ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Franz-Josef Brüggemeier, Zurück auf dem Platz. Deutschland und die Fußball-Weltmeisterschaft 1954, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2004, 384 S., 25 Abbildungen, geb., 24,90 €.

In Amerika haben ,,Zunfthistoriker" keinerlei Probleme mit Themen aus dem Bereich des Sports. Sozialhistoriker wie auch Kulturhistoriker haben seit langem die sozio-kulturelle Bedeutung des Sports erkannt und anerkannt und halten entsprechende Themen für ebenso legitim und aufschlussreich wie etwa die Geschichte der politischen Parteien oder der Irrenanstalten. In England und Frankreich hat die Sozialgeschichte ebenfalls mitgezogen, was zum Erscheinen von interessanten Werke geführt hat, die sich mit dem Sport auseinander setzen. Auf das bestehende Defizit im deutschsprachigen Forschungsbereich hat nun - wohl zurecht - der Freiburger Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Franz-Josef Brüggemeier in seiner Arbeit ,,Zurück auf dem Platz. Deutschland und die Weltmeisterschaft 1954" hingewiesen, wird die Sportgeschichte hierzulande doch zumeist Historikern außerhalb der ,,Zunft" oder Journalisten überlassen. Im Zusammenhang mit der Fußballweltmeisterschaft von 1954, die im Mittelpunkt der vorgelegten Untersuchung steht, fehlt es Brüggemeier zum einen an Werken, die Vertreter der ,,Zunft" (wörtlich: ,,etablierte Geschichtswissenschaft") verfasst haben; ,,vorherrschend waren Gedenk- und Erinnerungsbücher, die [...] über den engen Bereich der Sports [sic!] jedoch kaum hinausgehen." Zum anderen bemängelt der Verfasser, ,,wer die großen Darstellungen zur Geschichte der Bundesrepublik zur Hand nimmt [...] kann den Eindruck erhalten, die Weltmeisterschaft und die mit ihr verbundene Begeisterung hätten gar nicht stattgefunden" (S. 13 f.). Brüggemeiers Buch ist daher der Versuch eines Sozialhistorikers, ein sozialhistorisches Produkt zum Thema ,,Sport" anzubieten, und zwar auf der Basis einer umfangreichen Bibliographie zur deutschen Sozialgeschichte der Nachkriegszeit, so dass am Ende auch Gesamtdarstellungen der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland das Thema angemessen integrieren können. Das Buch versucht aufzuzeigen, ,,wie eng sportliche Ereignisse mit politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aspekten zusammenhingen" (S.15). Brüggemeier bettet also die Geschichte der Weltmeisterschaft in den Kontext der Geschichte der Bundesrepublik ein, um somit den vom Verfasser postulierten breiteren Rahmen weit hinaus über den ,,engen Bereich des Sports" zu erreichen.

Tatsächlich gelingt es Brüggemeier, ein Mosaik zu präsentieren, in dem der Sport und insbesondere die Weltmeisterschaft einen zentralen Platz einnehmen. Er beschreibt den Hintergrund und den Rahmen - Flüchtlinge, Wiederbewaffnung, Wirtschaftsaufschwung, Beziehung zur DDR etc. (So ist ihm allerdings ein Lapsus unterlaufen, wenn der Titel auf Seite 155 ,,17. Juni 1953 Deutschland-Türkei" statt 1954 lautet). Ganz wichtig: ,,Bei jedem Schritt waren hierbei die Folgen der Niederlage, der kalte Krieg und nicht zuletzt die Zeit des Nationalsozialismus zu bemerken" (S. 22). Und besonders aufschlußreich ist der letzte Themenbereich, in dem am Beispiel des Fußballs veranschaulicht wird, dass es keine ,,Stunde Null" gab: Die Karrieren von Bauwens (Kap. 3), Sepp Herberger oder Fritz Walter weisen auf Kontinuitäten vor und nach 1945 hin und sind dazu auch ein Beitrag zum Thema der Nutzniesser, Mitläufer und des Widerstandes im Nationalsozialismus.

Doch dadurch ergeben sich zwei Probleme. Einerseits liegt die Relevanz anderer Bausteine des Mosaiks nicht immer auf der Hand (z. B. die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 27. Juni 1954, S. 197). Nicht alles, was sich gleichzeitig abspielte, ist in einem sozialhistorischen Zusammenhang auch relevant. Andererseits - und das ist nach aller Mühe, die Brüggemeier sich gab, um den Sport als sozialgeschichtliches Element aufzuwerten, ein zentrales Problem - scheint seine uneingeschränkte Kritik gegen das verbreitete Klischee bzw. den Mythos von der Weltmeisterschaft 1954 als ,,Wiedergutmachung für den verlorenen Krieg", als Beitrag ,,zu einer neuen nationalen Identität oder zur emotionalen Gründung der Bundesrepublik" (S. 292, 328), den Sport als solchen doch wieder zu marginalisieren.

