ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Alexander Gallus/Eckhard Jesse (Hrsg.), Staatsformen. Modelle politischer Ordnung von der Antike bis zur Gegenwart, Böhlau, Köln etc. 2004, 415 S., geb., 39,90 €.

Das Projekt der beiden Chemnitzer Politikwissenschaftler Alexander Gallus und Eckhard Jesse, ,,einen handbuchartigen Überblick zur Rolle von Staatsformen und Staatsideen [zu] geben" (S. 18), ist als Pionierleistung einer vergleichenden Geschichte der Staatsformen und politischen Systeme aus vielerlei Gründen und Perspektiven angreifbar. Ist der Begriff 'Staat' eine taugliche Komparationssonde für die politische Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart? Verschwinden die historischen Einzelfälle und Sonderwege hinter abstrakten Idealtypen? Übersieht die ideengeschichtliche Analyse von 'Staatsideen' die sozial- und mentalitätsgeschichtliche Grundlage gesellschaftlicher Verfassung? Der außerordentliche Erkenntnisgewinn des Handbuchs liegt trotz, oder vielmehr gerade wegen der methodisch diskussionsbedürftigen Kardinalfrage der Vergleichbarkeit von Staatlichkeitskonzepten in dem Ansatz einer integrierenden historischen Analyse unter Berücksichtigung politikwissenschaftlich-strukturorientierter Methodik. Die Beiträge führen auf konzeptionell überzeugende, ja exemplarische Weise vor, wie leistungsfähig eine historische Politikwissenschaft bzw. strukturbezogene Verfassungsgeschichte sein kann.

Angesichts gegenwärtiger Diskurse um die Krise - wenn nicht sogar das Ende - traditioneller Staatlichkeit zumindest in der Form des Nationalstaats und liberalen Verfassungsstaats atlantisch-europäischer Prägung liegt es auf der Hand, nach Mustern des Wandels in der Konzeption von Staatsideen und Staatsformen zu fragen. Politikwissenschaftler und Historiker können durch ihre eigenen disziplinären Untersuchungstraditionen und -perspektiven noch unterhalb der Ebene des wirklichen Strukturvergleichs empirisch zu dem Befund der bemerkenswerten Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit der modernen Staatlichkeit gelangen. Durch den Vergleich verschiedener Konzepte von Staatlichkeit werden dann Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Staatsformen erkennbar, hebt sich die Verfassung als 'law on the books' von der Verfassungswirklichkeit als 'law in action' ab, werden Brüche und Kontinuitäten und in der Verfassungsgeschichte transparent. Die Beiträge des Handbuchs liefern für diesen Vergleich, sofern sie ihn nicht bereits durchführen, die Grundlagen, indem sie zunächst eine bestimmte politische Ordnung beschreiben und im nächsten Schritt dessen Staatsidee herausarbeiten. Durch diese Verbindung von historischer Fall- und politikwissenschaftlicher Strukturanalyse wird konzeptionell ein ,,Bogen von der antiken Staatsformenlehre bis zur modernen Vergleichenden Regierungslehre" (S. 10) geschlagen.

Die beiden Herausgeber stellen in einem Beitrag über die ,,Typologisierung von Staatsformen und politischen Systemen in Geschichte und Gegenwart" die methodischen Instrumente für den Längs- und Querschnittvergleich vor. Allein dieser Beitrag, der u.a. historische sowie moderne Typologien vorstellt, dürfte für Studierende der Geschichts- und Politikwissenschaft die Beschäftigung mit dem Zentralthema 'Staat' erheblich erleichtern. Das gilt insbesondere für den Forschungsbericht, der von Aristoteles bis zum modernen Diktaturvergleich reicht und anschaulich macht, dass und warum ,,stets (...) Spannungen zwischen den verschiedenen Ansätzen der Erforschung von Staatsformen [herrschten]." (S. 53)

Sieben Beiträge behandeln in einem chronologisch-thematischen Durchgang Staatsformen in der Antike (Alexander Demandt), im Mittelalter (Gerhard Dohrn-van Rossum), in der Frühneuzeit (Luise Schorn-Schütte), im ,,Zeitalter der Revolutionen" zwischen 1770 und 1815 (Hans Fenske), im 19. Jahrhundert (Uwe Backes), sowie in einer Zweiteilung nach diktorischen und demokratischen Systemen im 20. Jahrhundert (Armin Pfahl-Traughber, Diktaturen; Steffen Kailitz, Demokratien). Diese Artikel bieten solide Forschungsüberblicke und dienen der 'benutzerfreundlichen' Vermittlung zentraler Forschungskontroversen der letzten Jahrzehnte, z.B. um die Bedeutung der Antike als Experimentierfeld politischer Ordnungen, um das Verständnis des Souveränitätsbegriffs im Mittelalter, um die Relativierung eines allgemeinen Absolutismus-Begriffs, über die für den europäischen politischen Kulturraum und darüber hinaus identitätsbildenden 'demokratische Revolutionen' des 19. Jahrhunderts sowie über die Auseinandersetzung von Demokratie und Diktatur im Jahrhundert der Diktaturen. Eckhard Jesse führt den Staatsformenvergleich exemplarisch an den Demokratien und Diktaturen des 20. Jahrhunderts vor, wobei seine Aufmerksamkeit insbesondere auf die funktionale Interpretation der Aspekte Systemdauer und -qualität gerichtet ist. Jesse betont die Interdependenz demokratischer und anti-demokratischer, anti-zivilgesellschaftlicher und anti-rechtsstaatlicher Herrschaft: ,,Totalitäre Diktaturen waren auch (...) eine Reaktion auf den demokratischen Verfassungsstaat, den Volkssouveränität (demokratische Komponente) und Rechtsstaatlichkeit (konstitutionelle Komponente) kennzeichnen." (S. 16). In einem Ausblick fragt Roland Sturm nach den Perspektiven der auf verschiedenen Ebenen durch Ökonomisierung, Globalisierung und kulturelle Konflikte in Frage gestellten Staatlichkeit im 21. Jahrhundert und ordnet die in diesem Zusammenhang diskutierten Probleme. Sein Hinweis auf die bemerkenswerte Wandlungsfähigkeit von Staatlichkeitskonzepten sowie die überragende Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit ist überzeugend.

Das Handbuch 'Staatsformen' leistet einen unverzichtbaren Beitrag zur Rekonstruktion und Neupositionierung einer konzeptionell orientierten, methodisch integrierenden und vergleichend angelegten europäischen Verfassungsgeschichte. Mit Michael Stolleis monumentaler 'Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland' (1988-1999) sowie dem Handbuch von Gallus und Jesse sind die Grundlagen dafür gelegt.

Rolf-Ulrich Kunze, Karlsruhe


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