Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Die zeitgeschichtliche Katholizismusforschung hat die fehlende Aufarbeitung der strukturellen Eingliederung der katholischen Vertriebenen in die katholische Kirche in der Bundesrepublik immer wieder als Desiderat bezeichnet(1). In den Jahren 2002 und 2003 sind von Michael Hirschfeld und Rainer Bendel zwei Arbeiten veröffentlicht worden, die sich mit dem Thema Vertriebene und katholische Kirche ausführlich beschäftigen und damit die konstatierte Lücke füllen können. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln und mit verschiedenen Ansätzen fragen beide Autoren nach dem Zusammenhang des Zustroms der Vertriebenen mit dem Wandel des katholischen Milieus in der Bundesrepublik Deutschland.
Die im Fach Theologie an der Universität Tübingen angenommene kirchengeschichtliche Habilitationsschrift Rainer Bendels versucht den Anteil der katholischen Vertriebenen zur Modernisierung oder Umstrukturierung des Katholizismus bis in die Mitte der 1960er-Jahre zu beleuchten. Obwohl im Titel nicht eigens vermerkt, bezieht sich die Studie fast ausschließlich auf die alte Bundesrepublik. Die Bedingungen in der SBZ/DDR werden nur kurz am Beispiel des Restteils des Erzbistums Breslau und seines Leiters Ferdinand Piontek beschrieben.
Ausgangspunkt der Untersuchung ist die auf den kirchlichen Bereich bezogene Frage, ob in den beiden Dekaden nach dem 2. Weltkrieg die ,,Segmentierung der Gesellschaft" (S. 40), das Anwachsen der Mobilität und die Ausweitung der Industrialisierung, die durch den Zustrom der Vertriebenen begünstigt wurden, Verkirchlichungs- oder eher doch Säkularisierungstendenzen verstärkten. Eng damit verbunden ist die Frage einerseits nach der Integrationskraft des Katholizismus bei der Eingliederung der Vertriebenen und andererseits nach dem Beitrag, den die Vertriebenen zu einer Modernisierung von Gesellschaft und Kirche leisteten.
In einem ersten Zugriff versucht Bendel, das ,,innovatorische Potential" (S. 38), das Vertriebene und Vertriebenenseelsorge in Kirche und Gesellschaft einbrachten, zu ermitteln. Um Entwicklungstendenzen im Katholizismus der frühen Bundesrepublik aufzeigen zu können, sollen sowohl Vertriebene als auch ,,Einheimische" ,,als zwei Pole im konkreten sozialen Raum" (S. 42) in den Blick genommen werden.
Zur Bearbeitung dieses umfangreichen Fragenkomplexes hat Bendel die zum Teil verstreut überlieferten und ungeordneten Bestände wichtiger Initiatoren und Organisationen der Vertriebenenseelsorge gesichtet. Darüber hinaus stützt er sich auf eine beträchtliche Zahl sorgfältig zusammengetragener gedruckter Veröffentlichungen. Künftige, mit ähnlichen Themen befasste Bearbeiter, finden hier eine umfassende Zusammenschau des bereits publizierten Materials vor.
In einem ersten, biografisch angelegten Teil, stellt Bendel führende Vertriebenenseelsorger und die von ihnen entwickelten pastoralen Konzepte vor. Er beleuchtet die diese Männer prägenden Gedanken- und Ideenwelten sowie die in ihren Konzepten maßgeblich verfolgten Ziele. Für seine Untersuchung wählte der Verfasser neben den ´großen` katholischen Vertriebenengruppen, den Sudetendeutschen und den Schlesiern, die ermländischen und die aus Südosteuropa vertriebenen Katholiken aus. Gefragt wird auch nach der Relevanz der vorgestellten Konzepte sowie ihrer Umsetzung in der Praxis. Ziel ist es zudem, die Kirchenvorstellungen, die die Pastoral prägten, zu verdeutlichen und schließlich den Charakter dieser Initiativen hinsichtlich der in ihnen enthaltenen innovativen Tendenzen zu bewerten. Damit ist beispielsweise der Aufbruch aus einem eher juristisch geprägten Seelsorgeverständnis gemeint, wie er sich in der Jugend- oder Liturgiebewegung oder aber in der Diasporaseelsorge in den Herkunftsgebieten der Vertriebenenseelsorger bereits seit den Zwanzigerjahren angekündigt hatte. Maßgeblich für Bendels Analysen ist allerdings ein Seelsorgeverständnis, das den Texten des 2. Vatikanischen Konzils (1962-1965) zugrunde liegt in seinen Auffassungen von Seelsorge, Gemeindebildung, Stellung von Klerus und Laien in der Kirche, Aufgaben der Kirche usw.
