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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Matthias Piefel, Antisemitismus und völkische Bewegung im Königreich Sachsen 1879-1914, Vandenhoeck & Ruprecht unipress, Göttingen 2004, 188 S., kart., 22,90 €.

Kurz vor den Reichstagswahlen 1893 wies die in Leipzig erscheinende Allgemeine Zeitung des Judentums auf den eigentümlichen Umstand hin, dass der Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich gerade dort die größten Erfolge feiere, wo die Juden ,,nur ein verschwindend kleiner Bruchteil der Gesamtbevölkerung bilden und schon aus diesem Grund selten Anlass zu Klagen geben" (S. 15). Diese Diskrepanz zeige sich vor allem in Sachsen. Die Befürchtungen des Blattes bewahrheiteten sich: Nach den Wahlen vom 15. Juni 1893 standen die Antisemiten im Reich, insbesondere aber im Königreich Sachsen im Zenit ihres Erfolges. Sachsen gehörte zu den deutschen Bundesstaaten mit dem niedrigsten Anteil von Juden an der Gesamtbevölkerung. 1871 betrug er bei einer Einwohnerzahl von knapp 2,6 Millionen 0,13 Prozent, während der Reichsdurchschnitt bei 1,25 Prozent lag. Bei der letzten sächsischen Volkszählung vor dem Ersten Weltkrieg 1910 bekannten sich 0,37 Prozent der Bevölkerung zum jüdischen Glauben. Dennoch konnte sich der Antisemitismus gerade hier als politische Kraft besonders erfolgreich behaupten. Neben Hessen wurde Sachsen das ,,Kernland des Antisemitismus" (S. 12) in Deutschland. Wie ist dieses Phänomen zu erklären?

Diese Frage ist Ausgangspunkt der postum veröffentlichten Magisterarbeit des 2004 verstorbenen Dresdener Historikers Matthias Piefel. In seiner Studie über ,,Antisemitismus und völkische Bewegung im Königreich Sachsen 1879-1914", die von Carsten Schmidt in Druckfassung und von Klaus-Dietmar Henke und Clemens Vollnhals zur Veröffentlichung gebracht wurde, zeichnet Piefel die Entstehung, den Aufstieg, die Blütezeit und den Niedergang des politischen Antisemitismus in Sachsen nach, geht auf die unterschiedlichen Strömungen der Bewegung ein und stellt ihre wichtigsten Protagonisten ausführlich vor. Der Focus liegt dabei auf einer präzisen Darstellung der organisatorischen Entwicklungen, während die ideengeschichtliche Komponente weitgehend vernachlässigt wird; ein vierseitiger Exkurs über den geistigen Zusammenhang von Antisemitismus, Kulturkritik und Kulturpessimismus kann diese Lücke kaum füllen. Beeindruckend ist die breite Quellengrundlage der Arbeit: Neben zeitgenössischen antisemitischen Periodika ("Deutsche Reform", ,,Antisemitische Correspondenz, ,,Der Hammer" u.a.) sowie der ,,Allgemeinen Zeitung des Judentums" hat Piefel die umfangreiche antisemitische Broschürenliteratur, den Bestand der Hauptgeschäftsstelle der ,,Deutsch-Sozialen Reformpartei" im Bundesarchiv Berlin sowie die Bestände zu einzelnen völkischen Agitatoren wie Heinrich Pudor und Theodor Fritsch im Sächsischen Staatsarchiv Leipzig ausgewertet. Auf dieser Basis konturiert er Genese und Praxis des politischen Antisemitismus in Sachsen von der Gründung des ,,Dresdner Reformvereins" 1879 bis zum Zerfall der Bewegung im Vorfeld des Ersten Weltkrieges.

Im Anschluss an eine knappe Überblicksdarstellung über jüdisches Leben in Sachsen seit dem Ende des 17. Jahrhunderts beschreibt Piefel detailliert die Etablierung des ,,Dresdner Reformvereins", die Ausdehnung der Reformvereinsbewegung auf Sachsen und das Reich, die 1881 in der Gründung der ,,Deutschen Reformpartei" mündete, sowie den Einfluss des beruflich gescheiterten Dresdener Textilkaufmannes Alexander Pinkert, des Leipziger Mühleningenieurs und ,,Altmeisters der völkischen Bewegung" (S. 11) Theodor Fritsch und des Chemnitzer Verlagsbuchhändlers Ernst Schmeitzner auf die Formierung des Parteiantisemitismus in Deutschland. Der Reorganisation des ,,Dresdner Reformvereins" nach dem Rückzug Pinkerts aus dem politischen Leben 1886 unter Oswald Zimmermann, dem Redakteur des Publikationsorgans ,,Deutsche Reform", und der organisatorischen Ausdehnung der Antisemiten in Sachsen bis zur Reichstagswahl 1893 widmen sich die beiden folgenden Kapitel. Dabei liegt das Augenmerk insbesondere auf der 1889 gegründeten ,,Deutsch-Sozialen Partei" der mit den Konservativen kooperierenden Kräfte um Theodor Fritsch, Max Liebermann von Sonnenberg und Paul Förster mit Zentrum in Leipzig und ihr Ringen mit den Dresdner ,,Reformern" um den Führungsanspruch in der Bewegung. 1894 vereinigten sich die beiden bis dato konkurrierenden Gruppierungen zur Deutsch-Sozialen Reformpartei, die allerdings schon sechs Jahre später wieder zerfiel. Ab 1900 war in Sachsen hauptsächlich die Deutsche Reformpartei vertreten, so dass Piefel seine Untersuchung für diesen Zeitraum auf sie beschränkt. Insgesamt sind die Jahre ab 1894 und verstärkt seit der Jahrhundertwende geprägt vom Aufstieg der nationalistischen und völkischen Agitationsverbände bei einem gleichzeitigen Rückgang der Mobilisierungsfähigkeit des politischen Antisemitismus.

