ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Christoph Rass, ,,Menschenmaterial". Deutsche Soldaten an der Ostfront, Innenansichten einer Infanteriedivision 1939-1945 (Krieg in der Geschichte, Bd. 17), Schöningh, Paderborn 2003, 486 S., geb., 39,90 €.

Zu den weiterhin umstrittenen Fragen der Militärgeschichte gehört die nach der Beteiligung deutscher Soldaten an Kriegsverbrechen während des Zweiten Weltkrieges. Im Kontext der beiden Ausstellungen über die ,,Verbrechen der Wehrmacht" wurde anhaltend und intensiv darüber gestritten, ob die unter militärischer Verantwortung verübten Massenmorde nur Ausnahmen und Einzelfälle darstellten, oder aber ob verbrecherisches Handeln zum Kriegsalltag der meisten deutschen Soldaten gehörte. Konsens ist inzwischen in der seriösen Forschung, dass es sich keineswegs nur um Einzel- oder Exzesstäter gehandelt hat, gleichwohl haben Versuche, den genauen Anteil der an Verbrechen beteiligten Soldaten zu quantifizieren, gezeigt, dass die historische Forschung von präzisen Aussagen noch weit entfernt ist. In diesem Diskussionszusammenhang steht die Dissertation von Christoph Rass. Mit seiner quellengesättigten Sozialgeschichte der 253. Infanteriedivision betritt er - man mag es kaum glauben - sowohl empirisch als auch methodisch Neuland. Divisionsgeschichten gehören erstaunlicherweise nicht zum Standardrepertoire der Militärgeschichte und die Frage nach der Verbrechensbeteiligung der Wehrmachtssoldaten ist auf dieser Ebene noch nicht gestellt worden. So konkret wollte man es anscheinend bisher nicht wissen.

Rass unternimmt den Versuch, sowohl ereignis- als auch erfahrungsgeschichtlich orientierten Studien einen strukturierend quantifizierenden Blick ,,von der Seite" (S. 22) hinzuzufügen. Seine Kollektivbiografie ist daher keine exemplarisch-qualitative Analyse ausgewählter Wehrmachtskarrieren, er untersucht vielmehr den Großverband als Ganzen und fragt nach den Zusammenhängen von strukturellen und situativen Faktoren, um so zu einem multikausalen Erklärungsmodell für das Verhalten von Mannschaftssoldaten und Unteroffizieren zu gelangen. ,,Wer waren die Soldaten der Wehrmacht? Wie wurden sie in das institutionelle Herrschaftssystem eingebunden? Was waren die institutionellen und individuellen Handlungsebenen des Krieges, den sie führten?" (S. 18) Diese leitenden Fragestellungen strukturieren dann auch den Hauptteil der Untersuchung. Nach Einleitung und Organisationsgeschichte der 253. Infanteriedivision stehen zunächst die Soldaten im Mittelpunkt. Die insgesamt etwa 27.000 Divisionsangehörigen bildeten einen bemerkenswert homogenen Großverband. Die Mehrheit gehörte den Geburtsjahrgängen zwischen 1910 und 1920 an und stammte aus den rheinisch-westfälischen Industriegebieten. Viele kamen aus dem Arbeitermilieu der industriellen Zentren. Auch hinsichtlich der Zugehörigkeitsdauer war diese Division außergewöhnlich stabil. Die Soldaten kämpften während ihres Kriegseinsatzes oft ausschließlich in diesem Verband, die personelle Fluktuation war eher gering beziehungsweise vollzog sich langsam, obgleich es sich hier um eine Frontdivision mit insgesamt fast vier Jahren Kampfeinsatz handelte. Stabile Primärgruppen mit hohem Identifikations- und Bindungsgrad bis zum Kriegsende - so lässt sich das Ergebnis der umfangreichen statistischen Sozialdatenanalyse zusammenfassen. Damit argumentiert Rass gegen die in der Forschung oft vertretene These, die Zerstörung der Primärgruppen sei für die zunehmende Brutalisierung der Soldaten verantwortlich zu machen (S. 406). Hier differenziert der Autor überzeugend nach Kriegsphasen und Truppenteilen und setzt damit für zukünftige sozialgeschichtliche Untersuchungen hohe Maßstäbe.

Der zweite Hauptteil ist dem militärischen System gewidmet. Rass fragt nach der institutionellen Einbindung der Soldaten, um durch diese strukturelle Perspektive handlungsrelevante Faktoren auszuloten. Dabei geht es zum einen um den Einfluss des Führungspersonals, zum anderen aber auch um positive und negative Sanktionsformen, beispielsweise Beförderungen, Auszeichnungen oder das gute Versorgungssystem für Wehrmachtssoldaten mit Familien. Militärstrafrechtliche und disziplinarische Maßnahmen trugen ebenso dazu bei, konformes Verhalten zu fördern und positiv zu verstärken. Hinzu kam seit Frühjahr 1941 auch der so genannte Kriegsgerichtsbarkeitserlass, der durch die Ausschaltung der Kriegsgerichte die Zivilbevölkerung der willkürlichen Verfolgung durch deutsche Besatzungstruppen auslieferte. Wehrmachtssoldaten hatten zudem bei strafbaren Handlungen gegenüber Zivilisten nicht viel zu befürchten, wenn ihr Verhalten als erwünscht galt. Über reine Existenzsicherung hinausgehende Versorgungsleistungen sorgten also ebenso wie dosierte Ideologisierung und ein ausdifferenziertes Sanktionssystem für strukturelle Handlungsbedingungen, die nicht nur zu gewünschtem Verhalten führten, sondern auch Erklärungsrelevanz für die bis Kriegsende andauernde Einsatzbereitschaft der meisten Soldaten besitzen.