Die Aufnahme von ca. 8 Millionen Vertriebenen im Gebiet der späteren Bundesrepublik war ,,ein von außen zwingender Faktor zur Neugestaltung der Gesellschaft im Staat, aber auch der Kirche" (S. 415) geworden. Der Frage, ob im Bereich des religiösen Lebens die Tragweite dieser Aufgabe erkannt wurde, ob die Seelsorge-Konzepte entsprechend gestaltet wurden und wie deren Realisierung aussah, will Bendel im zweiten Teil seiner Untersuchung nachgehen. Dieser als ,,thematischer Teil" überschriebene Komplex soll der Analyse der vorgestellten pastoralen Konzeptionen unter bestimmten Themenschwerpunkten wie Heimat, Heimatrecht, Vergangenheitsbewältigung oder Integration und Identität, und der ,,Wirkung des mitgebrachten Erbes auf Religion und Gesellschaft" (S. 53) dienen.
Aufgezeigt werden die ideologischen Wurzeln der bewusstseinsbildenden Maßnahmen der Vertriebenenseelsorge sowie die in ihnen enthaltenen innovativen oder retardierenden Anschauungen im Kontext des Kalten Krieges und der Mitte der 1960er-Jahre einsetzenden Entspannungspolitik, wie sie in Fragen nach dem Recht auf Heimat, Versöhnungsforderungen, SPD-Ostpolitik oder dem Lastenausgleich zum Tragen kommen.
Dass die Problematik einer Neuorientierung im deutschen Katholizismus über die Kreise der Vertriebenenseelsorger hinausreichten, verdeutlicht Bendel durch Situationsanalysen einheimischer Stimmen, - von Otto B. Roegele über Eugen Kogon, bis hin zu Walter Dirks -, die sich zu den Folgen des Vertriebenenzustroms auf das religiöse Leben und die dadurch als notwendig erkannten Veränderungen äußerten.
Als wichtigste Befunde von Bendels Studie lassen sich folgende Punkte festhalten:
Das katholische Milieu in der Bundesrepublik ist nicht erst Mitte der 1950er- bzw. im Verlaufe der19 60er-Jahre aufgebrochen, sondern bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit, und es ist sowohl von Auflösungs- als auch von Stabilisierungstendenzen (S. 561) geprägt. Als ein zentrales Indiz für diese Annahme nennt der Verfasser die durch den Zustrom der Vertriebenen beschleunigte Pluralisierung religiöser Lebensstile und den Verlust der selbstverständlichen Bindekraft traditioneller religiöser Angebote aufgrund einer unzureichenden und vielfach verspäteten Vertriebenen-Integration im kirchlichen Bereich.
Die katholische Kirche vergab ,,eine ungeheure Chance" auf ,,Öffnung für eine Pluralisierung" (S. 562f.), indem die Eingliederung der Vertriebenen vor allem als ein Assimilierungsprozess und weniger als ein wechselseitiges Sich-Angleichen von einheimischen und ,,vertriebenen" religiösen Traditionen verlief. Durch den Zustrom der Vertriebenen wurden Prozesse ausgelöst, die Bendel zum Teil als unbewusste oder indirekte Modernisierung bewertet und die im religiösen Bereich zu einer stärkere Individualisierung führten.
In diesen Interpretationsrahmen fügt sich ebenfalls ein, dass Bendel die von ihm untersuchten Konzepte der Vertriebenenseelsorger in ihren pastoraltheologischen Anschauungen als wenig innovativ bewertet, da sie vor allem auf Neubeheimatung und Erhaltung der heimatlichen Identitäten sowie des religiösen und kulturellen Erbes der vertriebenen Bevölkerungsgruppen zielten. Trotzdem enthielten diese Konzepte Tendenzen, die zu einer Umgestaltung des Milieus beitragen konnten: ,,Die Intentionen brachen das Milieu auf, während die Inhalte sich weitgehend in der Applikation tradierter Modelle erschöpften" (S. 586).
