen knapp die Millionengrenze, im gesamten Reich wurden rund 1,2 Mio. Arbeitsmigranten gezählt.(2)

Auch die mit den Tiefbauarbeiten beauftragten Unternehmen waren bei weitem nicht in der Lage, ihren immensen Arbeitskräftebedarf mit Hilfskräften aus der näheren Umgebung zu decken. Russische und österreichische Polen galten als die bevorzugten Ersatzarbeitskräfte. Aus nationalpolitischen Erwägungen vertrat Preußen allerdings eine strikt antipolnische Politik, welche das Zusammentreffen der ausländischen mit den deutschen Polen verhindern sollte.(3) Den Kern von Schuberts Studie bildet die Frage, wie sich das differenzierte System der antipolnisch ausgerichteten Ausländerkontrolle auf die Arbeitskräfteversorgung eines staatlichen Großbauprojekts auswirkte.

Den historischen Rahmen spannt Schubert in den Kaptiteln zwei bis vier: auf Grundlage von statistischem Material zeichnet er zunächst die klar agrarische Prägung der Landkreise nach, in denen sich der Kanalbau vollzog. Dieser Hintergrund kommt zum Tragen, wenn später von den erbitterten Kämpfen der einheimischen Agrarier um die knappen Landarbeiter berichtet wird, deren Abwanderung zur lukrativen Großbaustelle befürchtet wurde. Es folgt ein Überblick über Planungen, Durchführung und Bau des Mittellandkanals. Der Leser erfährt von den konfliktträchtigen Diskussionen im Vorfeld des Baus, der sich als Kampf des agrarisch geprägten Ostens gegen den industrialisierten Westen des Reichs kennzeichnen lässt. Das vierte Kapitel stellt die Grundlinien der in Preußen entwickelten antipolnischen ´Abwehrpolitik` um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert dar, die eine effektive Überwachung der Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte ermöglichte.

Im fünften Kapitel wird die regionalgeschichtliche Perspektive schärfer. Auf einer imponierenden Quellengrundlage stellt Schubert verschiedene Akteure einer Gemengelage vor, deren spannende Entwicklung auf 80 Seiten dargestellt wird. Den Tiefbauunternehmen ging es in Zeiten großer ,,Leutenot" um die Rekrutierung ,,billiger" und ,,williger" Arbeitskräfte die vorübergehend bereit waren, körperlich äußerst belastende Tätigkeiten im Gruppenakkord zu verrichten und unter provisorischen Bedingungen in Baracken zu hausen. Schnell wurden in den ausländischen Polen die idealen Erdarbeiter ausgemacht, deren Beschäftigung aber nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Innenministers erlaubt war. Dieser lehnte die ersten Anträge auf Polenbeschäftigung ab. Um die dominierende Landwirtschaft an den Streckenabschnitten nicht ihrer Arbeitskräfte zu berauben, bekamen die Unternehmen immer stärkere Unterstützung von den regionalen preußischen Verwaltungen mit dem Regierungspräsidenten an der Spitze. Auch die Kanalbaudirektion Hannover, der an der schnellen und reibungslosen Ausführung der Arbeiten gelegen war, befürwortete die Genehmigung von ausländischen Polen. Im Verbund mit diesen Institutionen gelang es der regionalen Agrarlobby zudem, die Minister für öffentliche Arbeiten und für Landwirtschaft für die Polenbeschäftigung zu gewinnen. Dieses Anliegen setzte sich schließlich ein Stück weit durch. Ab 1912 durften Auslandspolen offiziell mit einem Anteil von 25% der Gesamtbelegschaft beschäftigt werden. Zahlreiche Quellen zeigen, dass diese Quote mit stillschweigender Duldung der zuständigen Landräte permanent überschritten wurde. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs änderte sich die Arbeitsmarktlage grundlegend. Bis zum Ende der Bauarbeiten waren fast ausschließlich polnische Zwangsarbeiter mit den Arbeiten betraut.

Das sechste Kapitel beschäftigt sich mit dem Umfang der ausländischen, insbesondere jedoch mit der auslandspolnischen Arbeitsnahme beim Kanalbau. Als Grundlage dienen Schubert die Rohdaten der ,,Nachweisungen" der preußischen Landräte über ,,Zugang, Abgang und Bestand" der ausländischen Arbeiter. Die gründliche Analyse dieser Daten im gesamtpreußischen Vergleich zeigt, dass die preußische Sicherheitspolitik für die Fertigstellung eines staatlichen Großbauprojekts zwar aufgeweicht wurde, sich die ministeriellen Sondergenehmigungen aber tatsächlich auf wenige Ausnahmen beschränkten.

Kapitel sieben blickt auf die Arbeit- und Lebensbedingungen der fremden Erdarbeiter. Obwohl der preußische Staat als Bauherr für die Sozialfürsorge der Beschäftigten verantwortlich zeichnete, ging die praktische Umsetzung der Wohlfahrtsvorschriften auf die Kirchen sowie - wenn auch in weit geringerem Maße - auf die Unternehmer über. Die weitreichenden Konzeptionen betrafen die Bereitstellung angemessener Unterkünfte, die ärztliche Versorgung, die Seelsorge, die Eindämmung des Alkoholmissbrauchs sowie die Gestaltung der knapp bemessenen Freizeit der Arbeiter. Aufgrund der großen Arbeitermassen, deren hoher Fluktuation sowie des mangelnden Personals scheiterten die sozialfürsorgerischen und disziplinierenden Ideen des Obrigkeitsstaats auf der ganzen Linie.

Der Verdienst von Schuberts Studie besteht vor allem darin, dass er die Vorgeschichte und die Durchführung dieser Sonderregelungen der Polenbeschäftigung unter Einbeziehung der Arbeitgeberperspektive präzise nachgezeichnet hat. Auch die Auswirkungen von staatlich erarbeiteten Wohlfahrtsvorschriften auf die Lebensverhältnisse der Arbeiter bei einem staatlichen Großbauprojekt zur Zeit des Deutschen Kaiserreichs sind bisher kaum erforscht. Für eine solche Darstellung ist eine differenzierte Fokussierung auf regionalgeschichtliche Aspekte unumgänglich. Auch wenn man sich in Schuberts Studie einen ausführlicheren Vergleich mit zeitgleichen Bauvorhaben gewünscht hätte, so bietet diese quellengesättigte Arbeit in Hinblick auf das Migrationsgeschehen doch wichtige Einblicke in das Zusammenwirken verschiedener Institutionen und deren Konsequenzen, die längst nicht immer der preußischen Staatsraison entsprachen.

Frank Buskotte, Osnabrück*




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