Als dritten Bereich nimmt Rass die Kriegführung der deutschen Wehrmacht in den Blick. Er unterscheidet dafür vier Handlungsfelder: das Verhalten der Soldaten gegenüber Zivilisten und Kriegsgefangenen, Maßnahmen zu Errichtung und Sicherung der Besatzungsherrschaft, die wirtschaftliche Ausbeutung der besetzten Gebiete sowie die Politik der ,,Verbrannten Erde" während des Rückzuges. Für alle vier Bereiche kann der Autor am Beispiel der 253. Infanteriedivision überzeugend zeigen, dass die verbrecherischen Befehle umgesetzt wurden und sich eine enorme Gewaltbereitschaft und Brutalisierung auch jenseits der eigentlichen Kampfhandlungen entwickelte. Nicht nur der Terror gegenüber der Zivilbevölkerung wegen angeblicher ,,Partisanen- und Bandengefahr", auch der rechtswidrige Einsatz von zivilen Arbeitskräften sowie die wirtschaftliche Ausplünderung der Gebiete gehörten nach Rass zum soldatischen Alltag. Insbesondere die Rekrutierung von Zivilisten erfuhr ab 1944 eine erneute Radikalisierung, indem nicht nur die Arbeitsfähigen skrupellos verschleppt, sondern auch die nicht-arbeitsfähigen Familienangehörigen vertrieben oder aber ohne ausreichende Versorgung ihrem Schicksal überlassen wurden. Es gehört zu den herausragenden Verdiensten der Studie diesen in der Forschung bisher oft ausgeblendeten Verbrechenskomplex der Wehrmacht aufzuarbeiten. Das von Rass detailliert rekonstruierte Beispiel der drei zwischen den Fronten liegenden Lager für ,,nutzlose" Zivilisten nahe der Ortschaft Osaritschi verdeutlicht eindrücklich, ,,wie tief völkerrechtswidrige Kriegshandlungen durch die Feldeinheiten der Wehrmacht in das Handlungsrepertoire der deutschen Kriegführung integriert waren" (S. 386).

Die Ergebnisse der Studie sind bedrückend: Das ,,deutliche Muster einer parallel verlaufenden Radikalisierung der Kriegführung und der Brutalisierung der Soldaten ist nicht auf den Zusammenbruch institutioneller Mechanismen zurückzuführen, sondern auf deren Weiterentwicklung im Vernichtungskrieg und ihre Anpassung an einen für das `Dritte Reich` existenzbedrohenden Kriegsverlauf" (S. 409). Der Vernichtungskrieg gehörte für die meisten Angehörigen der 253. Infanteriedivision keineswegs zu den passiven Erfahrungen, sondern ,,auch zur aktiven Erfahrung des Täters im Sinne eines Handlungsträgers" (S. 410). Die Unterscheidung zwischen einer konventionellen Kriegführung an der Front und einem terroristischen Besatzungsalltag im Hinterland kann nicht aufrechterhalten werden. ,,Vielmehr trafen in der Lebenswelt dieser Soldaten, selbst im engen Rahmen einer Infanteriedivision an der äußersten Grenze des deutschen Machtbereichs, nahezu alle Elemente nationalsozialistischer Kriegsführung und Vernichtungspolitik zusammen." (S. 410) Verbrecherisches Handeln gehörte zum alltäglichen Handlungsrepertoire der Divisionsangehörigen, auch wenn sich dies nicht für jeden einzelnen Soldaten wird nachweisen lassen. Rass bleibt hier konsequenterweise bei seiner Untersuchungsperspektive, die eben nicht nach individuellen Beteiligungen an Kriegsverbrechen fragt, sondern im Kern strukturell argumentiert. Es wäre für die weitere Forschung angezeigt, Studien wie die von Rass mit qualitativen Untersuchungen zur soldatischen Beteiligung an Kriegsverbrechen zusammenzuführen, um zu differenzierten und der Komplexität menschlichen Handelns angemessenen Erklärungsmodellen zu kommen. Eines lässt sich aber wohl heute schon absehen: In Prozenten wird sich die Verbrechensbeteiligung von Soldaten wohl nicht quantifizieren lassen. Alle Versuche dieser Art konnten bisher nicht überzeugen, und es bestehen berechtigte Zweifel, ob die Forschung hier überhaupt jemals seriöse Aussagen wird treffen können. Bücher wie die von Christoph Rass machen aber deutlich, dass man auch jenseits von Prozenten zu überzeugenden Ergebnissen kommen kann.

Ulrike Jureit, Hamburg


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