Seine Ergebnisse formuliert Bendel recht vorsichtig, obgleich er innerhalb mancher Bewertungen gelegentlich zu wenig differenzierend und eher pauschalisierend urteilt. An diesen Stellen sind die Fragen dann nur noch rhetorisch, ob es angemessen ist, der kirchlichen Hierarchie ,,Angst vor der Wahrheit" zu attestieren, ,,weil sie die apologetische Position beschädigen könnte" (S. 493), oder dem innovativeren Vertriebenenseelsorger Paulus Sladek, dessen Wirken und Ansichten Bendel im allgemeinen mit Sympathie begegnet, ,,klerikerzentrierte Indoktrination" (S. 578) zu bescheinigen.
Aufgrund der Fülle des gesichteten und verarbeiteten Materials und des Bestrebens des Verfassers, möglichst viele seiner Quellen zur Sprache kommen zu lassen, trägt die Studie insgesamt einen eher deskriptiven Charakter. Statt der mitunter sehr ausführlichen Wiedergabe von Konzepten oder Anschauungen hätte dem Leser eine stärkere inhaltliche Straffung und vor allem im zweiten Teil eine breitere historische Rückkopplung der Befunde weiter geholfen. So bleibt beispielsweise offen, welche Reichweite die vorgestellten Konzepte tatsächlich besaßen. Angesichts der fast kommunistisch anmutenden Forderungen von Pater Sladek, der eine Enteignung größeren Besitzes und eine vollkommen neue soziale Ordnung forderte, fragt man sich unweigerlich, welche Resonanzen derartig radikale Positionen unter vertriebenen oder einheimischen Katholiken fanden. Und, da auch nach der gesellschaftlichen Verankerung gefragt wird: Fanden solche Vorstellungen im politischen Bereich Gehör? Diese und weitere Fragestellungen bleiben als Aufgaben für künftige Forschungen, die freilich wesentliche Erkenntnisse zu handelnden Personen, deren Herkunft, Prägung und Einstellung sowie zu den Organisationen der katholischen Vertriebenen aus Bendels umfangreicher Studie gewinnen können.
Die Dissertation von Michael Hirschfeld untersucht die Aufnahme katholischer Vertriebener im Oldenburger Land, den Erfolg ihrer Integration in die bestehenden kirchlichen Strukturen und die Auswirkungen ihres Einströmens auf das katholische Milieu in dieser Region. Einen zentralen Punkt in dieser Untersuchung bildet die Frage, ob der Beginn der Erosion dieses Milieus nicht mit dem massenhaften Zustrom der Vertriebenen zusammenhängen könnte und daher bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit anzusetzen sei.
Hirschfelds Studie ruht auf einem breiten Fundament archivalischer Quellen vor allem kirchlicher Provenienz. Über die Bestände des Bistumsarchivs Münster und Offizialatsarchiv Vechta hinausgehend wurden eine ganze Anzahl von Pfarrarchiven, die Überlieferungen der Apostolischen Visitatoren und die der Vertriebenenorganisationen ausgewertet.
Die Auswahl des Oldenburger Landes im Bistum Münster zum Untersuchungsgebiet hat den großen Vorteil, dass hier in konfessioneller Perspektive auf begrenztem Raum vor 1945 zwei verschiedene katholische Milieus nebeneinander existierten: Der Norden war geprägt durch eine Diaspora-Situation, in der sich das katholische Milieu vor allem in den wenigen größeren Städten ausbilden konnte. Im Süden hingegen hatte sich, da dieses Gebiet einen Teil des ehemaligen Niederstifts Münster bildete, ein weitgehend homogenes katholisches Milieu entwickelt.
Hirschfeld fragt, wie die katholische Kirche ,,vor Ort" - auf Bistums- und Pfarreiebene - auf die Ankunft ihrer vertriebenen Angehörigen reagierte, welche Strategien der Integration sie anwandte und nicht zuletzt nach dem Erfolg dieser Initiativen.
Für die kirchliche Hierarchie in Münster und im Offizialat Vechta standen vor allem sozial-caritative Maßnahmen, die die Eingliederung der Vertriebenen unterstützen sollten, im Vordergrund. Diese Schritte deckten sich besonders in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit den Interessen der Vertriebenen, die ohne nennenswerten materiellen Besitz in die Aufnahmegebiete Westdeutschlands gekommen waren. Die Tätigkeit der Caritas, die auf eine Angleichung der materiellen Grundpositionen von einheimischen und vertriebenen Katholiken zielte, der Ausbau des sozialen Netzes der Kranken-, Alten-, und Kinderbetreuung und auch das im Oldenburger Land ins Leben gerufene System der Patengemeinden, welches darauf beruhte, dass ,,reichere" südoldenburgische Gemeinden ,,ärmere" nordoldenburgische Diaspora-Gemeinden durch Hilfsgüter, Geldspenden oder materielle und finanzielle Hilfen beim Kirchenbau unterstützen, sind Bestandteile der Maßnahmen der kirchlichen Hierarchie, die das Bistum Münster zur Integration der vertriebenen Katholiken anwandte. Ging es hier zunächst um die Linderung der größten Not in der Nachkriegszeit, bei gleichzeitig intendierter Festigung des Milieus, so wurde die katholische Kirche tatsächlich zum ,,Halt in der Not und Ausweglosigkeit" (S. 137).
