ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Dietmar Hüser, RAPublikanische Synthese. Eine französische Zeitgeschichte populärer Musik und politischer Kultur, Böhlau Verlag, Köln u.a. 2004, 498 S. geb., 49,90 €.

Eine ebenso originelle wie erkenntnisreiche Studie zur politischen Kultur Frankreichs legt Dietmar Hüser vor. Das auf seiner 2001 eingereichten Saarbrücker Habilitationsshrift beruhende Buch bietet weit mehr als eine Einführung in französische Rap-Musik; vielmehr geht es darum, ,,Erklärungspotentiale kommerzieller Rap-Spielarten für politischen und gesellschaftlichen Wandel in Frankreich auszuloten" (S. 10). Rap interessiert in diesem Zusammenhang als eine von Jugendlichen mit Migrationshintergrund geprägte ,,alltagspraktische Artikulation politisierter Soziokultur" der Straße (S. 41).

Rap ist ein populärer Musikstil, der skandierten und gereimten Sprechgesang mit rhythmischer, meist elektronischer Musik verbindet; er bildet das musikalische Standbein der Hip-Hop-Kultur. Entstanden im New York der späten Siebzigerjahre aus der Tradition schwarzer Protestmusik, fand er in der Folgezeit auch jenseits des Atlantiks Verbreitung, besonders in Frankreich, das inzwischen den zweitgrößten Markt für Rap-Musik nach den USA darstellt und in dem Rap alle anderen Musikrichtungen in der Gunst jugendlicher Hörer überflügelt hat. Indes sind Rap in den USA und Rap in Frankreich nicht dasselbe, da sich insbesondere die französische Rap-Szene durch einen hohen Anteil sozialkritischer Texte und einen vergleichsweise hohen Politisierungsgrad auszeichnet. Hier setzt die Untersuchung an.

Das wissenschaftliche Interesse an Rap hat in den letzten Jahren zugenommen, gleichwohl leistet Hüser thematisch wie perspektivisch Pionierarbeit. Denn zum einen sind im Vergleich mit den USA Publikationen zu Rap in Frankreich noch dünn gesät, zumal in deutscher Sprache. Zum anderen betrachten bisherige Arbeiten ihren Gegenstand ganz überwiegend aus (kultur- bzw. jugend-) soziologischer oder einer ahistorischen ,,Cultural Studies"-Perspektive. Hüser hingegen legt nicht nur die erste deutschsprachige wissenschaftliche Monografie zu französischem Rap vor, sondern verfolgt dabei einen - interdisziplinär breit eingebetteten - geschichtswissenschaftlichen Ansatz, welcher die Besonderheit des Buches ausmacht.

Die Untersuchung will interkulturelle deutsch-französische Übersetzungsarbeit leisten, massenmedial verzerrte Bilder von Hip-Hop, Banlieue und Immigration zurechtrücken und mit Rap in Verbindung stehenden soziokulturellen Phänomenen und politischen Kontroversen der Achtziger- und Neunzigerjahre eine historische Perspektive eröffnen. In konzeptueller Hinsicht soll sie ein zugleich erweitertes und konkretisiertes Verständnis von politischer Kultur befördern, das die kulturelle Komponente wie auch geschichtliche Bedingtheiten stärker berücksichtigt. Mit der Erörterung der ,,Rolle alltagsprägender massenkulturell-populärmusikalischer Vektoren und Praktiken für die Integration von Minderheiten im Zeitverlauf" (S. 9) soll sie schließlich einen Beitrag zur Debatte um die kulturelle Nationsbildung leisten.

Der Quellenkorpus beeindruckt sowohl durch Umfang als auch durch Vielgestaltigkeit. Analysiert wurden gut einhundertdreißig Rap-Alben, die einschlägige musikalische Fachpresse und spezielle Rap-Zeitschriften, außerdem eine Vielzahl im Internet zugänglicher Newsletters und Webzines, die als Ausdruck ,,alternativ-subkulturell konnotierter Musikmilieus" (S. 14) einen Zugriff auf Selbstverständnis und Selbstdarstellung der Szene erlauben. Teils systematisch, teils punktuell ausgewertet wurde überdies die politische Wochen- und Tagespresse der Achtziger- und Neunzigerjahre sowie Dokumentationen und Diskussionssendungen der drei meistgesehenen Fernsehkanäle TF1, France 2, France 3 und von Arte hinsichtlich der Darstellungsweisen von Rap, Hip-Hop, Banlieue, Gewalt, Jugend, Immigration und Integration, Rassismus und Rechtsextremismus.

