Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Edgar Lersch/Helmut Schanze (Hrsg.), Die Idee des Radios. Von den Anfängen in Europa und den USA bis 1933 (Jahrbuch Medien und Geschichte 2004), UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2004, 242 S., brosch., 19,- €.
Die Geschichtsschreibung der Massenmedien sollte sich weder in technikhistorischen Detailfragen noch in einer Institutionengeschichte der Rundfunkanstalten erschöpfen - so eine naheliegende Interpretation des Titels dieses Sammelbandes, der auf die Jahrestagung 2003 des Studienkreises Rundfunk und Geschichte zurückgeht. Tatsächlich ist die Herausbildung dieses ersten Echtzeit-Massenmediums im Verlauf der Zwanziger Jahre wohl kaum ohne die Berücksichtung seiner Faszination beim wachsenden Publikum zu verstehen. Diese ist durchaus mit dessen technischen Besonderheiten (one-to-many-Sendeweise, instantaner Empfang, Reichweite) verbunden, aber ebenso mit den Anwendungs- bzw. Nutzungsvorstellungen, welche die Verwendung der Funktechnik für den ursprünglich nicht vorgesehenen Zweck ,,Rundfunk" überhaupt plausibel und attraktiv, aber in den Augen staatlicher Instanzen auch gefährlich erschienen ließ. Technologie, Institutionalisierung und die ,,Idee des Radios" greifen bei der Entstehung des Rundfunks ineinander.
Ausgehend von dieser kulturhistorischen Erweiterung der Rundfunkgeschichtsschreibung unternimmt der Band einen Vergleich verschiedener nationaler Rundfunkgeschichten bis 1933. Neben Deutschland werden dabei auch die USA sowie Großbritannien, Frankreich, Spanien, die Tschechoslowakei, Österreich und die Schweiz betrachtet. Die Ergebnisse der Beiträge relativieren die verbreitete Auffassung eines deutschen Sonderweges (auch) in der Entwicklung des Rundfunks: Die strikte Kontrolle des Rundfunkwesens durch die deutsche Reichspost, die sich u.a. in der weitgehenden Entpolitisierung der Rundfunkprogramme äußerte, mag im internationalen Vergleich zwar weit gegangen sein, so die Herausgeber im sehr knappen Vorwort, jedoch habe sich keiner der betrachteten Staaten - aus den verschiedensten Gründen - der Versuchung entziehen können, die ,,freie Entfaltung des neuen Mediums einzuschränken" (S. 8).
Helmut Schanze stellt in seinem einleitenden Aufsatz ,,Rundfunk, Medium, Masse" Überlegungen zum Verhältnis von Technologie, Medienbegriff und Massendiskursen der Zeit nach 1900 an. Der ,,scheinbar unlösbare" Zusammenhang von Rundfunk, Medium und Masse dürfe nicht als unhinterfragbare Notwendigkeit, sondern müsse als ein Mythos verstanden werden, mit dem die Rundfunkgeschichte überhaupt beginne (S. 12). Deshalb sei es sinnvoll, die Medientechnik ("Rundfunk"), die durch sie eröffneten neuartigen Bezugsweisen ("Medium") sowie die die Implementierung des Rundfunks begleitenden Diskurse über die ,,Massen" zunächst als eigenständige Phänomene zu betrachten, um einer teleologischen Geschichtsschreibung vorzubeugen. Leider verzichtet der Autor jedoch darauf, diesen für die Rundfunkgeschichtsschreibung wertvollen Vorschlag auf seit geraumer Zeit angestellte, ähnliche Überlegungen in der Medientheorie, aber auch in den Kulturwissenschaften zu beziehen. Es ist z.B. unverständlich, dass bei der Betrachtung der Gründungslegende des ,,Mißbrauch(s) von Heeresgerät" (S. 18 f.) die sich diese Legende zueigen machenden, einflußreichen (wenn auch durchaus kritisierbaren) Arbeiten Friedrich Kittlers (1986) gar nicht erwähnt werden. Überhaupt fehlen in diesem durchdachten Aufsatz sämtliche über die Rundfunkgeschichte im engeren Sinne hinausgehenden Literaturverweise.
Edgar Lersch relativiert in seinem sehr detailliert auf die Standardwerke der Rundfunkgeschichte eingehenden Beitrag die in diesen vertretene Auffassung, die rigide Regulierung des Radios in der Weimarer Republik stelle einen deutschen Sonderweg dar. Diese Auffassung beruhe, so Lersch, auf einem unhistorischen, da normativen Verständnis von ,,Rundfunkfreiheit". Die Geschichte des Radios in der Weimarer Republik werde dabei teleologisch von ihrem - den Zeitgenossen unbekannten - Ausgang, der NS-Diktatur, her gedeutet. Tatsächlich aber seien auch in anderen Ländern durchaus vergleichbare staatliche Interventionen in das Rundfunkwesen festzustellen, wie in den folgenden Beiträgen ausgeführt wird.