Anders war es jedoch im Blick auf die Wahrung von religiöser Kultur oder regionaler Identitäten der vertriebenen Katholiken. Als ein wesentliches Anliegen der kirchlichen Hierarchie kann Hirschfeld herausarbeiten, dass sie vor allem darauf zielte, die neu hinzukommenden Katholiken in die bestehenden pfarrlichen Strukturen einzugliedern und das Entstehen paralleler ,,vertriebener Sonderstrukturen" zu verhindern. Um die ,,Regeneration und Restauration der vor 1933 bewährten Milieustrukturen" (S. 139) ging es dem Bischof von Münster daher, wenn er im Zusammenwirken mit der kirchlichen Behörde in Vechta die Verbreitung der religiös-kulturellen Hedwigskreise, die auch der Wahrung der schlesischen Identität dienen sollten, unterband. Begründet lag diese Abwehr in dem Bestreben, eine Isolation der Vertriebenen und eine mögliche Spaltung der Gemeinden zu verhindern.
Für die vertriebenen Katholiken bedeutete also das Heimischwerden in den kirchlichen Strukturen ein Agieren im Spannungsfeld zwischen dem Willen nach einer raschen Integration einerseits und dem Wunsch nach der Bewahrung der überkommenden Identität andererseits. In den kleinstädtischen Diaspora-Pfarreien und besonders im südoldenburgischen katholischen Milieu waren die katholischen Vertriebenen einem radikalen Bruch ihrer religiösen Traditionen ausgesetzt, während es ihnen in den neugebildeten Vertriebenengemeinden der nordoldenburgischen Diaspora eher gelang, Sitten und Bräuche der Heimat zu erhalten.
Einen größeren Abschnitt in seiner Studie (S. 372-506) widmet Hirschfeld dem vertriebenen Klerus, da diesem eine Schlüsselstellung für die Entwicklung des katholischen Milieus zukommt. Neben einer allgemeinverständlichen Beschreibung der nach Kriegsende zunächst unklaren kirchenrechtlichen Situation für die vertriebenen Priester und ihrer Regelung durch den Vatikan sowie einer Schilderung der theologischen Prägung der ausschließlich aus Schlesien stammenden Priester, richtet sich der Fokus auf den Anteil dieser Priester an der Milieuformierung.
Hirschfeld kommt zu dem Ergebnis, dass weniger die Unterschiede in der Ausbildung der Kleriker (Münster bzw. Breslau) die Interaktion von vertriebenen und einheimischen Priestern erschwerten, sondern neben den ,,grundsätzlichen Mentalitätsunterschieden" vor allem in der ,,theologischen Formung" (S. 506) begründet lägen. Vor allem die Prägung der jüngeren schlesischen Priestergeneration durch Jugend- und Liturgiebewegung, die dem Selbstverständnis des münsterischen und oldenburger Klerus diametral entgegenstand (S. 390), wird von Hirschfeld als ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal aufgezeigt. Die starre Einstellung der einheimischen Priester in der Anwendung tradierter Seelsorgemuster hemmte nicht nur die Integration der vertriebenen Katholiken in die bestehenden Gemeinden im katholischen südoldenburgischen Bereich, sondern führte außerdem zu fortwährenden Spannungen zwischen vertriebenem und einheimischem Klerus.
Hirschfeld kann zudem nachweisen, dass die übergroße Mehrheit der vertriebenen Priester trotz ,,der vielen Tiefpunkte" (S. 433) in ihrem priesterlichen Wirken ihren Einsatzort nicht verließ. Als Gründe dafür führt er den starken Glauben und das Gottvertrauen an, daß diese Priester ,,ihr Schicksal so annehmen ließ, wie es die politischen Realitäten gefügt hatten" (S. 433). Hinzuzufügen wäre sicherlich noch die große Verantwortung, die ihnen für die Seelsorge an den vertriebenen Katholiken und den Erhalt der Bindungen an die katholische Kirche vor allem in der Diaspora qua Amt persönlich auferlegt war.