Die Darstellung ist strikt sachsystematisch in vier Teile zu je drei Kapiteln gegliedert. Teil I diskutiert Produktions-, Diffusions- und Rezeptionsmechanismen von Rap im Spannungsfeld zwischen Zentrum und Peripherie: Entstehung des Rap in den USA und ,,kreative Aneignung" in Frankreich, Nachfrageseite, Konflikt zwischen musikindustriell-medialer Vereinnahmung und ,,Authentizität". In der Frage des Verhältnisses von Uniformität und Partikularismen im Zuge der Globalisierung nimmt Hüser eine mittlere Position ein: Weder als ,,kulturindustriellen Einheitsbrei" noch als ,,farbenfroh-herrschaftsfreien Tanz der Kulturen" (S. 17) will er die Situation verstanden wissen. Entsprechend verortet er Rap an der Schnittstelle von afroamerikanischem Import, französischen Traditionen (Protestfolklore, engagiertes Chanson) und spezifischem Kontext (ökonomische Dauerkrise und ihre sozialen Folgen in der Banlieue).

Teil II behandelt kulturelle, musikalische und verbale Artikulationen der Hip-Hop-Bewegung. Diese ist nach Hüser keine ,,gegenweltliche Subkultur" im Sinne einer strikten Opposition zur hegemonialen Kultur. Die Rapper verstehen sich als Wortführer einer pluri-ethnischen integrationsorientierten Wertegemeinschaft und ,,provokante Exponenten einer Brückenkultur auf dem Weg zu neuen Ufern" (S. 143). Hüser sieht in ihnen, ähnlich den Provinzdeputierten im 19. Jahrhundert, ,,Doppelmenschen", die zum einen als Mittler und Lehrmeister an der Peripherie fungieren, zum anderen als Botschafter der Peripherie im Zentrum. Interessanterweise sind ihre Lösungsstrategien und Aufstiegsvisionen individuell und meist konventionell-kleinbürgerlich, verraten bei aller Kritik im Konkreten eine tiefe Verbundenheit mit den Idealen der republikanischen Schule und lassen sich durchaus in Einklang bringen mit republikanischen Vorstellungen vom sozialen Aufstieg durch Bildung und Arbeit. Die Analyse der Rap-Texte lässt, neben Kritik an Parteien und Eliten, Appellen an die individuelle Aktionsbereitschaft der Betroffenen an der Peripherie und Fundamentalopposition gegenüber der rechts-extremen Front National, zahlreiche verinnerlichte Einstellungsmuster der politischen Kultur Frankreichs erkennen, etwa ein ständiges Anrufen des Staates.

Teil III diskutiert die Aussagekraft von Rap-Botschaften für Fragen republikanischer Werte und nationaler Einheit. Rap-Diskurse werden in Bezug gesetzt zum republikanischen Modell und dessen Renaissance in den politischen Debatten der 1980- und 1990er-Jahre. Die anschließende Untersuchung von Immigrationsdiskursen und Integrationslogiken betrachtet Integration als wechselseitigen Aushandlungsprozess und betont das kulturelle Integriertsein wie das gesellschaftliche Integriertseinwollen der Einwandererkinder. Aus Rap-Diskursen spricht, so Hüser, der Wunsch der Akteure nach einer neuen ,,Rapubliksynthese" (S. 286), der Ausdruck eines profunden Französischseins ist. Entsprechend stellen nicht Ethnisierung und Ansprüche kultureller Differenz, sondern die Krisen sozialer Integration, Kohäsion und Promotion die zentrale Herausforderung des republikanischen Modells seit Beginn der 1980er-Jahre dar. Eine abschließende Betrachtung des Verhältnisses von Banlieu-Mythen und -Realitäten seit dem Zweiten Kaiserreich dient dazu, aktuelle Dramatisierungen zu relativieren.

