Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Ulla Wischermann, Frauenbewegungen und Öffentlichkeiten um 1900. Netzwerke - Gegenöffentlichkeiten - Protestinszenierungen, Ulrike-Helmer Verlag, Königstein/Taunus 2003, 318 S., brosch., 25 €.
Ulla Wischermann eröffnet mit ihrem Buch eine neue Perspektive auf die Hochphase der Frauenbewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, indem sie den breiten Strom vorhandener theoretischer Ansätze aus der Bewegungsforschung mit einer mikro-soziologischen Studie der historischen Frauenbewegung in Deutschland verbindet. Drei wichtige Zeitschriften, Organe unterschiedlicher politischer Richtungen der Frauenbewegungen: ,,Die Gleichheit", ,,Die Frauenbewegung" und das ,,Centralblatt des Bundes Deutscher Frauenvereine" unterzieht sie einer detaillierten Inhaltsanalyse und zeichnet daraus ein Bild der Kommunikationsstrukturen und ,,Netzwerke, Gegenöffentlichkeiten und Protestinszenierungen" der historischen Frauenbewegung des 20. Jahrhunderts.
Die Autorin unterscheidet im Wesentlichen drei Analysedimensionen: Erstens die ,,Bewegungskultur", die sich auf die Schaffung eigener Räume, Milieus und Kulturen, auf persönliche Beziehungen der Akteurinnen sowie auf organisatorische und soziale Netzwerke bezieht. Zweitens die ,,Bewegungsöffentlichkeit", als interne und externe Mobilisierungsressource, die autonome Kommunikationsstrukturen in Form einer Organisations- und Versammlungsöffentlichkeit und einer Medienöffentlichkeit benötigt. Drittens die Gewinnung der Aufmerksamkeit der Massenmedien, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen und Öffentlichkeit herzustellen. Hier schließt sie sich der These Raschkes an: ,,Eine Bewegung, über die nicht berichtet wird, findet nicht statt". Wischermann sieht gerade in der Pluralität und Komplementarität von verschiedenen Öffentlichkeiten, in der Dynamik von Bewegungskulturen, Gegenöffentlichkeiten und der dominanten Öffentlichkeit den Schlüssel zu ihrer mobilisierenden Kraft.
Als wichtigste Themen dieser Zeit konzentriert sie sich auf ,,Sittlichkeit und Sexualreform sowie das Stimmrecht", die in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ihre größte Ausdehnung und Mobilisierung erreichten. Obwohl Wischermann selbst feststellt, dass gerade an diesen Themen sich der größte Widerstand in der Gesellschaft formierte, aber auch der kontroverse und intensive Streit innerhalb der Frauenbewegungen entbrannte, versucht sie, sich in ihren Analysen von der politischen Zuordnung als bürgerliche, radikale oder sozialistische zu befreien. Auch wenn die Distanz zu einem ´Schubladendenken` zu unterstützen ist, muss doch die Frage gestellt werden, ob der Anspruch ,,die historische Frauenbewegung als Ganze einzubeziehen", nicht gerade durch eine Berücksichtigung der Differenzierungen hätte eingelöst werden können. Auch wenn Gemeinsamkeiten und Personalunionen zwischen den Akteurinnen nicht selten waren, zeigen doch gerade die Auseinandersetzungen innerhalb der in die Untersuchung einbezogenen Publikationsorgane, dass klassenspezifische Interessengegensätze ´Sisterhood` oft unmöglich machten. Auch gesellschaftliche Lernprozesse, Öffentlichkeit und Privatheit und Gegenöffentlichkeit stellen für die unterschiedlichen politischen Richtungen Unterschiedliches dar.
Noch deutlicher wird dies, wenn man sich die vier großen Themenschwerpunkte ansieht, die die Forderung nach Gleichberechtigung, Emanzipation und wirtschaftlicher Unabhängigkeit von Frauen manifestierten: politische Mündigkeit, Verbesserung der Bildung und Zulassung zu den Universitäten, Haus- und Erwerbsarbeit sowie Körper und Sexualität. Gerade die politische Bühne, auf der die Auseinandersetzungen um Sittlichkeits- und Sexualreform und Frauenstimmrecht stattfand, war geprägt durch Widersprüche, die sich durch kirchliche Moralisierungskampagnen, Eugenikdebatten und Wahlrecht innerhalb des bestehenden ständischen und monarchistischen Systems ergaben und die den Interessen der Arbeiterinnen und dem Anliegen der Selbstbestimmung der Frauen über den eigenen Körper diametral entgegenstanden.