Kaspar Maases Beitrag fragt demgegenüber - bezogen auf den deutschen Kontext - nach dem ,,Gebrauchswert des frühen Rundfunks" aus der Sicht der Rezipienten. Die oftmals zu rasch gegebene Antwort, es handele sich einfach um ,,Unterhaltung" sei, so Maase, viel zu undifferenziert und auch in Anbetracht der Frühzeit des Mediums mangelhaften Empfangsqualität unbefriedigend. Maase stellt überzeugend dar, dass die Attraktivität des Radios beim Publikum vielmehr auf spezifische, technische wie formale Strukturen des Mediums zurückzuführen sei: auf den Programmcharakter (der immer wieder Neues, Überraschendes bietet), auf den Informationscharakter (der die Hörer mit den Ereignissen in der Welt verbindet) sowie auf die Synchronisationsleistung des Radios (Wetterbericht, Zeitansage etc.).
Die übrigen Beiträge behandeln die Rundfunkentwicklung in den USA und mehreren europäischen Ländern bis 1933. In einem knappen, aber aufschlußreichen Beitrag erläutert Michele Hilmes die Herausbildung des kommerziellen Rundfunks in den USA. Dieser sei nicht, wie vielfach angenommen, auf eine staatliche laissez faire-Haltung zurückzuführen, sondern sei das Ergebnis einer Kooperation von bundesstaatlichen Kontrollinstanzen mit großen Medienunternehmen - womit auf die gleichen Regulierungslücken reagiert wurde, die in den europäischen Ländern primär staatliche Interventionen provozierten (S. 73 f.). In seinem ebenfalls knappen, jedoch lesenswerten Beitrag zum britischen Rundfunk weist Paddy Scannell auf drei verschiedene Aspekte des Radios bzw. der Radionutzung hin: Radio als ,,wissenschaftliches Hobby" (S. 85), als ,,Radiokunst" (S. 87) sowie als Netzwerk (S. 89), womit die durch die Vernetzung lokaler Sender gekennzeichnete institutionelle Ausgestaltung des Rundfunks in Großbritannien beschrieben wird. Die restlichen Beiträge behandeln in unterschiedlicher Qualität und Ausführlichkeit die Situation in Frankreich (dazu zwei kurze Beiträge mit inhaltlichen Überschneidungen von René Duval und Caroline Ulmann-Mauriat), Spanien (Mechthild Albert), in der Tschechoslowakei (Lenka Cábelová), Österreich (Theodor Venus) sowie in der Schweiz. Von diesen ist besonders der Aufsatz von Edzard Schade und Ursula Ganz-Blättler hervorzuheben, der sich detailliert dem interessanten Fall der Schweiz widmet, wo die sprachliche Diversität der Regionen eine mit den anderen Ländern vergleichbare staatliche Regulierung erschwerte. Die nationale Institutionalisierung des Rundfunks kann deshalb treffend als eine auf Ausgleich und Verständigung ausgerichtete ,,Symbolpolitik" bezeichnet werden, die auf repressive Interventionen verzichtete.
Der Ertrag des Bandes läßt sich im wesentlichen auf zwei Befunde konzentrieren: (1) Aufgrund der Neuheit des Mediums Radio sahen staatliche Stellen in allen betrachteten Ländern die Notwendigkeit, regulierend in das Rundfunkwesen einzugreifen, wenn dies auch jeweils auf verschiedene Weise geschah; die Auffassung vom deutschen ,,Sonderweg" in der Rundfunkentwicklung der 1920er Jahre ist demnach zu relativieren. (2) Die titelgebende ,,Idee des Radios" ist - neben der Medientechnik und den Institutionen des Rundfunks - ein entscheidender Aspekt der Medienentwicklung, die sowohl staatliches Handeln (Furcht vor politischer Destabilisierung) als auch kommerzielle Interessen (Geräteabsatz) und nicht zuletzt die Nutzungsweisen des Mediums durch Rezipienten betrifft. Leider bleiben diese wichtigen, in den Beiträgen der Herausgeber jeweils getrennt formulieren Überlegungen weitgehend unverbunden: Die übrigen Beiträge stützen zumeist entweder die erste oder die zweite These und sind zudem in bezug auf Länge und Qualität recht heterogen. So dokumentiert der Band zwar eine begrüßenswerte Öffnung der Rundfunkgeschichtsschreibung. De facto handelt es sich jedoch lediglich um eine Dokumentation von Vorträgen, die formal und inhaltlich wenig aufeinander abgestimmt sind, auch wenn sie teilweise gut ausgearbeitet und lesenwert sind. Für die - wünschenswerte - Verstärkung des ,,frischen Windes" in der Rundfunkgeschichte wäre es sinnvoll, wenn deren Forschungen stärker mit denen der kulturwissenschaftlich orientierten Medientheorie und -wissenschaft vermittelt würden, in denen viele der in diesem Band angedeuteten Überlegungen bereits seit einigen Jahren diskutiert werden.
Dominik Schrage, Dresden