Brüggemeier ist bemüht zu zeigen, dass die Reaktion im Jahr 1954 auf den Gewinn des Titels nur eine ,,punktuelle" war, ja, ,,für einen Moment" - diese Wendung wiederholt sich mehrmals - habe es eine große Spannung, eine große Begeisterung gegeben, sei es zur ,,virtuellen Gemeinschaft" gekommen; aber dies als Angelpunkt der Wiederentstehung des nationalen Gefühls zu werten, sei, so Brüggemeier, überzogen. Die Tatsache, dass ,,der Titelgewinn in den kommenden Jahren fast in Vergessenheit geriet", ist für ihn hierfür der adäquate Beweis. Wollte der Deutsche im Jahr 1954 stolz sein, so habe es nach Brüggemeier wichtigere Sachen gegeben, die ihn befriedigen konnten, wie etwa das Wirtschaftswunder, die Rekorde im Export, die Leistungen der Technik (S. 340). Aber seit wann, so muss man sich fragen, sind Fakten und Statistiken einflussreicher als mit Emotionen beladene Ereignisse? Wäre hier nicht der Vergleich mit der Wirkung der Olympischen Spiele von 1936 in Berlin nützlich?

Da Brüggemeiers Hauptquelle die Zeitungen waren, konnte er zwar aus der Nähe die Stimmung in der Öffentlichkeit des Jahres 1954 verfolgen, doch um den Grad, mit dem Ereignisse in Vergessenheit geraten, um ihre langfristige Bedeutung für die Zukunft zu ermessen, ist m.E. die Presse, die eigentlich nur die Perspektive des Erscheinungsdatums widerspiegelt, nicht geeignet. Hier unterscheidet sich der Sozialhistoriker vom Kulturhistoriker. Letzterer interessiert sich für die kollektive Erinnerung jenseits des spezifischen Moments, wie auch für Symbole und Ikonen. Auch wenn Brüggemeier Recht hat, und ,,in Bern kein hochrangiger Politiker anzutreffen war" (S. 279) und das Ereignis in den Augen der Bevölkerung von 1954 nicht die entsprechende Bedeutung erhielt, wovon das Klischee eben ausgeht, so hat die spätere Erinnerungsarbeit sehr wohl dafür gesorgt, dass eben dies letztlich doch geschah. Man musste nicht bis zur Ausstrahlung des Films ,,Das Wunder von Bern" im Jahr 2004 warten, um zu erfahren, wie der Weltmeistertitel in der Zwischenzeit rezipiert und verinnerlicht worden war. Die letzte Szene in Fassbinders Film ,,Die Ehe der Maria Braun" hat uns bereits gezeigt, wie sich das Ereignis im Laufe von etwa 20 Jahren in die kollektive Erinnerung einprägen konnte. Vielleicht wurde das Absingen der ersten Strophe des Deutschlandliedes im Berner Stadium überbewertet, vielleicht war der Bezug in der Presse zu den alten deutschen Tugenden eher marginal und Fritz Walter tatsächlich ein Ballzauberer, der nicht das Klischee von Kampf, Härte und Disziplin bediente, so wie Brüggemeier es darstellt. Später aber hat sich das von Brüggemeier bitter bekämpfte Klischee durchgesetzt, und das ist wichtiger als die Antwort auf die Frage, ,,wie es eigentlich im Jahr 1954" gewesen ist. Das scheint Brüggemeier letztlich selbst akzeptiert zu haben, sonst hätte er sich mit den Themen Nationalhymne, Fahne und Nationalcharakter nicht so intensiv befasst (Kap. 5, 19). Auch sollten wir nicht vergessen, dass die ,,fußballerische Fortsetzung" des zweiten Weltkrieges zwischen Deutschland und England oder Deutschland und Holland bis 1966 bzw. 1974 kein Thema war. Erst dank der Medien und der Zeit konnte im Nachhineien die Brücke zur Vergangenheit geschlagen werden und der Eindruck entstehen, als wäre das Fußballfeld die direkte Fortsetzung des Krieges nach 1945. Überhaupt wäre hier ein internationaler Vergleich hilfreich gewesen. Ein Beispiel: Als die israelische Basketballmannschaft Makkabi Tel Aviv im Jahr 1977 den Europapokal gewann, sprach der Mannschaftskapitän Tal Brody den Satz: ,,Wir sind auf der Landkarte und bleiben auf der Landkarte." Dieser Satz konnte sich verselbständigen und zur Ikone der israelischen Identität werden, auch wenn das Ereignis selbst nicht mehr in der konkreten Erinnerung der meisten Israelis auftaucht.

Doch sollen die hier gestellten Fragen und kritischen Anmerkungen nicht den Wert des vorgelegten Buches mindern oder darüber hinwegtäuschen, dass wir es bei Brüggemeiers Arbeit wirklich mit einem gelungenen Versuch zu tun haben, auf einem unterbewerteten Forschungsgebiet ein wegweisendes Beispiel zu setzten.

Moshe Zimmermann, Jerusalem


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