In seiner Schlussbetrachtung diskutiert Piefel den Zusammenhang zwischen der antisemitischen Bewegung im Kaiserreich und dem ,,Zivilisationsbruch des Dritten Reiches" (S. 174) und wirft die Frage auf, ob der Parteiantisemitismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts als ,,Vorspiel der Vernichtung" (S. 174) gewertet werden müsse. Er kommt zu dem Schluss, dass sich ,,auf verschiedenen Ebenen Kontinuitätslinien nachweisen [lassen]. Die völkischen Wortführer des Kaiserreiches blieben die Stichwortgeber der Aktivisten der ´zweiten völkischen Bewegung` in der Weimarer Republik. [...] Die Anerkennung, die den Altvölkischen durch die Nationalsozialisten als ´Wegbereiter unserer Zeit` zukam, ist berechtigt. Das ideologische Arsenal, aus dem Hitler und die NSDAP schöpfte [sic], war 1914 bereits ausgebildet." (S. 175). Für Sachsen ist dabei eine über 35jährige antisemitische Tradition zu konstatieren - ,,eine Kontinuität, die im Reichsvergleich fast einzigartig sein dürfte" (S. 173).

Im Hinblick auf die Ausgangsfrage, warum der Antisemitismus angesichts einer zahlenmäßig unbedeutenden jüdischen Minderheit ausgerechnet in Sachsen so großen Anklang bei der Bevölkerung finden konnte, verweist Piefel in erster Linie auf ökonomische Momente und plädiert ferner für eine besondere Berücksichtigung des Stadt-Land-Gegensatzes: ,,Eine Perspektive, die das gesamte Königreich in den Blick nimmt, fruchtet [...] nicht: Es waren Dresden, Chemnitz und Leipzig, wo der Antisemitismus zuerst seine Anhänger mobilisieren konnte. In diesen Städten war die ganz überwiegende Mehrzahl der Juden ansässig [...]." (S. 173). Der nach der kurzen Prosperitätsphase von 1871 bis 1873 einsetzende ,,Gründerkrach" hatte für das wirtschaftlich weit entwickelte, schon früh in hohem Maße industriell geprägte Sachsen besonders gravierende Auswirkungen. Insbesondere für die Angehörigen des Mittelstandes, für die exportabhängigen Klein- und Mittelbetriebe der Textilbranche bedeutete die Rezession das Abgleiten in Existenzkampf und Orientierungslosigkeit: ,,Es waren diese vom Liberalismus enttäuschten Bevölkerungskreise, die der moderne Antisemitismus zu mobilisieren vermochte." (S. 10). Hinzu kam als spezifisches Merkmal der sächsischen Innenpolitik eine besonders auffällige Polarisierung zwischen proletarischem und bürgerlichem Lager. Während die Sozialdemokratie einen rasanten Aufstieg erlebte, bot die Stabilität der ,,Kartellpolitik" von Konservativen und Nationalliberalen den Antisemiten die Möglichkeit, sich als Vertreter derjenigen Bevölkerungskreise zu behaupten, die keinem dieser beiden politischen Lager zuzurechnen waren: ,,Dass die ab 1905 durch die Nationalliberalen betriebene Emanzipation von der ´Kartellpolitik` und die damit verbundene Aufweichung der Lagermentalität mit dem Niedergang des politischen Antisemitismus im Kaiserreich zusammenfällt, bestätigt den entscheidenden Einfluss der politischen Kultur Sachsens auf den Erfolg des Parteiantisemitismus." (S. 10/11).

Matthias Piefel hatte geplant, das vorliegende Werk als Grundlage für eine Gesamtdarstellung des politischen Antisemitismus in Sachsen vom Kaiserreich bis zur NS-Zeit zu nutzen. Dieses Vorhaben konnte er nicht mehr in die Tat umsetzen. Seine Studie ist trotz der inhaltlichen Einschränkungen, die das Format einer Magisterarbeit zwangsläufig mit sich bringt, ein großer Gewinn für die Erforschung des Antisemitismus in Deutschland.

Dagmar Bussiek, Kassel


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