Der vierte und letzte Teil fragt nach Erkenntnissen, die Rap-Diskurse im Hinblick auf staatlichen und gesellschaftlichen Umgang mit dem Algerienkrieg, staatsbürgerliches Engagement und politische Partizipation außerhalb von Parteien und Gewerkschaften sowie Modelle und Praktiken republikanischer Integration und kultureller Nationsbildung im 19. Jahrhundert liefern. Rapper mit Migrationshintergrund halten der französischen Gesellschaft den Spiegel vor, indem sie die Verbindung von der ,,unverdauten Algerienerfahrung" zum ,,anti-arabischen Rassismus" herstellen. Dass Politisierung sich keineswegs nur nach Parteibindung bemisst und unter der Oberfläche der parteipolitischen Wandlungsprozesse vergangener Jahrzehnte viele politisch-kulturelle Muster stabil geblieben sind, betont Hüsers Erörterung der ,,Politische(n) Streitkultur" (Kapitel 11) - ein kluges Kapitel, bei dem jedoch die Ausrichtung auf den roten Faden des Buches am wenigsten gelingt. Schließlich werden modernisierungstheoretische Interpretationen der französischen Nationsbildung im 19. Jahrhundert mit neueren Ansätzen konfrontiert, die die Bedeutung kultureller Praktiken sowie Grauzonen und Überlagerungen herausstellen. Hier entdeckt Hüser ,,instruktive Parallelen zu Integrationsverläufen ethnischer Minderheiten" in jüngerer Vergangenheit, wie sie sich, ,,ohne damit künstliche Kontinuitäten konstruieren zu wollen", auch aus Rap-Texten herauslesen lassen (S. 29).

Methodisch kennzeichnet die Arbeit vor allem zweierlei: Interdisziplinarität und Vergleich. So macht Hüser ausgiebig Anleihen bei Soziologie, Kultur- und Medienwissenschaft, ohne dabei freilich Grundprinzipien geschichtswissenschaftlichen Arbeitens preiszugeben. Für die Studie konstituierend ist ferner der diachrone innerfranzösische Vergleich, insbesondere zwischen ausgehendem 19. und ausgehendem 20. Jahrhundert. Hinzu kommt für die 1980- und 1990er-Jahre eine synchrone Vergleichsperspektive, hinsichtlich derer der US-Rap die wichtigste Referenz bildet. Schließlich fragt Hüser nach Formen und Mechanismen von Kulturtransfer und Verflechtungen im Bereich der Populärmusik - zwischen Frankreich und USA, aber auch zwischen Frankreich und seinen ehemaligen Kolonien. Dies alles macht das Buch zu einem Musterbeispiel für eine Monografie, die national-kulturellen Entwicklungszusammenhängen ausgiebig Rechung trägt, zugleich dem vergleichenden Blick gebührend Platz einräumt und überdies nach transnationalen Transferprozessen und Verflechtungen fragt.

Im Ergebnis wird Hüser all seinen Ansprüchen gerecht: Das Buch vermag nicht nur manches kursierende Genre-Klischee zu korrigieren, es unterstreicht auch das Potential eines stärker historisch und stärker kulturell ausgerichteten Verständnisses von politischer Kultur. Der diachrone Vergleich setzt die Debatten im Umfeld von Rap - über Vorstadtkrise, Politikverdrossenheit, Ethnizität und Integration, Republikaneignung und Nation - in Bezug zur Entwicklung Frankreichs seit 1789, zeigt Analogien und historische Bedingtheiten auf. Kein ,,toujours ainsi", keinesfalls aber ein ,,jamais vu", lautet das ausgewogene Fazit, das wie das daraus folgende Plädoyer ,,gegen fatalistische wie katastrophistische Grundhaltungen" (S. 415) aktueller Debatten überzeugen kann. In Analogie zur Integration regionaler und nationaler Minderheiten im Frankreich des 19. Jahrhundert sieht Hüser Rap als ,,Medium einer kulturellen Nationsbildung, die sich nicht als etwas ein für allemal Abgeschlossenes versteht, sondern als etwas ein ums andere Mal Auszuhandelndes" (S. 415). Ein zentraler Befund ist schließlich die ,,Normalität des Nationalen" (S. 278) im französischen Rap. Inwieweit es sich dabei wirklich um eine exception française handelt, müssten indes weitere Untersuchungen - Studien zu anderen Ländern und vergleichende Arbeiten - erweisen.

Es bleibt festzuhalten: Hüser stellt eindrucksvoll unter Beweis, dass innovative Themen- und Fragestellungen, Aktualitätsbezug, interdisziplinäre Perspektive, fundierte geschichtswissenschaftliche Analyse und gute Darstellung einander nicht ausschließen, sondern ein ebenso wissenschaftlich ertragreiches wie spannend zu lesendes Buch ergeben können.

Fabian Lemmes, Florenz


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