In der Perspektive der einheimischen Kleriker bildeten gerade die vertriebenen Priester die treibenden Kräfte bei der Herausbildung eines ,,alternativen" Milieus der Vertriebenen (S. 433). Dass diese misstrauische Sicht nicht unberechtigt ist, beweisen die Zusammenschlüsse der vertriebenen Kleriker untereinander, die regen Kontakte, die sie in Rundbriefen u.ä. zu ihren ehemaligen Gemeindegliedern unterhielten und vor allem in der Diaspora das Aufrechterhalten heimatlicher seelsorglicher Traditionen, Sitten und Bräuche. Auch beeinflusste die Sammlung der vertriebenen Katholiken deren Milieubindung positiv, weil sie vor dem Hintergrund der Moderne der Milieuerosion entgegenwirkte und einen spezifischen Vertriebenenkatholizismus entstehen ließen (S. 507).
Ähnlich wie Rainer Bendel in seiner Untersuchung kann auch Hirschfeld bei den katholischen Vertriebenen parallel laufende Verkirchlichungs- und Entkirchlichungsprozesse nachweisen, wobei er dazu tendiert, letzteren ein größeres Gewicht zuzuweisen. So bleibt als wichtigstes Ergebnis von Hirschfelds Studie festzuhalten, dass der Beginn der Erosion des katholischen Milieus in Westdeutschland nicht wie bisher in der Forschung üblich, in den Sechzigerjahren, also u.a. in der Folge des zweiten Vatikanischen Konzils zu verorten, sondern vielmehr bereits mit dem Zustrom von Millionen vertriebener Katholiken anzusetzen ist. Als eine wichtige Zäsur sieht Hirschfeld daher in diesem Zusammenhang auch das Jahr 1945 an, der er einen ,,revolutionären Charakter" (S. 530) zumisst.
In seiner Studie kann Hirschfeld unterschiedliche Formen von Integration bzw. Desintegration der katholischen Vertriebenen in der nordoldenburgischen Diaspora und dem katholischen Milieu Südoldenburgs nachweisen, die auf verschiedene Weise den Prozess der Umwandlung oder Erosion der Milieus bedingten. Zu fragen wäre daher, ob eine Projektion der Forschungsergebnisse für die beiden verschiedenen Milieus auf ein Gesamtmilieu notwenig ist, wie sie Hirschfeld in der Zusammenfassung seiner Studie vornimmt. Vor allem im Blick auf die Verhältnisse in einer extremen Diasporasituation, wie sie auch in Hirschfelds Untersuchungsgebiet zum Teil existierte, stellt sich die Frage, ob sich diese nicht so stark von den Verhältnissen im katholischen südoldenburger Gebiet unterschieden, dass sie sich nur bedingt auf ein Gesamtmilieu übertragen lassen.
Eine ganz andere Anmerkung sei zu der ausschließlichen Betrachtung und Analyse rein innerkirchlicher Prozesse bei der Integration der katholischen Vertriebenen gestattet. Aufgebrochen wird diese kirchliche Binnensicht am ehesten im Kapitel über den Kampf um die Bekenntnisschule in den 1950er-Jahren, der Kirchenleitung und Vertriebene in der Durchsetzung gemeinsamer Interessen nach außen einte. Vielleicht hätte sich eine Ausdehnung des binnenkirchlichen Blickwinkels auch an anderer Stelle angeboten, denn die Integration der vertriebenen Katholiken vollzog sich vor allem in den dörflich geprägten Gemeinschaften unter beträchtlichen Reibungen, die sich außerhalb des kirchlichen Raumes vollzogen, die die neuen Lebenswelten der vertriebenen Katholiken aber entscheidend beeinflussen konnten.
Insgesamt bietet die gut lesbare Studie Hirschfelds viele Anknüpfungspunkte, auf die weitere regionale Untersuchungen, die sich mit der Integration von katholischen Vertriebenen beschäftigen, zurückgreifen können.
Ulrike Winterstein, Bonn
Fußnote:
1 Joachim Köhler/Rainer Bendel, Bewährte Rezepte oder unkonventionelle Experimente. Zur Seelsorge an Flüchtlingen und Heimatvertriebenen. Anfragen an die und Impulse für die Katholizismusforschung, in: Joachim Köhler/Damian van Melis (Hrsg.), Siegerin in Trümmern. Die Rolle der katholischen Kirche in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, Stuttgart u.a. 1989, S. 199-228.