Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Karin Hauser, Die Anfänge der Mutterschaftsversicherung. Deutschland und Schweiz im Vergleich, Chronos Verlag, Zürich 2004, 350 S., geb., 48.00 CHF / 32.00 €.
Die Züricher rechtswissenschaftliche Dissertation beleuchtet die - der Begriff liegt so nahe - ,,Geburtsstunden" des gesetzlichen Mutterschutzes in Deutschland und in der Schweiz. Der Titel der Studie ist etwas unglücklich gewählt, denn in Deutschland wird - ganz im Gegensatz zur Schweiz - mit ,,Mutterschaftsversicherung" doch eher ein spezifischer (hauptsächlich frauenbewegter) Diskurs um die Ausgestaltung des Mutterschutzes nach der Jahrhundertwende assoziiert.
Auf einer ersten Ebene stellt Karin Hauser die rechtshistorische Entwicklung des Mutterschutzes in der Schweiz und in Deutschland chronologisch dar. In Anlehnung daran werden auf einer nächsten Ebene die verschiedenen Argumentationsmuster zum Mutterschutz dargestellt. Eine dritte Betrachtungsebene weist auf Geschlecht als soziale und historische Analysekategorie hin. Breiten Raum nimmt der sozialhygienische Diskurs der Mediziner ein.
Der Untersuchungszeitraum der Dissertation erstreckt sich von den 1860er-Jahren bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, beschränkt sich somit auf die frühe Phase des gesetzlichen Mutterschutzes. Der nach der Jahrhundertwende beginnende Aufbau einer besonderen Säuglingsfürsorge ist nicht Thema der Arbeit. Die Quellenbasis der Studie umfasst hauptsächlich zeitgenössische Veröffentlichungen, Parlamentsprotokolle und natürlich die jeweils geltende, insbesondere in Deutschland vielfach weiterentwickelte Gesetzgebung. Regierungsakten und andere ungedruckte Quellen hat Karin Hauser nur ganz vereinzelt und unsystematisch ausgewertet. Ihre Analyse beschränkt sich somit fast ausschließlich auf Quellen, die bereits zeitgenössisch bekannt waren. Was in den jeweiligen Gesetzgebungsverfahren regierungsintern diskutiert wurde, bleibt im Dunkeln. Karin Hauser geht chronologisch vor, wobei sie Deutschland und die Schweiz in zwei großen Kapiteln behandelt, die sich jeweils auch einzeln lesen lassen. Eine etwas knappe, jedoch instruktive vergleichende ,,zusammenfassende Würdigung" schließt den Band ab.
Mit einem dreiwöchigen Arbeitsverbot für Fabrikarbeiterinnen begann in Deutschland 1878 im Rahmen einer Novelle der Gewerbeordnung der gesetzliche Mutterschutz. Vergleichsweise früh hatte schon 1868 die Süddeutsche Volkspartei das ,,Verbot der Frauenarbeit in angemessener Frist vor und nach dem Wochenbett" gefordert. In der sozialdemokratischen Programmatik tauchte der Wöchnerinnenschutz erstmals 1873 in einem Entwurf für ein Arbeiterschutzgesetz des Tabakarbeiterführers Friedrich Wilhelm Fritzsche auf, der ein vierwöchiges Arbeitsverbot für Arbeiterinnen nach einer Geburt fordert. Ein Gesetzentwurf der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion für ein Arbeiterschutzgesetz von 1877 enthielt die weitgehende Forderung nach einem Mutterschutz von drei Wochen vor und sechs Wochen nach der Entbindung.
Der im Jahr 1878 vorgelegte Regierungsentwurf zur Abänderung der Gewerbeordnung enthielt keine Bestimmung zum Wöchnerinnenschutz. Zu diesem Zeitpunkt galt in der Schweiz bereits ein gesetzlicher Mutterschutz für Fabrikarbeiterinnen von insgesamt acht Wochen vor und nach der Niederkunft. Die vom Reichstag eingesetzte Kommission zur Beratung des Regierungsentwurfs nahm ein dreiwöchiges Arbeitsverbot für Fabrikarbeiterinnen in die Gesetzesvorlage auf. Innerhalb der Kommission ging dies auf den Abgeordneten der linksliberalen Fortschrittspartei Max Hirsch zurück, der damit einen Antrag wieder aufgriff, den er 1869 bereits in der Reichstagsdebatte um die Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund gestellt hatte. Der Beschluß der Kommission für einen dreiwöchigen Wöchnerinnenschutz (Max Hirsch hatte zunächst vier Wochen beantragt) passierte den Reichstag und wurde schließlich nach Zustimmung des Bundesrats Gesetz. Das Arbeitsverbot galt nur für Fabrikarbeiterinnen und war zunächst noch ohne jede Lohnfortzahlung und Kündigungsschutz. Nichtsdestotrotz bildete diese Änderung der Gewerbeordnung den Anfang zum kontinuierlichen Ausbau des Mutterschutzes bis heute.