Freilich wird das auch aus Wischermanns Analysen immer wieder deutlich: Der Kampf um die Veränderung des Vereinsrechts zugunsten der politischen Betätigung von Frauen wurde vor allem von den Proletarierinnen aufgenommen. ,,Wahlprüfsteine" entwickelten die Organe der bürgerlichen Frauen, während die ,,Gleichheit" offen den Wahlkampf der SPD unterstützte und nicht verstehen konnte, dass bürgerliche Frauenbewegungen mit Parteien kooperierten, die nicht einmal die Forderung nach Frauenstimmrecht stützten, geschweige denn in ihre Programmatik aufnahmen. Gleichzeitig wird deutlich, dass es die Petitionen, Enqueten, Aufrufe etc. der bürgerlichen Frauen für die ,,unverheirateten Mütter", Sexualaufklärung für Jugendliche etc. waren, die die bürgerliche Frauen- und Sittlichkeitsbewegung prägten. Sobald Frauen selbst als ,,Prophetin der freien Liebe" (Helene Stöcker) auftraten oder ,,freie Liebe" gar für sich selbst in Anspruch nahmen, fielen sie bei den Frauen ihrer Herkunft in Ungnade. In diesem Zusammenhang überrascht die Feststellung nicht, dass inhaltliche Differenzen auch unter Frauen schon damals verbunden mit persönlichen Diffamierungen ausgetragen wurden. Noch weniger überraschend ist das Ergebnis der Analyse, dass sich ,,die Freizeitangebote der bürgerlichen Frauen" meist auf das ,,Zusammensein von Frauen" konzentrierten, während in der Sozialdemokratie oft Männer und Frauen gemeinsam an den Ausflügen und Tanzvergnügungen teilnahmen. Schließlich wirkten sozialdemokratische Frauenvereine nie exklusiv und ihre Mitglieder kämpften stets Schulter an Schulter mit den Genossen und niemals gegen sie.
Einige interessante Entdeckungen bieten Anlass zu weiteren Forschungen im Kontext der ´alten` Frauenbewegungen. Das sind vor allem die gegründeten Projekte wie die Berliner Frauenbank, verschiedene Frauengenossenschaften, aber auch Krippen- und Kindergarten-Betreuungsangebote und Rechtsberatungsstellen, die frauendiskriminierende Aspekte des Arbeitsrechts und des Ehe- und Familienrechts anprangerten und auch Themen wie häusliche Gewalt oder sexuelle Belästigung nicht aussparten. Lida Gustava Heymann kaufte für solche Projekte sogar ein Haus in Hamburg - ganz offensichtlich ein Vorläufer der Frauenzentren der ´neuen` Frauenbewegungen. Solche Zentren oder Frauenhäuser dürfte es auch an anderen Orten gegeben haben. Sie sind noch wenig erforscht. Aufschlussreich wäre vor allem eine Analyse darüber, warum Projekte aufblühten und auch wieder scheiterten und welche Rolle die Vordenkerinnen und Führerinnen dabei spielten.
Das war nicht die Aufgabe der Forschungsarbeit von Ulla Wischermann. Ihr Verdienst besteht darin, 20 Jahre Frauenbewegungen von ihrer Entstehung bis zur Entwicklung zu einer breiten sozialen Bewegung aufzuzeigen. Das Verhältnis von Frauenbewegung und Öffentlichkeit stellt sie als einen vielschichtigen Prozess dar, der durch interne und externe Faktoren beeinflusst und innerhalb eines komplexen Kommunikations- und Handlungssystems vermittelt wurde. Er wurde bewusst gesteuert und spielte sich auf einer Achse von Privat und Öffentlich ab. ,,Erst durch die enge Verflechtung personaler und medialer Kommunikation, formeller und informeller, privater und politischer Bezüge konnte die sogenannte Frauenfrage publik und die Frauenbewegung ein nicht unwesentlicher Faktor für gesellschaftliche Veränderungen der Vorkriegszeit werden", so Wischermanns Fazit im Schlusskapitel.
Ein gut lesbares und theoretisch fundiertes Buch, vor allem für diejenigen, die nach den Wurzeln, die schließlich auch die ´neue` Frauenbewegung beeinflusst haben, suchen.
Gisela Notz, Bonn