Erst mit dem Krankenversicherungsgesetz des Jahres 1883 entstand (auch hier auf Initiative des Reichstags und nicht der Regierung) eine materielle Absicherung des Beschäftigungsverbots der Gewerbeordnung. Forderungen nach materieller Absicherung eventueller Beschäftigungsverbote waren insgesamt weit weniger laut erhoben worden. In der deutschen Debatte war es der Wiener (!) Dozent Eduard Lewy (1838-1905), der 1875 die Versammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte dazu brachte, eine Resolution mit Forderung nach zwölfwöchigem Mutterschutz und Lohnfortzahlung aus der Fabrikkrankenkasse zu beschließen.
Somit hatte Deutschland ab 1883 ein richtungsweisendes duales Gesetzesmodell mit arbeitsrechtlichem Wöchnerinnenschutz und versicherungsrechtlicher Wöchnerinnenunterstützung eingeführt. Der personale Geltungsbereich der Arbeitsverbote und der materiellen Absicherung war von Beginn an nicht identisch. Das Krankenversicherungsgesetz bezog von Anfang an auch alle ,,im Handwerk und in sonstigen stehenden Gewerbebetrieben" (§ 1) abhängig Beschäftigten ein, ging also weit über die Fabriken hinaus. Somit war am Anfang der Geltungsbereich der Wöchnerinnenunterstützung breiter als das sich nur auf Fabriken erstreckende Beschäftigungsverbot. Der weitere Gang der Dinge war bestimmt durch Ausweitung der Beschäftigungsverbote, die dann jeweils Nachjustierungen im Krankenversicherungsrecht notwendig machten. Im Jahr 1903 geriet allerdings umgekehrt das gewerbegesetzliche Arbeitsverbot vorübergehend in zeitlichen Rückstand.
Eingehend schildert Karin Hauser die heftigen Debatten über den nicht zu Stande gekommenen Ausschluss der unehelichen Mütter von der materiellen Unterstützung der Krankenkassen anlässlich einer Novelle des Krankenversicherungsgesetzes im Jahr 1892. Eine solche Bestimmung, die vor allem von der katholischen Zentrumspartei und den Konservativen gefordert wurde, hatte sich zunächst sogar in der betreffenden Regierungsvorlage befunden.
Der öffentliche Diskurs über eine besondere Mutterschaftsversicherung entstand erst, nachdem die richtungsweisenden legislatorischen Entscheidungen längst gefallen waren. Ausführlich diskutiert Hauser die verschiedenen, zum Teil recht kühnen Pläne für eine ,,Mutterschaftsversicherung", die insbesondere nach der Jahrhundertwende vorgelegt wurden. Diese Pläne beinhalteten teilweise eine Herausnahme der materiellen Absicherung aus der Krankenversicherung und Errichtung einer eigenständigen Versicherung. Teilweise wurde unter ,,Mutterschaftsversicherung" jedoch auch schlicht eine Verbesserung der bestehenden Regelungen verstanden. Mit der Reichsversicherungsordnung von 1911, die auf dem Pfad des dualen Systems weiterging, erledigten sich die Pläne für eine eigenständige Mutterschaftsversicherung. Wie in anderen Bereichen der deutschen Sozialpolitik waren auch im Mutterschutz die im Ersten Weltkrieg zunächst nur für Soldatenfrauen eingeführten Verbesserungen und organisatorischen Veränderungen richtungsweisend für die weitere Ausgestaltung.
In der Schweiz wurden die ersten mutterschutzgesetzlichen Bestimmungen bereits 1864 im früh und stark industrialisierten Bergkanton Glarus erlassen ("Frauenspersonen sollen vor und nach ihrer Niederkunft im Ganzen während sechs Wochen nicht in der Fabrik arbeiten"). Auf acht Wochen ausgeweitet, ging diese Regelung dann im Jahr 1877 in das bis 1920 gültige Schweizer Fabrikgesetz ein, das - nicht nur wegen der Mutterschutzbestimmungen - in Deutschland in weiten Kreisen als vorbildlich angesehen wurde. Doch entstand in der Schweiz - ganz im Gegensatz zu Deutschland - zunächst keine Gesetzgebung zur materiellen Absicherung des Arbeitsverbots. Das Schweizer Kranken- und Unfallversicherungsgesetz von 1912 (ein Beitritt zur einer Krankenkasse war freiwillig und nicht an eine Erwerbstätigkeit gebunden) stellte dann das Wochenbett einer Krankheit gleich und verpflichtet die Kassen zur Zahlung eines Wöchnerinnengeldes von sechs Wochen. Pränatale Leistungen bzw. Hebammendienste wurden jedoch nicht gewährt. Während eine Lohnersatzleistung für die vom Mutterschutz betroffene Arbeiterin in Deutschland schon bald eingeführt wurde, legte die Schweiz den Grundstein für das duale Mutterschutzrechtssystem erst mit jahrzehntelanger Verzögerung. Es erscheint paradox, dass die Schweiz europaweit Epoche machend mit dem Glarner Fabrikgesetz von 1864 den Mutterschutz einführte, aber erst im Jahr 2004 eine lange verzögerte umfassende gesetzliche Regelung in Form einer - wie der Schweizer Begriff lautet - ,,Mutterschaftsversicherung" realisieren konnte.
Wolfgang Ayaß, Kassel